Kapitalismus in der Krise:Das große Missverständnis

Wie der Begriff Neoliberalismus zum Schimpfwort wurde - und warum seine Anhänger von Anfang an den Staat nicht abschaffen, sondern ihn sogar stärken wollten.

Marc Beise

Oskar Lafontaine tut es, der Vorsitzende der Linkspartei. Sein Partner Gregor Gysi sowieso. Auch Heiner Geißler, der Protestler in der CDU, und sogar Horst Seehofer (CSU), als er noch nicht bayerischer Ministerpräsident war. Für Globalisierungskritiker, Attac-Aktivisten und Gewerkschafter ist die Sache ohnehin klar: Sie alle schimpfen bei Bedarf auf "den Neoliberalismus". Und prügeln damit auf einen Popanz ein. Seit vielen Jahren und heute wieder besonders heftig geißeln Menschen den Neoliberalismus - und wissen meist gar nicht, wovon sie da reden.

Kapitalismus in der Krise: In Zeiten der Krise geißeln viele den Neoliberalismus - dabei will dieser die freie Marktwirtschaft regulieren.  Auf dem Bild: Eine Banken-Ausstellung in Peking.

In Zeiten der Krise geißeln viele den Neoliberalismus - dabei will dieser die freie Marktwirtschaft regulieren. Auf dem Bild: Eine Banken-Ausstellung in Peking.

(Foto: Foto: AP)

Die wenigsten Kritiker wollen wirklich die Denkrichtung abstrafen, die sich im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs, zu Zeiten von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus, unter diesem Namen herausgebildet hatte. Die Wissenschaftler und Denker, die sich im Jahr 1938 auf Einladung des amerikanischen Journalisten Walter Lippmann zu einem Kolloquium in Paris zusammengefunden hatten, kritisierten ausdrücklich die "staatsfreie Wirtschaft". Sie vermissten Wettbewerbsregeln und waren überzeugt, dass der Staat gerade deshalb zur Beute der Ideologen geworden war, weil er zu schwach war.

Die Neoliberalen hatten ein gemeinsames Feindbild, mit dem sich auch die heutigen Kritiker des Neoliberalismus anfreunden könnten: den alten Laissez-Faire-Liberalismus in der Tradition des klassischen Denkers Adam Smith, dem sie unter anderem vorwarfen, er vernachlässige die soziale Frage. Und auch beim legendären Treffen am Genfer See im Jahr 1947 war von einem Motto "Lasst doch alles laufen" weit und breit keine Spur.

Erhard als Anhänger des Neoliberalismus

Es war vermutlich der deutsche Sozialwissenschaftler und Emigrant Alexander Rüstow, später ein enger Berater des Wirtschaftswunder-Ministers Ludwig Erhard, der den heute inkriminierten Begriff erfunden hat. Rüstow hatte bereits im Jahr 1932, als man in Deutschland noch die alte Weimarer Republik verächtlich zu machen und den kommenden Herrn Hitler zu bewundern pflegte, genau dies beklagt und gesagt: "Der neue Liberalismus, der heute vertretbar ist und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessen, da, wo er hingehört."

Auch Ludwig Erhard, der gerne gegen den Neoliberalismus in Stellung gebracht wird, war damals genau dies: ein Neoliberaler - obwohl (oder gerade weil) er die "Soziale Marktwirtschaft" popularisierte - was für ihn ziemlich dasselbe war.

Dieser Begriff war zuerst von Alfred Müller-Armack benutzt worden, Wirtschaftswissenschaftler und später Erhards Staatssekretär. Müller-Armack skizzierte in seinem Buch "Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft" (1947) eine zukünftige Wirtschaftsordnung für das vom Krieg zerstörte Deutschland als dritte Form neben rein liberaler Marktwirtschaft und Lenkungswirtschaft: "Wir sprechen von 'Sozialer Marktwirtschaft', um diese dritte wirtschaftspolitische Form zu kennzeichnen. Es bedeutet dies, dass uns die Marktwirtschaft notwendig als das tragende Gerüst der künftigen Wirtschaftsordnung erscheint, nur dass dies eben keine sich selbst überlassene liberale Marktwirtschaft, sondern eine bewusst gesteuerte, und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft sein soll."

Neoliberalismus als Schimpfwort

Nichts anderes wollten die Neoliberalen. Wenn also heute eine Spätjugendliche wie die 28-jährige Vorsitzende der Jungsozialisten, Franziska Drohsel, mal eben so dahin behauptet: "Der Neoliberalismus ist am Ende", wäre das tatsächlich eine erschreckende Erkenntnis, und zwar genau anders herum als gemeint.

Das Missverständnis erklärt sich daher, dass Ende der neunziger Jahre die Globalisierungsgegner den Begriff entdeckt haben und ihn zu einem Schimpfwort für alle machten, die am ehesten dem Markt die Lösung der wirtschaftlichen Probleme zutrauen.

Ohnehin ist auffällig, dass das Präfix "Neo" häufig zur Abqualifizierung dient. Was mit Neo beginnt, endet gerne negativ: Neokonservative. Neonazis. Neoplasma. Glück gehabt hat insoweit der Ordoliberalismus, wie die deutschen Neoliberalen aus Freiburg um Walter Eucken ihre sehr verwandte Theorie nannten: "Ordo" ist wahrscheinlich zu kompliziert fürs öffentliche Pamphlet. Einem Missverständnis unterliegt auch der Kapitalismus - auch dies ein Begriff, den man heutzutage ohne die Gefahr kollektiver Abstrafung kaum noch verwenden darf. Dabei benennt er eigentlich nur eine Wirtschaftsordnung, die auf Privateigentum und Marktwirtschaft beruht. In Deutschland wird üblicherweise von "Marktwirtschaft" gesprochen, in angelsächsischen Ländern ist dagegen ist Capitalism das gängige Wort.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der Kapitalismus zum Feindbild geworden ist.

