Kapitalismus in der Krise:Im Weltwirtschaftsgewitter

Marx ist aktuell: Er beschrieb die Gesellschaft, in der wir heute leben - die jetzige Finanzkrise eingeschlossen.

Franziska Augstein

Ende der siebziger Jahre wurde in Westberlin eine Postkarte feilgeboten. Unter dem Konterfei von Karl Marx standen die ironischen Worte "Knapp daneben ist auch vorbei". Gemeint war damit, dass der Marxismus einpacken könne; schließen konnte man, dass jene, die ihm immer noch das Wort redeten, sich bitte bald packen sollten.

Kapitalismus in der Krise: Karl Marx hat es kommen sehen: Wo der Kapitalismus gut funktioniert, steigt die Produktivität viel schneller als die Kaufkraft der Konsumenten.

Karl Marx hat es kommen sehen: Wo der Kapitalismus gut funktioniert, steigt die Produktivität viel schneller als die Kaufkraft der Konsumenten.

(Foto: Foto: dpa)

Als das Sowjetreich untergegangen war, brachte der Historiker Francis Fukuyama eine These unter die Leute, die weniger geistreich, dafür aber eingängiger war: Der Kapitalismus habe nun ein für alle Mal gesiegt, die Geschichte sei zu Ende, denn zu anderem als dem Kapitalismus sei die Welt nicht bestimmt. Diese Behauptung war ungefähr so tiefsinnig, wie es ist, wenn ein Tyrann sich in die Brust wirft und schmetternd verkündet, er sei der Stärkste.

"Das Kapital" statt Religion

Wer auf der Suche nach ehernen Gesetzen ist, die die Geschichte lehrt, kann bei Fukuyama fündig werden: Eine so steile und gleichzeitig so banale These wie die seine konnte nicht lange Bestand haben. Mit Fukuyamas Diktum wollen die Leute sich heute nicht mehr abfinden - es ist längst historisch geworden. Schon bevor die Finanzkrise über die Welt hereinbrach, waren die Schriften von Marx in Deutschland wieder gefragt.

Hartz IV und die Angst brachten die Leute dazu, die bestehenden Verhältnisse nicht fraglos hinzunehmen. Und wenn die Individuen sich über den Kapitalismus hinaus für andere Gesellschaftsentwürfe interessieren, wenn sie zu Citoyens werden, kann von einem "Ende der Geschichte" keine Rede sein. Es gibt - wie einst in den sechziger und siebziger Jahren - kleine Lesezirkel, die versuchen, Marx' Gesellschaftsanalyse zu verstehen.

In früheren Jahrhunderten wandten die Menschen sich in Krisenzeiten der Religion zu. Heutzutage lesen sie auch "Das Kapital". Und wenn sie es nicht lesen, dann berufen sie sich darauf. Als Finanzminister Peer Steinbrück neulich schlechter Laune war, erklärte er, Marx' Krisentheorie sei doch nicht ganz falsch.

Jetzt bekommen all jene Recht, die immer gesagt haben, dass Marx nicht auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Aber was genau ist es, was heute noch gilt? Der Historiker Eric Hobsbawm hat 1998 für eine Neuausgabe des "Kommunistischen Manifests" ein Vorwort geschrieben, in dem er darlegt, dass Marx eigentlich erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wirklich aktuell sei.

"Produktivität" ist das Zauberwort

Im 19. Jahrhundert war die Weltwirtschaft noch nicht besonders entwickelt, die einzelnen Nationalökonomien konnten ihre Rechnungen ohne Rücksicht auf das Ausland machen. Erst die Revolutionierung des Transport- und Verkehrswesens nach dem Zweiten Weltkrieg, so Hobsbawm, habe eine "kosmopolitische" Wirtschaftsgestaltung möglich gemacht. Entscheidend sei, dass die durch den Kapitalismus veränderte Welt, die Marx 1848 "mit düsterer, lakonischer Eloquenz beschreibt, unübersehbar die Welt ist, in der wir 150 Jahre später leben".

