Missstände in der Tierzucht:Wie der Wahnsinn ganz normal wurde

Millionenfach werden männliche Küken vergast oder geschreddert. Diese Massenvernichtung symbolisiert die Lage der Tierzucht insgesamt. Die Politik reagiert fahrlässig.

Kommentar von Silvia Liebrich

Etwa 40 Millionen männliche Küken werden jedes Jahr in Deutschland getötet. Für die Geflügelindustrie sind sie nichts als lästiger Abfall, der vergast oder geschreddert wird. Als Grillhähnchen taugen die männlichen Nachkommen moderner Legehennenrassen nicht. Sie sind ein trauriges Symbol für die negativen Folgen einer Tierzucht, die an rein ökonomischen Kriterien ausgerichtet ist. Dass dabei jedes Jahr Millionen Küken auf der Strecke bleiben, nehmen Züchter und Eierproduzenten billigend in Kauf. Allein das ist kaum nachvollziehbar. Noch unverständlicher ist, dass lange Zeit niemand daran Anstoß genommen hat. Der Wahnsinn ist zur Gewohnheit geworden.

Tiere töten: ein 360°-Schwerpunkt

Das Schnitzel war einmal ein Kälbchen. So viel ist uns meist bewusst. Aber wie ist es eigentlich gestorben? Damit beschäftigen sich viele Menschen nicht, obwohl sie das Produkt Tier sehr schätzen: Ein Deutscher isst im Schnitt 60 Kilogramm Fleisch im Jahr - die Industrie verdient hierzulande Milliarden Euro. Die Süddeutsche Zeitung hat sich dem Thema "Tiere töten" aus verschiedenen Blickwinkeln genähert: vom unüberschaubaren System der Produktion über moralische Bauern bis hin zur Frage, warum so viele Menschen kein Problem mit dem Verzehr eines Tieres - wohl aber mit seinem Tod haben.

Erst seit ein paar Jahren regt sich Widerstand gegen die brutale Selektion. So will etwa Nordrhein-Westfalen die Massenvernichtung männlicher Küken verbieten. Solche Alleingänge helfen wenig, solange sich die anderen Bundesländer nicht anschließen. Geschieht das nicht, könnten die Großbrütereien einfach ihren Standort verlagern und weitermachen wie bisher. Das Problem bleibt: Wohin mit den Tieren, die keiner braucht?

Wo ernst gemeinte Reformen ansetzen müssen

Für die Bundesregierung käme ein Verbot ohnehin nicht in Frage. Das hat Agrarminister Christian Schmidt (CSU) deutlich gemacht. Er setzt auf freiwillige Lösungen der Eierproduzenten. Die versprechen schon bald eine neue Technologie, eine Art Gentest, einzusetzen. Männliche Küken sollen so bereits vor dem Schlüpfen erkannt und die Eier vernichtet werden. An der Massenproduktion von unerwünschten Nachkommen ändert das grundsätzlich nichts, sie werden nur früher vernichtet. Für den Agrarminister aus Bayern ist damit der Fall jedoch erledigt. Bis dahin gilt für ihn die Devise: Augen zu und durch. Ein fatales Signal.

Wer glaubt, dass sich die Wurzel des Übels mit Tötungsverboten oder einer neuen Technologie beseitigen lässt, verschließt die Augen vor der Realität. Ernst gemeinte Reformen müssen bei der Zucht ansetzen. Deren Methoden und Ziele müssen hinterfragt und neu ausgerichtet werden. Das gilt nicht nur für Geflügel, sondern auch für andere Nutztiere wie Schweine und Rinder. Sie alle werden auf Höchstleistung getrimmt, Gesundheit und Tierwohl bleiben auf der Strecke.

Mehr als 300 Eier jährlich - pro Huhn

Die Weichen in der Zucht wurden schon vor langer Zeit falsch gestellt. Prinzipien, die über Jahrtausende galten, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg bedenkenlos über Bord geworfen. Die Legehennenzucht, die männliche Tiere zur Ausschussware macht, ist dafür ein extremes Beispiel. Gut 200 Hühnerrassen umfasst die Liste der deutschen Rassegeflügelzüchter. Einige können bis zu 220 Eier im Jahr liefern, doch keine wird nennenswert in der Eierproduktion eingesetzt.

Der Markt für Legehennen wird weltweit von nur vier großen Zuchtunternehmen beherrscht, darunter der deutsche Lohmann-Konzern. Sie haben Hühnerrassen entwickelt, die auf 300 Eier und mehr pro Jahr kommen. Ein Weg, der in die Sackgasse geführt hat. Die aus Inzuchtlinien gekreuzten Turbohühner lassen sich nicht weiter vermehren. Bauern und Eierproduzenten hat dies in eine fatale Abhängigkeit getrieben. Wenn sie im Wettbewerb mithalten wollen, bleibt ihnen kaum eine andere Wahl: Den Nachwuchs müssen sie bei den großen Züchtern und Brütereien einkaufen. Selbst Bioproduzenten können sich dem kaum entziehen.

Auf freiwilliges Umdenken warten? Fahrlässig!

Dabei geht es auch anders. Etwa mit Zweinutzungshühnern, bei denen männliche wie weibliche Tiere für verschiedene Zwecke nutzbar sind. Diese altbewährte Zuchtalternative wurde lange vernachlässigt, vor allem von den marktbeherrschenden Konzernen, weil es gegen deren wirtschaftliche Interessen geht.

Eine Kurskorrektur ist überfällig. Viel zu lange hat die Politik die Industrie unbehelligt gewähren lassen. Aufgabe des Staates ist es, strenge Kriterien für die Nutztierhaltung zu entwickeln, die Tier, Mensch und Umwelt gerecht werden. Dazu gehört es auch, mehr Geld in eine unabhängige wissenschaftliche Forschung zu investieren. Darauf zu warten, dass in den Vorstandetagen freiwillig ein Umdenken stattfindet, wäre nicht nur naiv, sondern grob fahrlässig. Doch genau darauf setzt Agrarminister Schmidt.

Statt harte Grenzen zu ziehen, gibt er staatliche Gelder aus, um die von der Industrie favorisierte Gentest-Technologie voranzutreiben. Am Ende werden also die Steuerzahler für die groben Fehler der Konzerne zur Kasse gebeten. Fehler, vor denen der Staat seine Bürger eigentlich schützen sollte.

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