Kommentar:Löhne müssen steigen

Wirtschaftliches Wachstum ist nur dann gut, wenn möglichst alle die Chance haben, davon zu profitieren. Eine Debatte um höhere Löhne ist wie gemacht für den drögen Wahlkampf.

Von Jan Willmroth

Wenn dieser Trend anhält, wird es nicht mehr lange dauern bis zu jenem lang ersehnten Tag, an dem die europäische Wirtschaftskrise überwunden ist. Die gerade veröffentlichten Daten bieten Stoff für Optimisten: Im Euro-Raum geht die Arbeitslosigkeit weiter zurück, selbst in Italien oder Spanien; im Durchschnitt der Euro-Länder waren im Juni noch 9,1 Prozent der Menschen offiziell ohne Arbeit. Das ist der beste Wert seit 2009, als die Finanzkrise Europa in die schlimmste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt hatte. Setzt sich dieser Aufschwung fort, scheint das Niveau von vor der Krise wieder greifbar.

In Deutschland ist das bereits der Fall. Vor nicht allzu langer Zeit war der Begriff Vollbeschäftigung noch zu einer utopischen Kategorie verkümmert. In diesen Tagen aber folgt eine Jubelmeldung über die deutsche Konjunktur auf die andere, die deutsche Wirtschaft strotzt vor Kraft. Und mit einer Arbeitslosenquote von nur noch 3,8 Prozent steht Deutschland wenige Wochen vor der Bundestagswahl nicht nur an der Spitze Europas, sondern eben auch: nahe dem, was Ökonomen als Vollbeschäftigung bezeichnen.

Gewerkschaften müssen wieder mehr Arbeitnehmern Gründe geben, sich zu organisieren

Dieser erfreuliche Europa- und Deutschland-Boom hat einen argen Schönheitsfehler, der Forscher grübeln lässt, Notenbanker ratlos macht und Bürger am Aufschwung zweifeln lässt: Er kommt kaum auf den Konten der Arbeitnehmer an. Die Löhne und Gehälter steigen europaweit nicht oder nicht schnell genug, in vielen Branchen bleiben die Beschäftigten von der Erholung unberührt. Seit der Jahrtausendwende sind die Löhne nur in Portugal und Griechenland so langsam gestiegen wie hierzulande. Das ist spätestens jetzt nicht nur widersprüchlich, es kann auch gefährlich werden.

Widersprüchlich ist diese Entwicklung, weil die Löhne im wirtschaftlich so starken Deutschland längst stärker steigen könnten und es nach der Theorie auch müssten. Der Zusammenhang, wonach die Löhne umso deutlicher zulegen, je weniger Menschen arbeitslos sind, ist außer Kraft gesetzt. Das führt zu seltener Einigkeit: EZB-Präsident Mario Draghi, am Ende dessen angelangt, was geldpolitisch noch vertretbar ist, spricht sich schon länger für höhere Löhne aus, weil die Zentralbank ihr Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent sonst kaum erreichen wird. Auch die Bundesbank, die einst stets zuverlässig vor zu starken Lohnsteigerungen warnte, beklagt die schwache Lohnentwicklung. Der IWF sieht höhere Löhne als Mittel, um den europäischen Aufschwung zu stabilisieren und den deutschen Außenhandelsüberschuss auszugleichen. Sowohl gewerkschafts- als auch arbeitgebernahe Ökonomen melden sich derzeit mit der Forderung nach höheren Zuwächsen zu Wort.

Sie alle haben gute Argumente. Zuerst die Notenbanken: Eine Abkehr von der ultralockeren Geldpolitik wird wohl nur mit höheren Lohnabschlüssen zu erreichen sein. Zweitens könnte das deutsche Wachstum noch deutlich besser aussehen, wenn die Bürger mehr zum Ausgeben hätten. Steigen die Löhne in Deutschland, stützt der deutsche Konsum - drittens - den Aufschwung im Rest Europas. Lohnpolitik in Deutschland ist zugleich Europapolitik.

Dabei darf man die gesellschaftliche Dimension der schwachen Lohnentwicklung nicht vernachlässigen, darin liegt die eigentliche Gefahr. Den nationalistischen Kräften dies- und jenseits des Atlantiks haben Bürger zum Aufstieg verholfen, die sich abgehängt fühlten, die nicht oder nur wenig von der Globalisierung profitierten und für vermeintlich einfache Lösungen empfänglich wurden. Wenn ein Großteil dieser Bürger den Aufschwung nicht spürt, wird der gesellschaftliche Zusammenhalt weiter strapaziert. Wachstum ist nur dann gut, wenn möglichst alle die Chance haben, davon zu profitieren.

Diese Lohndebatte ist wie gemacht für den bislang eher drögen Wahlkampf. Es obliegt nicht der Bundespolitik, flächendeckend für höhere Löhne zu sorgen. Aber es gibt Stellschrauben: Steuern, Sozialabgaben und Transferzahlungen müssen besser abgestimmt werden, damit vor allem Geringverdiener von Lohnzuwächsen mehr spüren. Die Gewerkschaften müssen die Lage ausnutzen und wieder mehr Arbeitnehmern Gründe geben, sich zu organisieren. Kommunen und Länder brauchen mehr finanzielle Unterstützung, um im öffentlichen Dienst mit gutem Beispiel vorangehen zu können.

Der Appell an die Arbeitgeber: Ein Land, dessen Wirtschaft auf Hochtouren läuft, muss es schaffen, den Großteil der Bürger daran teilhaben zu lassen. Für Lohnzurückhaltung gibt es in einem Deutschland am Rande der Vollbeschäftigung kein gutes Argument mehr.

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