Aber das wollte 1998, als neoliberale Theorien die Köpfe beherrschten, so gut wie niemand hören. Als eine Ironie der Geschichte bezeichnete es der Soziologe Oskar Negt in seiner Abschiedsvorlesung 2003, dass in einer Zeit, da "der Kapitalismus Triumphgesänge über alle Alternativen anstimmt, das Kapital erstmalig in der modernen Welt genau so funktioniert, wie Marx es in seinem 'Kapital' beschrieben hat".

Wer verstehen will, wie Geschichte abläuft, ist seit jeher gut damit bedient gewesen, Marx in Betracht zu ziehen. Man darf "Moden" nicht mit "Fortschritt" verwechseln. Fortschritt im Sinn der Wohlfahrt der Menschen ließ sich jahrhundertelang am Bevölkerungszuwachs und an der Steigerung des durchschnittlichen Lebensalters messen. Beides hängt davon ab, wie produktiv die Ressourcen verwendet wurden, zu denen auch die menschliche Arbeitskraft gehört.

Auf der nächsten Seite: Warum Krisen programmiert sind.

Im Weltwirtschaftsgewitter

Das Problem der Überbevölkerung ergab sich nie daraus, dass die Menschen zu viele Kinder bekommen hätten, sondern daraus, dass die Kinder lange genug lebten, um selbst wieder Kinder zu bekommen. Und das wiederum ergab sich vor allem daraus, dass die Menschen zunehmend besser in der Lage waren, die Kräfte der Natur zu bemeistern und ihren Nutzen daraus zu ziehen. "Produktivität" ist das Zauberwort, das Marx in die Gesellschaftsanalyse eingeführt hat.

Es liegt dem Konzept des historischen Materialismus zugrunde. Hobsbawm sagt: Wer erklären wolle, wie die Steinzeitmenschen eines Tages in den Weltraum gelangt sind, komme ohne diesen Analyseansatz nicht aus. Ohne gesellschaftliche Utopien, sagt Hobsbawm, gebe es keine Hoffnung auf Verbesserung der Verhältnisse - und ohne Hoffnung kein politisches Engagement.

Der Politologe Elmar Altvater sieht das auch so. Er erinnert daran, dass Marx nicht bloß eine analytische Methode hinterlassen, sondern seinen Lesern das theoretische Werkzeug an die Hand geben wollte, die Welt zu verändern. Altvater, der viele Jahre lang als Ordinarius am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin gelehrt hat, meint, dass Marx' Schriften sich dazu eignen. In einer Serie der kleinen Zeitschrift Marx 21 hat er auf Heller und Pfennig herausgegeben auf die skeptische Frage, ob man von Marx noch etwas lernen kann.

Der Kapitalismus beruht darauf, dass der Produzent möglichst kostengünstig zu produzieren trachtet, dass er mithin, wie Marx es formulierte, die Löhne seiner Beschäftigten "möglichst zu beschränken" sucht.

Gleichzeitig setzt er darauf, dass alle Konsumenten - und damit sind natürlich auch die Beschäftigten aller anderen Unternehmen gemeint - "möglichst große Konsumenten seiner Ware" seien. Das ist ein dem Kapitalismus innewohnender Widerspruch.

Zu viele Waren - zu wenig Käufer

Denn da alle Kapitalisten in dieser Hinsicht gleich denken, kann es leicht dazu kommen, dass die Kaufkraft der Warenproduktion nicht gewachsen ist. Das gleiche Phänomen lässt sich auch aus der Perspektive der Produktivität erklären: Wo der Kapitalismus gut funktioniert, steigt die Produktivität viel schneller als die Kaufkraft der Konsumenten. Die Unternehmer bleiben auf ihren Waren sitzen.

