Gesundheitspolitik:Die alte Krankheit des Pflegenotstands

Die Pflege ist selbst pflegebedürftig - und Deutschland hat sich seit Jahrzehnten damit abgefunden. Will die Gesellschaft nicht kollabieren, muss das Problem schnell gelöst werden.

Kommentar von Kim Björn Becker

Der Begriff des Pflegenotstands klingt nach einem recht jungen politischen Schlagwort, erwachsen aus einem akuten Problem, das plötzlich entstanden ist und nun dringend einer Lösung bedarf. Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch um ein chronisches Leiden, die Parole stammt aus den Sechzigerjahren, das Phänomen ist alles andere als neu. Seit etlichen Jahren gibt es nun schon ein Bewusstsein dafür, dass die Versorgung alter und kranker Menschen in Deutschland nicht immer so läuft, wie man sich (und vor allem den Betroffenen) das wünscht. Umso mehr irritiert es, dass es in den vergangenen Jahren niemand geschafft hat, daran etwas zu ändern - nicht die Politik, nicht die Pflegebranche, nicht einmal die Gesellschaft insgesamt. Es sieht fast so aus, als habe man sich in weiten Teilen damit abgefunden, dass die Pflege in Deutschland selbst auf Dauer pflegebedürftig bleibt.

Die jüngsten Zahlen der Bertelsmann-Stiftung versprechen denn auch wenig Aussicht auf Besserung: Bereits jetzt sind in jeder Einrichtung im Mittel 4,3 Stellen unbesetzt - die Arbeit fällt nicht ersatzlos weg, sie muss von den übrigen Mitarbeitern zusätzlich erledigt werden. Das lässt den Beruf des Pflegers nicht gerade attraktiver werden. Um den akuten Mangel auszugleichen, müssten schnellstmöglich Tausende gut ausgebildete Pflegekräfte rekrutiert werden - allein, sie fehlen. Die Alterung der Bevölkerung verschärft das Problem in den nächsten Jahrzehnten zudem auf zweifache Weise: Zum einen werden mehr Menschen als heute pflegebedürftig sein, damit werden automatisch noch einmal mehr Helfer benötigt als ohnehin schon. Zum anderen fehlen die Fachkräfte von morgen, denn die Geburtenrate in Deutschland ist so niedrig wie nirgendwo sonst auf der Welt. Prognosen zufolge werden bis zum Jahr 2025 zwischen 150 000 und 370 000 zusätzliche Fachkräfte gebraucht.

Ausländische Fachkräfte sind keine Patentlösung

Das ist keine Petitesse, das ist ein ernstes Problem. Die Pflege unterscheidet sich zudem fundamental von anderen Wirtschaftszweigen. Ist eine Industrie aus der Zeit gefallen, erwächst woanders eine neue. Arbeitsmärkte sind wandlungsfähig. Diese Flexibilität besteht bei der Versorgung alter Menschen nicht. Sie haben ein Recht darauf, auch dann noch mit Würde behandelt zu werden, wenn sie der Gesellschaft ihren Dienst bereits erwiesen haben.

Es muss also einen Weg geben, den Pflegenotstand spürbar zu mindern, sofern die Gesellschaft nicht kollabieren soll. Eine Möglichkeit besteht darin, verstärkt ausländische Fachkräfte anzuwerben. Derzeit sucht nur jedes sechste Unternehmen außerhalb der Bundesrepublik nach Personal, doch schon bald werden es mehr sein. Allerdings gibt es auch gute Argumente dagegen - schließlich fehlen diese Fachkräfte dann in ihrem jeweiligen Heimatland, somit würde das Problem nicht gelöst, sondern lediglich verlagert. Gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland können demnach bloß dabei helfen, vereinzelt Engpässe zu überwinden, eine Patentlösung sind sie nicht. Derzeit sind knapp 75 000 von ihnen in Deutschland fest angestellt - man sollte ihnen dankbar sein, dass sie eine Arbeit erledigen, für die sich viele Deutsche offensichtlich zu schade sind.

Altenpflege ist ein Knochenjob

An diesem Punkt setzt die eigentliche Lösung des Pflegenotstands an: Der Beruf des Alten- und Krankenpflegers muss dringend spürbar aufgewertet werden - nur dann werden sich junge Menschen auch dafür entscheiden. Das gilt zum einen in finanzieller Hinsicht. Altenpflege ist ein Knochenjob, der noch dazu psychisch belastend sein kann. Daher verdienen es jene, die sich täglich in einem solch schwierigen Metier engagieren, angemessen bezahlt zu werden. Eine Fachkraft für Altenpflege erhält derzeit im Mittel zwischen 1900 und 2600 Euro brutto. Das ist zu wenig. Eine Erhöhung der Gehälter könnte der Branche jene Initialzündung ermöglichen, auf die sie wartet. Mittelbar würden sich gewiss mehr Menschen für den Beruf entscheiden und die bestehenden Belegschaften wären nicht mehr, wie so oft, am Rande ihrer Kräfte.

Zum anderen muss auch die gesellschaftliche Wertschätzung der Arbeit deutlich steigen. Natürlich, die meisten jungen und gesunden Menschen sind froh, wenn sie mit dem Thema nichts zu tun haben. Und es spricht auch klar für die Solidarität im Land, dass Ältere derzeit überwiegend von ihren Angehörigen versorgt werden und nicht in Heimen. Dennoch fehlt es an einer Kultur der Wertschätzung. Engagierte Pfleger ermöglichen es den Alten und Kranken, dass sie ihre Würde behalten. Das kann man jedoch nur dann von ihnen verlangen, wenn man sie auch mit Würde behandelt.

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