Kapitalismus in der Krise:Sorglos am Abgrund

Wiederholt sich 1929? Der Welt droht eine ähnlich dramatische Krise wie vor acht Jahrzehnten - deshalb muss die Politik jetzt entschlossen gegensteuern.

Ulrich Schäfer

Wer wissen will, wie schlimm es um die Weltwirtschaft bestellt ist, sollte nachsehen im Fachblatt für Kapitalisten: in der Financial Times. Der Chefökonom der Wirtschaftszeitung, Martin Wolf, unterhält auf der FT-Homepage ein Diskussionsforum, in dem regelmäßig die bekanntesten Ökonomen der Welt schreiben, insgesamt 69, und über die Weltläufte diskutieren.

Kapitalismus in der Krise: Panik an der New York Stock Exchange: Wie tief stürzen die Kurse?

Panik an der New York Stock Exchange: Wie tief stürzen die Kurse?

(Foto: Foto: AP)

Bereits vor drei Wochen sagte Jeffrey Sachs, Professor an der Columbia University in New York, im "Wolfforum" der Financial Times als Erster voraus, dass die Weltwirtschaft im nächsten Jahr erstmals seit 1945 schrumpfen wird - eine Erkenntnis, zu der vorige Woche schließlich auch der Internationale Währungsfonds (IWF) gelangte. Anders Aslund, ein Ökonom vom Institute for International Economics in Washington D.C., glaubt gar, dass die heutige Krise schlimmer sein könnte als jene der Weltwirtschaft zwischen 1929 und 1933. Damals schotteten sich die Industriestaaten ab, sie erhöhten die Zinsen, kürzten die Ausgaben und beschleunigten so den Abschwung: "Unsere Politiker werden vielleicht nicht dieselben Fehler machen wie während der Großen Depression, aber sie könnten andere Fehler machen", schreibt Aslund.

In der Tat ist das, was seit eineinhalb Jahren die Welt in Atem hält, mehr als ein normaler Abschwung, mehr als eine der üblichen Krisen, in die der Kapitalismus immer wieder stürzt. Was im Frühjahr 2007 am amerikanischen Immobilienmarkt begann, mit der Pleite von mehreren Millionen Hausbesitzer, hat sich geweitet: erst zu einer Krise am Kreditmarkt, dann zu einer Krise der Banken - und in den vergangenen acht Wochen zu einer zweiten Weltwirtschaftskrise.

Erst kippen die Banken, dann taumeln Länder

Seit die USA im September die Investmentbank Lehman Brothers haben bankrott gehen lassen, erlebt die Welt einen wirtschaftlichen Niedergang, dessen Tempo atemberaubend ist. Erst kippten große Banken und Versicherungen, in den USA ebenso wie in Europa, dann taumelten mehrere Schwellenländer: Ungarn, die Ukraine, Weißrussland, Pakistan, und mit Island stand erstmals seit 1976, als Großbritannien um einen Notkredit des IWF bat, auch wieder ein Industrieland vor dem Bankrott.

Und nun springt die Krise von der Welt des Geldes auf die reale Wirtschaft über. Die Ökonomen rechnen mit der ersten Weltrezession seit dem Zweiten Weltkrieg, und am Wochenende waren sogar Warnungen zu lesen, dass der Welthandel, der eigentlich seit Jahren schneller wächst als die Wirtschaftsleistung der Nationen, erstmals seit Anfang der achtziger Jahre schrumpfen könnte. Die Krise könnte rund um den Globus 20 Millionen Jobs hinwegfegen, schätzt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Das trifft die Welt in einem Augenblick, in dem das Vertrauen der Menschen in die Marktwirtschaft ohnehin schwindet.

Das Misstrauen wächst

So untersuchte die Financial Times im Mai 2007, was die Menschen in den Industrieländern über den globalen Kapitalismus denken. Das Ergebnis war ernüchternd: In den USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien empfindet die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die grenzenlose Marktwirtschaft als Bedrohung. Nur etwa jeder Fünfte glaubt, dass der weltweite Handel dem eigenen Land Vorteile bringe. 91 Prozent der Deutschen, 85 Prozent der Franzosen und 75 Prozent der Amerikaner beklagen, dass die Kluft zwischen Reich und Arm durch den globalen Kapitalismus wachse. Besonders tief sitzt die Furcht vor der entfesselten Marktwirtschaft bei den Deutschen: Nur noch 24 Prozent meinen, dass Deutschlands Marktwirtschaft sozial sei. Zur Jahrtausendwende sah dies eine Mehrheit der Bundesbürger noch anders.

