Kolumne "Das deutsche Valley":Null Überstunden

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Die etwas andere Internet-Firma: Bei Sipgate in Düsseldorf gibt es kein Boni, keine Titel, keine Beförderungen - aber eine Stechuhr. Niemand soll länger als 40 Stunden arbeiten.

Von Ulrich SChäfer

Tim Mois arbeitet gern, aber irgendwann, sagt er, ist es auch genug, muss Schluss sein. Und dies gilt auch für seine Mitarbeiter: 40 Stunden pro Woche - mehr soll keiner arbeiten; ein paar Überstunden ab und an sind erlaubt, aber die müssen auch wieder abgebaut werden; wer mehr als zehn Überstunden auf seinem Gleitzeitkonto angesammelt hat, bekommt Besuch von einem Kollegen, der darauf hinweist, dass dies zu viel sei.

Und damit die Arbeitszeit wirklich genau abgerechnet wird, gibt es bei Sipgate in Düsseldorf auch eine Einrichtung, die heutzutage eher unüblich ist - eine Stechuhr. Jeder Mitarbeiter muss sich morgens einchecken, und wenn er nach idealerweise acht Stunden geht, muss er sich wieder auschecken. Auf seiner Homepage verkündet Sipgate stolz ein paar Daten zum Unternehmen: 130 Mitarbeiter, 70 Bartträger, acht Bürohunde, 1300 Post-its pro Tag; und unterm Strich häufen die Mitarbeiter null Überstunden an.

Das Bemerkenswerte ist, dass Sipgate, ein Anbieter für Internettelefonie, ansonsten ein ziemlich hippes Unternehmen ist: untergebracht in einem weitläufigen, lichten Büro am Düsseldorfer Hafen; ausgestattet mit stylischen Möbeln, viel Holz, viel Glas, und draußen ein Hof, in dem man gut abhängen und feiern kann. Zudem setzen sie bei Sipgate all die agilen Arbeitsmethoden ein, die in innovativen Unternehmen heutzutage angesagt sind, Scrum etwa, ein Verfahren, bei dem Software-Entwickler sich in kleinen Teams organisieren, ihre Arbeit in sogenannte Sprints zerlegen, ein- bis vierwöchige Arbeitsabschnitte, und bis zur Deadline alles daran setzen, das selbst gesteckte Ziel zu erreichen. Und doch sind Überstunden nicht erlaubt. Tim Mois ist da ganz konservativ: "40 Stunden pro Woche lassen sich für Menschen ein ganzes Arbeitsleben lang gut durchhalten. Mehr ist auf Dauer nicht produktiv."

Sipgate setzt sich damit bewusst von der grenzenlosen Flexibilität ab, wie sie vielerorts in der Internetbranche gelebt wird; von der 50- oder 60-Stunden-Woche und Konzepten wie der Vertrauensarbeitszeit, bei der Mitarbeiter selber festlegen, wie lange sie wann und wo arbeiten - solange die Ergebnisse stimmen. "Vertrauensarbeitszeit ist ein großer Schmu", meint Mois, "denn am Ende geht das immer auf Kosten der Arbeitnehmer, die noch mehr unbezahlte Überstunden leisten."

Dass Überstunden im Übermaß wenig bringen und am Ende gar schädlich sein können, haben Wissenschaftler vielfach belegt. Wer zu viel arbeitet, kann nachts nicht abschalten, schläft oft schlecht und schleppt sich dann am nächsten Tag erschöpft ins Büro; 43 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland leiden unter diesem Problem, berichtete die Krankenkasse DAK im Jahr 2017 in ihrem Report "Deutschland schläft schlecht - ein unterschätztes Problem". John Pencavel von der amerikanischen Stanford-Universität, wies in einer Studie für das Institut zur Zukunft der Arbeit aus Bonn nach, dass bei Menschen, die mehr als 50 Stunden in der Woche arbeiten, die Produktivität deutlich nachlässt. Arbeiten sie gar über 55 Stunden, bringt dies fast überhaupt nichts - die Produktivität fällt rapide ab, der Output steigt nur noch minimal.

Auch sonst unterscheidet sich Sipgate in mancherlei Hinsicht von anderen Internet-Firmen: So gibt es, abgesehen von Mois und seinem Mitgründer Thilo Salmon, keine Chefs im klassischen Sinne, auch keinen Personalchef. Stattdessen entscheiden die Mitarbeiter in den Teams, wen sie einstellen und entlassen, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen. Auch all die anderen Anreizsysteme, die in Unternehmen normalerweise üblich sind, Beförderungen etwa oder Boni, haben sie bei Sipgate in den vergangenen Jahren gestrichen.

Tim Mois glaubt: "Entscheidend ist, die intrinsische Motivation, die jeder mitbringt, zu fördern."

Stattdessen genießen die Mitarbeiter große Freiheiten und arbeiten mit viel Eigenverantwortung: Jedes Team erledigt, wenn ein Produkt entwickelt wird, nicht bloß einen bestimmten Arbeitsschritt und reicht die Ergebnisse und die Verantwortung dann an die nächste Gruppe im Entwicklungsprozess weiter, sondern jedes Team ist für alles verantwortlich, bis hin zur Vermarktung beim Kunden, und weiß deshalb, ob das Produkt ankommt oder ob es noch weiter verbessert werden muss.

Eingeführt haben sie all diese Maßnahmen bei Sipgate, nachdem die 2004 gegründete Firma nach sechs Jahren in die Krise geraten war. "Wir hatten gemerkt, dass es so nicht weitergehen kann. Wir waren nicht mehr innovativ, nicht mehr produktiv und haben deshalb unsere Abläufe und Organisation von Grund auf geändert", erzählt Mois. Natürlich hätte manche Mitarbeiter der radikale Wandel irritiert, sagt er, manche hätten sich anfangs schwer getan mit den neuen Regeln, mit diesem extremen Modell des "New Work". Aber das habe sich mit der Zeit gelegt. Heute kann die Firma sich vor Bewerbern kaum retten, etwa einhundert melden sich pro Monat bei Sipgate.

Mittlerweile interessieren sich auch andere Unternehmen für die Prinzipien, die Mois und seine Truppe praktizieren. Tausende Besucher kamen nach Düsseldorf, aus Architekturbüros, mittelständischen Betrieben, von Banken, Telekommunikationsunternehmen und großen Konzernen. Mal kommen gleich die Chefs, manchmal aber auch Mitarbeiter, die anders arbeiten und ihre Chefs davon überzeugen wollen. Nicht alles lasse sich eins zu eins übertragen, vieles aber schon. Keine Boni? Keine Beförderungen? Keine hochtrabenden Cheftitel? Keine Überstunden, samt Wiedereinführung der Stechuhr? Gehe auch in großen Unternehmen, meint Mois: Entscheidend sei es, "die intrinsische Motivation, die jeder Mitarbeiter mitbringt, zu fördern und nicht durch ein falsches Anreizsystem zu ruinieren."

Alle Folgen von "Das deutsche Valley", der Kolumne von Ulrich Schäfer über die Digitalisierung in Deutschland, fnden Sie hier.

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