Das große Missverständnis

Wer Neoliberalismus oder Kapitalismus sagt, meint meist Turbokapitalismus, Marktradikalismus, Wall-Street-Kapitalismus, Hire-and-fire-Kapitalismus oder was auch immer - jedenfalls extreme Zuspitzungen des freien Spiels der Marktwirtschaft. Diese (und nur diese) Exzesse steht für viele Bürger in der Kritik. Indem sie aber die Begriffe mischen und falsch zuordnen, verwischen sie die Strukturen und richten argumentativen Schaden an. Wenn der Neoliberalismus, der Kapitalismus oder gar die Marktwirtschaft diskreditiert wird, geraten alle Grundlagen des Wirtschaftssystems ins Rutschen. Das kann man ja wollen - die meisten Diskussionsteilnehmer aber wollen es ganz sicher nicht.

Schuld an der babylonischen Sprachverwirrung sind auch die Ökonomen selbst. Über die Jahrzehnte haben die maßgeblichen und einflussreichen Ökonomen, teilweise unter den alten Begriffen, unterschiedliche Positionen entwickelt. Manche der Ursprungs-Neoliberalen radikalisierten sich. Das begann, auf hohem intellektuellen Niveau, schon mit Friedrich August von Hayek, der in seiner frühen Streitschrift "Der Weg zur Knechtschaft" auf die Parallelen zwischen Staatssozialismus und Nationalsozialismus hinwies und behauptete, dass schon kleine Eingriffe in die Märkte totalitäre Züge annehmen können.

Ideales Feindbild

Und dann natürlich Milton Friedman, auch er ein Mitstreiter der frühen Jahre: Er entwickelte sich als Mitglied der Chicago School zum Marktradikalen. Er liebte die Provokation, kämpfte gegen eine willkürliche Staatsmacht, verdammte die staatliche Rentenversicherung, wollte die Steuern minimieren, lehnte eine soziale Verantwortung von Unternehmen ab, kurz: Er stellte den Markt über alles; jede Gängelung der Bürger war ihm ein Graus. Teilweise nahm die Argumentation absurde Formen an, so als Friedman die Schulpflicht abschaffen wollte und sich über eine mögliche Freigabe harter Drogen ausließ.

Natürlich passt es ins Bild, dass der Ökonom vor allem konservative Politiker wie US-Präsident Ronald Reagan beriet. Nach dem blutigen Militärputsch in Chile 1973 sah Friedman die Chance, in Zeiten der Diktatur eine Art Feldversuch für ein freies Spiel der Kräfte zu starten. Später wiederholte sich dieses Vorgehen im Osten, als forsche Friedman-Jünger das postkommunistische Russland über Nacht in einen "Anything-goes-Kapitalismus" zu transformieren halfen. Besonders clevere oder gut vernetzte Russen wurden in kurzer Zeit ungeheuer reich - mit Neoliberalismus hatte das nichts zu tun. Damit gerieten Friedman und seine Apologeten in den Verdacht, dass ihnen jedes System zur Durchsetzung ihrer Heilslehre recht sei. Als dann die Probleme der Globalisierung kamen, Volkswirtschaften in die Krise stürzten, die internationalen Regeln und Institutionen in die Kritik gerieten, war das Feinbild perfekt.

Dabei wollen auch Neoliberale den starken Staat, können mit der Freiheit auf den internationalen Finanzmärkten nicht einverstanden sein, fordern gleiche Regeln für alle. Die große Krise des Jahres 2008 ist eben keine Folge einer neoliberalen Politik, sondern im Gegenteil dadurch begründet, dass es seit langem zu wenig Neoliberalismus gegeben hat.

Staat als Krisenmanager

Allerdings, und dieser Konflikt besteht in der Tat, warnen Neoliberale auch vor einem überbordenden Sozialstaat. Schon Rüstow klagte, dass "jeder Interessent erwartet, dass auf jedes Wehwehchen sofort von öffentlicher Hand ein möglichst großes Pflaster geklebt wird". Und Ludwig Erhard versprach "Wohlstand für alle", wusste aber sehr wohl, dass erst verdient werden muss, was dann umverteilt werden kann.

Heute wird gerne übersehen, dass der Staat besonders in Krisenzeiten wie derzeit an den Finanzmärkten gefordert ist, aber nach aller Erfahrung als Akteur im wirtschaftlichen Alltag scheitern wird. Man kann dafür auf die DDR verweisen, aber auch - mit vergleichsweise weniger schwer wiegenden Konsequenzen - auf die Geschichte Westdeutschlands. In den sechziger Jahren begann hier die Globalsteuerung in der Tradition des Keynesianismus - die Spätfolge waren und sind reformbedürftige Sozialsysteme und eine gigantische Staatsverschuldung. Viele der Probleme, mit denen Deutschland heute kämpft, stammen aus dieser Zeit, als der SPD-Kanzler Willy Brandt "mehr Demokratie wagen" wollte, aber vor allem mehr Geld ausgab.

Für diese Argumentation findet sich heute keine Öffentlichkeit. Schlechte Zeiten für Neoliberale? Nein, schlimmer: schlechte Zeiten für alle, die Marktwirtschaft für eine zwar nicht unproblematische Wirtschaftsform halten, aber immer noch für die beste aller möglichen. Nun haben dagegen die Anhänger eines möglichst starken Staates das Wort, eines sogar freigiebig mit den Mitteln der Bürger umgehenden Staates - als ob dessen Ressourcen unendlich wären.

Was aber heute falsch gemacht wird, müssen Generationen ausbaden. Die Geschichte wiederholt sich, und es ist nicht zum besten der Menschen.

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