Knast-Ökonomie:Billig und willig

Etliche Unternehmen lassen preisgünstig hinter Gittern Produkte fertigen - und reden nur ungern darüber. Ein Besuch in Aichach.

Von Kim Björn Becker

Die Neuen fangen meist mit Kochschürzen an, da kann man weniger falsch machen. Die Form ist simpel, der Stoff fest, die Nähte einfach. Ideal für ungeübte Hände. Bei den kleinen Mützen ist es anders, für sie braucht es Erfahrung. Michaela Konrad, die eigentlich anders heißt, schafft mit ihrer Nähmaschine inzwischen mehrere Dutzend pro Tag. Die bunten Baumwollhauben kommen später in Kliniken auf der ganzen Welt zum Einsatz, an ihnen werden Beatmungsschläuche für Frühchen befestigt. Ob Babymützen, Holzfiguren oder Metallbauteile: Hunderte Firmen in Deutschland setzen auf die Arbeit von Strafgefangenen - nur reden die meisten nicht gern darüber. Unter den Nazis und in der DDR wurden politische Gefangene zu körperlicher Schwerstarbeit gezwungen - das hat mit dem Strafvollzug von heute nichts mehr gemein, doch die Bilder von damals wirken bis in die Gegenwart. Und in einem völlig anderen Kontext führte derweil die Modellbau-Affäre um die CSU-Politikerin Christine Haderthauer zu ihrem Rücktritt. Viele Unternehmer fürchten deshalb um ihren eigenen guten Ruf, wenn man ihren Namen in der Öffentlichkeit mit Gefängnisarbeit in Verbindung bringt.

Michaela Konrad ist Ende dreißig, sie trägt einen weißen Kittel, ihre langen braunen Haare hat sie zum Zopf gebunden. "Ich gehe gerne in die Arbeit, da nutzt man die Zeit wenigstens sinnvoll", sagt sie. "Das ist keine Floskel. Es ist besser, als acht Stunden am Tag auf der Zelle zu sein. Da fällt einem die Decke auf den Kopf." Die verurteilte Mörderin sitzt seit fünf Jahren in der Justizvollzugsanstalt (JVA) im bayerischen Aichach ein, zehn hat sie noch vor sich. Fünf Tage pro Woche arbeitet sie in der Näherei, für 1,49 Euro in der Stunde. "Draußen wäre mir das natürlich viel zu wenig", sagt die gelernte Bankkauffrau. "Aber hier drin ist das was anderes. Hier sind fünf Euro so viel wert wie draußen vielleicht 200."

Je nach Verdienstspanne beträgt der Tageslohn zwischen neun und 15 Euro

Mit ihren 1,49 Euro Stundenlohn erhält Michaela Konrad die sogenannte Eckvergütung für Strafgefangene. Sie entspricht neun Prozent der Bezugsgröße, also des Durchschnittslohns aller Deutschen, die in die Rentenversicherung einzahlen. Die Verdienstspanne für Strafgefangene reicht von 1,12 bis 1,87 Euro in der Stunde, das ergibt einen Tagessatz von etwa 9 bis 15 Euro. Untersuchungshäftlinge und Sicherungsverwahrte werden noch einmal anders entlohnt. Darüber hinaus sind die Strafgefangenen in den meisten Bundesländern zur Arbeit verpflichtet - unter anderem Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Sachsen haben die Zwangsarbeit jedoch abgeschafft. Dort ist Arbeit freiwillig.

Der niedrige Lohn und die ständige Verfügbarkeit der Arbeitskräfte machen deutsche JVAs für Unternehmen attraktiv. Viele Anstalten werben um Aufträge aus der Wirtschaft, sie verstehen sich gern als "verlängerte Werkbank" des Mittelstands. In Deutschland gibt es kaum irgendwo günstigere Arbeitskräfte als die hinter Gittern. Menschenrechtler kritisieren das schon lange. Sie monieren die Arbeitspflicht, das niedrige Lohnniveau, vor allem aber stören sie sich an der Kombination. In der Berliner JVA Tegel haben Häftlinge vor wenigen Monaten eine gewerkschaftsähnliche Initiative gegründet. Sie fordern, dass Strafgefangene den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde bekommen sollen, außerdem sollen Häftlinge in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden und nicht lediglich in die Arbeitslosenversicherung. "Es ist programmiert, dass Gefangene, die langjährige Haftstrafen abzusitzen haben, nach ihrer Haftzeit direkt in die Altersarmut entlassen werden", sagt die Gefangenengewerkschaft.