Diese beiden Umstände bringen es mit sich, dass eine kapitalistische Volkswirtschaft eigentlich immer vor einer Krise steht, sofern sie sich nicht gerade mitten darin befindet. Soweit zum Faktor Arbeit. Hinzu kommt noch das Eigenleben der internationalen Finanzwirtschaft, die zu Marx' Zeiten erst in Ansätzen bestand. "Die Bedeutung der globalen Finanzmärkte", schreibt Altvater, habe "im Vergleich zu den Zeiten von Karl Marx enorm zugenommen, so sehr dass heute vom ,finanzgetriebenen Kapitalismus' die Rede ist."

Lesen Sie im dritten Teil, warum Marx gut analysieren konnte, jedoch ein schlechter Ratgeber war.

Im Weltwirtschaftsgewitter

Der Wert des Geldes beruht zwar allein auf der Warenproduktion und dem Handel. Aber alle Akteure auf den Finanzmärkten übersehen das geflissentlich. Sie tun, als sei das Geld ein Wert an sich. Die scheinbare Entkoppelung der globalen Finanzmärkte von der Produktion in der "realen" Wirtschaft hat Marx dazu verleitet, das Geld als "Fetisch" zu bezeichnen. Dass die Aktivitäten der internationalen Finanzjongleure unausweichlich eine Krise herbeiführen müssen, hat er beschrieben.

Wer mit Marx argumentiert, wird nicht auf die Idee kommen, lediglich "Heuschrecken", pflichtvergessene Sparkassendirektoren und übergeschnappte Investmentbanker für die jetzige Finanzkrise verantwortlich zu machen.

Er wird sagen: Diese Entwicklung liegt in der Natur des Systems. Die Profitgier solcher Leute bewirkt zwar, dass die Krise schneller da ist. Kommen muss sie aber auf jeden Fall. Wer nicht mit Marx argumentiert, führt - in der Regel - ökonomische Krisen "auf vermeidbare wirtschaftspolitische Fehler, unvorhergesehene externe Zufälle und historische Kontingenzen, sprich bloße Zufälle, zurück". So fasste Elmar Altvater es Anfang dieses Jahres zusammen. Und so wird jetzt angesichts der Finanzkrise in der Tat argumentiert.

In einem Punkt sind neoliberal denkende Ökonomen, die meinen, der Markt werde alles regeln, mit Marx eines Sinns: Der sah das nämlich ganz ähnlich, er sprach von "Weltwirtschaftsgewittern". Die Selbstorganisation des Kapitalismus macht's möglich.

Guter Analytiker, schlechter Ratgeber

Jede Krise zwingt die Produzenten und Arbeitgeber dazu, sich an die neuen, zunächst widrigen Umstände anzupassen. Technische Innovationen helfen dabei. Zuallererst geht der Anpassungsprozess auf Kosten der Lohnabhängigen. Anders als die Neoliberalen hielt Marx das für ungerecht. Seine Lösung war die Revolution.

Leider war Marx als Analytiker besser denn als Ratgeber. Außerdem hat er seine Philosophie nicht für machtgierige und eigennützige Menschen entwickelt, und für diktatorial regierende Parteien schon gar nicht. Nicht gelöst hat Marx die Frage, wie der Kommunismus funktionieren könne.

Der Wirtschaftshistoriker Gareth Stedman Jones hat denn auch geschrieben, der erste Band des "Kapitals" - der einzige, den Marx vollendete - laufe letztlich auf die Idee hinaus, der Kapitalismus werde durch eine vor-marktwirtschaftliche Wirtschaftsform ersetzt werden. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass der "real existierende" Sozialismus in der sowjetischen Einflusssphäre dem historischen Rückschritt in eine andere Form einer ungerechten Gesellschaftsverfassung recht nahe kam.

Der polnische Ökonom Michael Kalecki antwortete einmal auf die Frage, wie es denn mit Polens Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus bestellt sei: "Ja, den Kapitalismus haben wir abgeschafft. Unsere jetzige Aufgabe ist nur noch, den Feudalismus abzuschaffen."

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