Die globale Krise wird das Misstrauen, das dem Kapitalismus entgegengebracht wird, zusätzlich schüren. Die Menschen ahnen, dass sich hier etwas zusammenbraut, was ihr Leben durchschütteln wird. Und dass auf eine Ära des wachsenden Wohlstandes nur eine Ära des Weniger folgen könnte: weniger Zuversicht, weniger Einkommen, weniger Jobs, weniger Stabilität. Die Menschen erleben, mit welcher Wucht sich der Kapitalismus entfaltet. Sie spüren eine Krise, für die sie nichts können. Die weit weg begann, in den Vorstädten von Kalifornien und Ohio. Und die nun auch sie erreicht. Die eigene Bank um die Ecke - sie kann nur noch mit staatlicher Hilfe überleben. Das eigene Konto - es ist nur dank einer beispiellosen Garantie sicher, die die Kanzlerin und der Finanzminister gegeben haben. Und womöglich leidet schon bald ihr eigenes Unternehmen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum der ungeliebte Staat wieder zum Garanten für Sicherheit geworden ist.

Sorglos am Abgrund

Der Staat, der lange als lästig galt, als Störenfried, der die Wirtschaft einengt, ist plötzlich wieder zum Garanten für Wohlstand und wirtschaftliche Sicherheit geworden. Hektisch versuchen Regierungen und Notenbanken, die Krise einzudämmen. Sie haben erst Dutzende, dann Hunderte Milliarden Dollar und Euro bereitgestellt, um sich gegen das Desaster zu stemmen. Doch bislang hat alles nicht gereicht: Auf jede Welle der Krise folgte, kaum dass sie verebbt war, eine neue Welle. Auch die Rettungspakete für die Banken, die nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers eilig geschnürt wurde, bieten keine Gewähr dafür, dass es nun besser wird. Denn solange alle fürchten, dass es abwärts geht, wird es auch weiter abwärts gehen.

So war es schon in den dreißiger Jahren. Die Krise begann am 24. Oktober 1929 mit dem Crash an der Wall Street, gefolgt vom Crash in Europa einen Tag später. Doch sie zog sich danach vier Jahre hin. Deutschlands Wirtschaft wurde erst eineinhalb Jahre nach dem "Schwarzen Donnerstag" in New York voll von der Krise erfasst. Die Börsen erreichten erst 1932, fast drei Jahre nach dem Beginn der Krise, ihren tiefsten Punkt.

Suche nach Antworten

Auch damals hielt niemand solch einen gewaltigen Niedergang für möglich, auch damals ließen sich alle von einer Mischung aus Überheblichkeit und Sorglosigkeit leiten. Noch am 25. Oktober 1929 versicherte der US-Präsident Herbert Hoover, die Wirtschaft des Landes sei gesund; fast die gleichen Worte waren kürzlich von George W. Bush zu hören, als Lehman Brothers kollabierte. Die Krise heute ist auch deshalb so gefährlich, weil das Finanzsystem ungleich verworrener ist - und die Instrumente, mit denen Banken und Hedgefonds handeln, wesentlich komplizierter als früher.

Es ist daher entscheidend, dass Regierungen, Notenbanken und Aufsichtsbehörden die richtigen Antworten auf die Krise finden: kurzfristig und langfristig. Kurzfristig muss alles getan werden, um einen schnellen, abrupten Sturz in die Rezession zu verhindern: Die Regierungen müssen die Wirtschaft jetzt ankurbeln - nicht halbherzig, wie es die Bundesregierung vorhat, sondern entschlossen, wie es einst der Ökonom John Maynard Keynes empfahl. Mittelfristig müssen die Staaten zudem neue Regeln für den Kapitalismus entwerfen. Regeln, die über die Finanzmärkte hinausgehen.

Die Staaten müssen dafür sorgen, dass für den Markt klare Grenzen gelten und Exzesse sich nicht häufen. Sie müssen dafür sorgen, dass jeder gleichermaßen Zugang zu Bildung hat und damit die Chance zum Aufstieg. Und sie müssen dafür sorgen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu sehr wächst. Kurzum: Der Kapitalismus muss wieder jenes Versprechen einlösen, das einst der amerikanische Präsident John F. Kennedy gab, als er über die Segnungen der Marktwirtschaft sprach: "Die steigende Flut treibt alle Boote nach oben."

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