Ortswechsel, ein paar Kilometer von den Mauern der JVA Aichach entfernt. Auf einem Tisch im Besprechungszimmer liegt eine Babypuppe, sie trägt ein grünes Mützchen mit angeschlossenem Beatmungsschlauch. Davor sitzt Lieselotte Werner, Geschäftsführerin der Firma Medin im oberbayerischen Olching. Mit Beatmungssystemen für Frühgeborene hat das Unternehmen im vergangenen Jahr etwa fünf Millionen Euro Umsatz gemacht - im selben Jahr haben Michaela Konrad und ihre Mitgefangenen in Aichach etwa 300 000 Mützen für Medin gefertigt. "Dort zahlen wir für eine Mütze etwa ein Drittel bis die Hälfte von dem, was man hierzulande auf dem freien Markt ausgeben müsste", sagt Werner. Osteuropa und Asien wären die Alternativen. "Wir haben uns China angeguckt, aber dort sind die Arbeitsbedingungen nicht überall akzeptabel." Außerdem birgt die Produktion in Fernost Risiken: Stoffe könnten mit verbotenen Chemikalien belastet sein, die Qualität nicht hinreichend, der Lieferant unzuverlässig. "Wenn es irgendwie geht, dann lassen wir in Deutschland produzieren."

Seit 15 Jahren arbeitet der mittelständische Betrieb nun schon mit Strafgefangenen zusammen. Medin liefert der JVA in Kartons alle Materialien, die Gefangenen setzen das Produkt in der Werkstatt zusammen, dann werden die Boxen wieder abgeholt - so läuft es in fast allen Arbeitsbetrieben in deutschen Knästen. Die Kritik von Menschenrechtsaktivisten an der Arbeitspflicht im Gefängnis teilt die Unternehmerin nicht. "Was sollen die Gefangenen denn den ganzen Tag machen? Jeder Mensch braucht eine Aufgabe." Auch die geringe Bezahlung findet sie nicht verwerflich. "Die Realität ist doch, dass manchen Menschen draußen am Ende des Monats auch nicht viel mehr zum Leben bleibt. Statt niedriger Löhne fressen Mieten und Versicherungen das Einkommen auf." Der JVA will Werner den Auftrag nicht wegnehmen. "Die Näherinnen sind ein eingespieltes Team, die Qualität ist gut. Und das Geld kommt dem Staat wieder zugute."

Knast-Ökonomie: Kein Feierabend, ehe nicht alle Feilen wieder am Platz sind: Die Insassen der Hamburger JVA Billwerde arbeiten unter anderem in der Schlosserei.

Kein Feierabend, ehe nicht alle Feilen wieder am Platz sind: Die Insassen der Hamburger JVA Billwerde arbeiten unter anderem in der Schlosserei.

(Foto: imago)

Dem Staat. Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung haben die Bundesländer im vergangenen Jahr zusammen mehr als 150 Millionen Euro durch die Arbeitsleistung der Gefangenen eingenommen. Ein wirtschaftlich lohnendes Geschäft ist die Knastarbeit für den Fiskus allerdings nicht: Im Jahr 2007 betrugen die durchschnittlichen Kosten für einen Strafgefangenen in Deutschland etwa 32 000 Euro, im vergangenen Jahr hat jeder Häftling im Schnitt aber nur 2400 Euro erwirtschaftet. Dabei kommt nicht einmal jeder Euro aus der freien Wirtschaft: Zwar bieten die meisten JVAs in ihren sogenannten Wirtschaftsbetrieben Arbeiten für den Markt an, in den Versorgungsbetrieben erbringen die Gefangenen allerdings auch Leistungen für den Staat - dazu zählen die Arbeiten in Küche und Reinigung genauso wie Hilfsarbeiten etwa bei der Sanierung eines Gefängnisses. Von den knapp 66 000 Häftlingen, die im vergangenen Jahr in den 186 deutschen Anstalten einsaßen, arbeiteten im Mittel knapp 41 000 - das entspricht einer Quote von 62 Prozent. In Bundesländern mit einer gesetzlichen Arbeitspflicht sind Schwangere, Kranke und Menschen über 65 von der Arbeitspflicht befreit.

