Kommentar:Deutschland Streikland

Sie nerven, die vielen Arbeitskämpfe bei der Post, in den Kitas und bei der Bahn sowieso. Die Lehren, die der Staat daraus zieht, sind allerdings falsch. Das geplante Gesetz zur Tarifeinheit verstößt am Ende vielleicht sogar gegen die Verfassung.

Von Alexander Hagelüken

Die Deutschen erleben neue Zeiten. Gerade läuft Woche eins des Kita- und Post-Streiks - und Woche eins nach dem längsten, aber nicht letzten Lokführer-Ausstand. Ach ja, und Woche eins, bevor die Fluglotsen entscheiden, ob sie die Arbeit niederlegen. Wird Deutschland zum Streikland?

Klar, im internationalen Vergleich gibt es immer noch wenig Ausstände. Trotzdem haben alle Deutschen recht, die sich stärker bestreikt sehen. Früher waren es öfter Autowerker, die das Band stoppten. Heute sind es Sicherheitsleute am Flughafen, Piloten und Postler. Derzeit fallen 97 Prozent aller Arbeitstage in Servicebranchen aus, die Bürger direkt treffen. Deshalb ist die Streikballung keine Fata Morgana hysterischer Bürger, sondern ein Grund, politische Lehren zu ziehen.

Der Trend zum Service-Streik hat Ursachen, die Deutschlands Wandel zeigen. Seit Wettbewerb bei vormals staatlichen Branchen wie Post oder Kliniken herrscht, vervielfacht sich die Zahl der Firmen und Tarifkonflikte. Seit sich wegen der Kosten weniger Firmen einem bundesweiten Tarifvertrag unterwerfen, kommt es zu mehr Ausständen bei Einzelfirmen wie Amazon. Und seit Kleingewerkschaften ein neues Geschäftsmodell erfanden, ist von Fliegen bis Zugfahren keine Fortbewegung sicher.

Was folgt daraus? Die Liberalisierung vormaliger Staatsbranchen mag wegen ihrer Vorteile für den Bürger niemand zurückdrehen. Doch vielleicht ist der Streiktrend eine Mahnung an den Kunden, was einen Wettlauf um immer niedrigere Preise auslöst: immer niedrigere Löhne durch Auslagerung in Extrafirmen et cetera. Gleiches gilt für die Flucht der Betriebe aus dem Flächentarifvertrag: Er hat seine Kosten, doch er bescherte Deutschland eben Jahrzehnte des sozialen Friedens.

Bleibt als dritte Ursache des Streiktrends das Gebaren von Kleingewerkschaften wie GDL bei den Lokführern. Sie nehmen eine Berufsgruppe mit Nervpotenzial und maximieren Löhne ohne Rücksicht auf die Volkswirtschaft. Wie diese Strategie Zugreisende und andere als Geiseln nimmt, erinnert an die Kleingewerkschaften, die in den Siebzigerjahren Großbritannien zugrunde richteten (und den Aufstieg von Margaret Thatcher beförderten). Eine politische Antwort darauf ist geboten und die Bundesregierung gibt sie auch. Nur gibt sie die falsche.

Sollte eine Firma wirklich wissen, wie viele Mitarbeiter in welcher Gewerkschaft organisiert sind?

Das geplante Gesetz zur Tarifeinheit wird Kleinorganisationen schwächen, weil im Streit der Abschluss jener Gewerkschaft gilt, die in einem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Das klingt nach weniger Streiks, doch es wirft Fragen auf. Sollte eine Firma wirklich erfahren, wie viele Mitglieder eine Gewerkschaft hat - wie groß also ihre Macht in einem Arbeitskampf ist? Das könnte den Beschäftigten schaden und der Verfassung widersprechen. Außerdem passt das Gesetz womöglich schlecht auf die Service-Streiks. Die Bahn etwa ist in 300 Betriebe aufgespalten. GDL und die größeren DGB-Gewerkschaften könnten einen Wettlauf entfachen, wer bei welchem Betrieb mehr Mitglieder wirbt - und dabei erneut die Reisenden als Geiseln nehmen.

Eine bessere Antwort auf die Service-Streiks wäre, ihnen etwas von dem Nervpotenzial zu nehmen, das diese Beschäftigten Autowerkern oder Verkäuferinnen unfairerweise voraushaben. Einige Arbeitsrechtler schlagen vor, den Servicebranchen eine Schlichtung als Puffer vor Streiks vorzuschreiben - und die Ankündigung eines Ausstands mindestens vier Tage vorher. Ein solches Gesetz wäre geeignet, den Trend zum Service-Streik zu bremsen.

Wie beruhigend eine frühe Ankündigung wirkt, zeigt der Kita-Ausstand, bei dem Eltern eine Woche Zeit hatten, sich vorzubereiten. Der Kita-Fall wirft aber eine andere Frage auf, die nach politischer Antwort verlangt. Klassischerweise wird bei Tarifverhandlungen der Zuwachs an Produktivität (und potenziell Gewinn der Firma) teils als höherer Lohn verteilt. Bei staatlichen Leistungen von der Kita über die Polizei zur Altenpflege ist diese Produktivität schwerer zu messen. Es gibt oft keinen Markt, der den Lohn aus Angebot und Nachfrage destillieren könnte. Bei den Erzieherinnen wird nun mit der "Gerechtigkeit" höherer Löhne argumentiert, viele Bürger sympathisieren. Die Gerechtigkeit eines Lohns im Vergleich zu anderen Berufen ist ökonomisch schwer zu fassen. Es gibt in diesem Fall aber eine einfache Antwort: Wenn die Leistung der Erzieher für die frühkindliche Bildung höher bewertet werden soll, wofür manches spricht, muss eben mehr gezahlt werden. Aber nicht von irgendeinem anonymen Kapitalisten, sondern von den sympathisierenden Bürgern: durch höhere Kita-Gebühren oder Steuern.

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