Kommentar:An Grenzen und darüber hinaus

Dr. Beise, Marc

Deutschland heißt Flüchtlinge willkommen, für Krisenländer gibt es Kredite - viele Bürger halten das für illegal, sie fragen: Was bringt noch Sicherheit, wenn der Staat selbst Recht bricht oder beugt? Das aber ist zu kurz gedacht.

Von marc beise

Die große Idee von Europa wird in diesen Tagen vor allem durch zwei Herausforderungen bedroht: den Euro und den Flüchtlingen. Seht her, denken immer mehr Menschen, es klappt eben doch nicht mit der integrierten Union, mit Binnenmarkt, Währungsunion und abgestimmter Finanz- und Sicherheitspolitik. Die Verantwortlichen haben auf die konkreten Herausforderungen, sagen wir: unorthodox reagiert. Der systemgefährdenden Verschuldung in einigen Euro-Staaten begegnete die Politik mit Rettungspaketen. Die Flüchtlinge wiederum wurden - in Deutschland - willkommen geheißen. Über diese Politik wird hierzulande heftig diskutiert.

Was für die einen im Interesse der großen Idee als konstruktiv gelobt wird, lehnen die anderen als Rechtsbruch kategorisch ab. Der Vorwurf des Rechtsbruchs in der Tat wiegt schwer. Die Schuldenpolitik ist nach dem Buchstaben der EU-Verträge fragwürdig; jeder Staat soll sich selbst helfen, so war das mal gedacht. Und die Flüchtlinge hätten eigentlich im "Dublin-Verfahren" an den Außengrenzen abgefangen werden müssen; was nicht mehr funktioniert. Zu den Kritikern der Entwicklung gehören ordnungspolitisch geprägte Beobachter von Staat und Wirtschaft, die also für eine freie Wirtschaft innerhalb eines klaren Ordnungsrahmens einstehen. Was aber, sagen sie, soll uns noch Sicherheit geben, wenn der Staat selbst Recht bricht oder beugt? Das aber ist, sorry, zu kurz gedacht.

Der Euro und die Flüchtlinge - zwei Krisenfelder, die aber auch Chancen bergen

Der Jurist weiß, dass Recht erstens Auslegungssache ist und dass, zweitens, internationales Recht häufig politische Gegebenheiten berücksichtigen muss, wenn es seine Bindungswirkung nicht verlieren will. Und der Ökonom müsste eigentlich wissen, dass die Wirtschaft ein lebender Organismus ist, einer, der sich immer weiterentwickelt, der Grenzen überwinden will; weshalb ja die Marktwirtschaft als spontanes System mit zahllosen Akteuren so viel erfolgreicher ist als ein Zentralverwaltungssystem.

Diese erste Ausgabe des Wirtschaftsteils der Süddeutschen Zeitung im Jahr 2016 zeigt die Kreativität der Wirtschaft in ihrem immer neuen und häufig überraschenden Umgang mit Grenzen. Das beginnt mit dem neuesten Trend in der Kommunikation. Virtual Reality (VR), die uns ein völlig neues, fast authentisches Seherlebnis ermöglicht, ist das nächste große Ding (Text auf dieser Seite). Weit fortgeschritten ist der Mensch schon, wenn es darum geht, sich die Umwelt untertan zu machen, erst im Guten, dann im Schlechten und bald wieder im Guten? (Seite 22). Im Nahen Osten, in Rafah, erlebt man, wie Wirtschaft unter Grenzen leidet, und wie sie sich trotzdem Wege sucht (Seite 23). Wirtschaft wird von Menschen gemacht, und manche von ihnen gehen häufig zum eigenen und zum allgemeinen Wohl bis ans Limit (Seite 24). Die Digitalisierung ändert ohnehin alles und sprengt alle Grenzen (Seite 25). Wie skurril Staatsgrenzen wirtschaftlich sind, kann man in Enklaven nachvollziehen wie dem von Schweizer Staatsgebiet umgebenen deutschen Büsingen (Seite 26). Und der Stamm der Mashantucket Pequots, den einst seine Grenzen nicht vor den hereinströmenden Weißen schützten, überschreitet heute, zum eigenen Wohl, wirtschaftliche Grenzen (Seite 30).

Wo so viel Bewegung ist, wo Grenzen sich verschieben und immer Neues entsteht, da hilft es nicht, ein einmal zementiertes System um jeden Preis erhalten zu wollen. Wer das aber versucht, übersieht beispielsweise, dass die vielen Flüchtlinge eben nicht nur ein Problem sind, sondern auch eine Chance. Eine Chance für die überfällige Runderneuerung Deutschlands und Europas.

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