Darüber hinaus können die JVAs ihre Gefangenen auch nur dann beschäftigen, wenn die Betriebe genügend Aufträge erhalten - oft sind die Kapazitäten nicht ausgelastet. "Manche Unternehmen haben Angst vor einem Imageschaden", sagt Günter Rieger. Er leitet die bayerische Koordinierungsstelle für alle 36 Anstalten im Freistaat. Damit ist er der erste Ansprechpartner für Unternehmen, die im Knast produzieren lassen wollen. "Ein Firmenchef hat mal gesagt, es müsse ja nicht jeder wissen, dass er bei uns fertigen lasse."

In Aichach sind die Häftlinge in der Abteilung "Industrie II" für Kunststoffverarbeitung zuständig. An den Werkbänken setzen etwa 20 Gefangene bunte Plastikteile zu Spielzeugautos zusammen. "Ohne Arbeit würden die meisten sich langweilen und hätten nur Blödsinn im Kopf", sagt Bettina Scheler. Die Justizmitarbeiterin steht in einem Glashäuschen und überwacht die Produktion. In einem Regal stehen Modelle jener Spielzeuge, die weiter unten gerade von den Gefangenen für den bayerischen Hersteller Bruder zusammengebaut werden: Traktoren, Bagger und Mähdrescher aus der "Profi"-Serie. Der Tagesablauf der Häftlinge sieht in etwa so aus: wecken um 5.15 Uhr, ausrücken zur Arbeit um 6.40 Uhr. Mittagessen ist von 11 bis 12 Uhr, danach geht die Arbeit weiter - bis 15.10 Uhr. "Dann lassen wir den Hammer fallen", sagt Anita Beier, die in Wahrheit anders heißt. Beier - Mitte 50, schlank, kurze graue Haare - sitzt seit knapp anderthalb Jahren in Aichach, ein Drogendelikt brachte sie hinter Gitter. "Am Anfang war ich fast ein halbes Jahr nur auf Zelle, das wurde anstrengend", sagt die gelernte Hotelkauffrau. Ist der Lohn angemessen? "Gute Frage. Es gibt keine Vergleichsmöglichkeit. Durchschnittlich, würde ich sagen."

Anruf bei Paul Heinz Bruder, dem Chef des Fürther Spielzeugherstellers. "In unserer Branche gibt es einen starken Kostendruck", sagt er. Zuletzt hat das Familienunternehmen Bruder 70 Millionen Euro Umsatz gemacht, 400 Mitarbeiter sind am Stammsitz beschäftigt. Seit über 30 Jahren arbeitet Bruder mit bayerischen Gefängnissen zusammen. Dort findet derzeit etwa ein Drittel der Montage statt, den Rest übernehmen die Mitarbeiter in Fürth. Seinen Angestellten zahlt er zehn Euro pro Stunde, dazu kommen noch die Sozialbeiträge. "Die JVA ist da natürlich wesentlich günstiger, dort kostet die Fertigung nur die Hälfte." Allerdings gibt es auch einen Nachteil. "Wir müssen die Teile anliefern und wieder abholen, das macht die Logistik aufwendig."

Dass seine Firma schon vor Jahren einen Teil ihrer Produktionskette in bayerische Gefängnisse verlegt hat, sagt Bruder nicht gerne öffentlich. "Viele Menschen setzen das schnell mit Zwangsarbeit in der DDR und in Ländern wie Russland und China gleich." Für ihn macht es aber einen Unterschied, ob ein Staat Menschen wegen einer Straftat wegsperrt oder - wie in autokratischen Systemen - wegen ihrer politischen Überzeugung. "Wenn man sich das Justizsystem und die Haftbedingungen in Deutschland anschaut, dann kann ich da nichts finden, was moralisch verwerflich wäre", sagt Bruder. Ohne die Zusammenarbeit mit den JVAs hätte er die Endmontage wahrscheinlich schon ins Ausland verlegt. "Am Ende des Tages sichert Gefängnisarbeit auch unsere Jobs in Deutschland."

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