Juncker im Interview:"Mittelmäßig schwere Unterlassungsfehler"

Hat die EU Griechenland zu wenig kontrolliert? Luxemburgs Premier Juncker über die Krise in Europa.

C. Gammelin

Der Luxemburger Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, 65, ist dienstältester Regierungschef der Europäischen Union. Der konservative Politiker spricht zudem seit 2004 für die Länder der Eurogruppe.

Jean-Claude Juncker, dpa

Jean-Claude Juncker: Wir wollen die Finanzmärkte nicht beunruhigen.

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SZ: Herr Juncker, wie fühlt es sich an, plötzlich einem Krisenverein vorzusitzen?

Jean-Claude Juncker: Ich war zwanzig Jahre Finanzminister, habe den Maastrichter Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion mitverhandelt und bin einigermaßen abgehärtet. Wir hatten schon mehrere Krisen bei der Vorbereitung des Euro durchzustehen.

SZ: Aber nicht eine so große wie jetzt?

Juncker: Das ist richtig. Jetzt ist ausgeprägte Führungsqualität gefragt. Wir müssen klar sagen, was Sache ist und sein wird.

SZ: Nämlich?

Juncker: Die griechische Regierung muss wissen, dass es ihre ureigene Sache ist, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen. Dass sie in der Pflicht steht, das Defizit in diesem Jahr um vier Prozentpunkte zu senken. Und, falls die vorliegenden Planungen nicht ausreichen, noch mehr zu machen. Sache ist auch, dass, falls die Griechen alles unternehmen, ihnen die Europäer solidarisch zur Seite springen werden, um die Anstrengungen zu unterstützen und die Märkte zu überzeugen.

SZ: Solidarisch zur Seite springen?

Juncker: Wir werden im Falle, dass der griechische Staat Refinanzierungsprobleme hat, ihm bei der Bewältigung derselben helfen.

SZ: Wie sehen diese Finanzhilfen aus?

Juncker: Ein genaues Instrument kann ich heute nicht nennen. Ich halte es auch nicht für geboten, öffentlich über die genaue Ausrichtung der Instrumente zu reden. Wir wollen die Finanzmärkte nicht beunruhigen. Wir haben viele Instrumente bereit und werden sie nutzen, wenn es geboten ist.

SZ: Griechenland hat noch nie die Maastrichter Kriterien erfüllt. Warum haben Sie so lange zugeschaut?

Juncker: Wir haben Griechenland andauernd gesagt, dass es an Wettbewerbsfähigkeit verliert. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) hat immer wieder zur Überprüfung ihrer Politik ermahnt.

SZ: Letztlich ohne Erfolg.

Juncker: Die Eurogruppe wird sich künftig viel intensiver, viel stringenter mit der Wettbewerbsfähigkeit der Länder beschäftigen. Wir betrachten die mangelnde Beschäftigung mit der griechischen Lage als mittelmäßig schweren Unterlassungsfehler.

Junker über Weber als neuen EZB-Chef

SZ: Die Euroländer sind also mitschuldig an dem griechischen Desaster?

Juncker: Wenn man dauernd Daten bekommt, die der Vorspiegelung falscher Tatsachen entsprechen, und man nicht prüfen kann, wie belastbar die Daten sind, dann ist es schwierig, sich mit jemandem ins Benehmen zu setzen. Man hat ja keine Ahnung, dass die Fakten falsch sind. Deshalb muss die europäische Statistikbehörde Eurostat Zugriffsrecht auf nationale Daten erhalten.

SZ: Muss der Stabilitätspakt reformiert werden, um beispielsweise handlungsfähig zu sein, wenn die Zahlungsunfähigkeit eines Staates droht?

Juncker: Das denke ich nicht. Das Grundmuster des Maastricht-Vertrages ist so, dass ein Staatskonkurs eigentlich nicht in Frage kommt. Hätten wir angenommen, ein Mitglied der Eurozone könne in Konkurs geraten, hätten wir uns Instrumente gegeben, um dem entgegenzuwirken. Das ist nicht vorgesehen.

SZ: Kann aber passieren.

Juncker: Wenn in der Eurozone das Gefühl aufkäme, jeder kann tun und lassen, was er will, denn die Partner stehen bereit, um Finanzhilfe zu leisten, dann hätte das zur Folge, dass sich die Defizitstaaten zurücklehnen und ihre Bemühungen einstellen. Weil ja garantiert geholfen würde. Nein, jeder muss sich selbst helfen. Nur unter bestimmten Umständen kann es europäische Solidarität geben.

SZ: Wie wäre es mit einem Rauswurfparagraphen?

Juncker: Davon halte ich nichts.

SZ: Warum?

Juncker: Weil ein Rauswurf erdbebenartige, unkontrollierbare Folgen hätte. Wir müssen verhindern, dass ein Staat in die Nähe des Staatsbankrotts abdriftet.

SZ: Es heißt, dass Griechenland auf dem Finanzmarkt wie die Ukraine eingestuft würde, sollte es die Eurozone verlassen.

Juncker: Die Finanzmärkte würden extensiv negativ reagieren. Der Ausstieg wäre das totale Aus für Griechenland. Und auch für das Image der Eurozone wäre das absolut negativ.

SZ: Aber wie motivieren Sie den griechischen Taxifahrer, eine Quittung zu schreiben oder das Finanzamt, Steuern einzutreiben?

Juncker: Das hat die griechische Regierung versprochen zu tun. Sonst gibt es keine europäische Solidarität. Wir werden dauernd fragen, wo die Griechen mit ihrem Reformprogramm stehen. Wir werden ihnen keine Ruhe lassen.

SZ: Wie sieht diese Kontrolle aus?

Juncker: Wir werden penibel prüfen, ob die Griechen ihre Versprechen erfüllen und regelmäßig an die Eurogruppe berichten.

SZ: Die Regeln der Währungsunion haben maßgeblich Länder diktiert, die besser wirtschaften als einige in Südeuropa. Nun driften genau die Volkswirtschaften zwischen Nord und Süd auseinander. Ist das nicht ein Grundübel?

Juncker: Mit Verlaub, ich würde nicht so despektierlich über die Südländer reden, im Jahre 2003 waren es Deutschland und Frankreich, die die Grenzen des Stabilitätspaktes verletzt haben. Wir sind das einzige Währungsgebiet, das über keine zentrale Regierung mit adäquater Gewalt verfügt. Für die Wirtschafts- und Haushaltspolitik unseres Währungsgebietes haben wir uns den Stabilitätspakt gegeben. Er ersetzt mit seinem dichten Regelwerk die Regierung.

SZ: Gut, aber Sie selbst sagen, dass die Euroländer über die immer größer werdenden Unterschiede reden müssen.

Juncker: Das ist die Debatte, die ich führen will. Wie viel Unterschiede dürfen wir zulassen? Die griechische Leistungsbilanz ist verheerend negativ, das ist über Jahre angewachsen. Wir müssen aufpassen, dass die Divergenzen nicht immer breiter werden. Eine Währungszone kann auf Dauer nicht bestehen, wenn die Unterschiede in den Leistungsbilanzen der Volkswirtschaften übergroß werden.

SZ: Die Länder des Südens haben nun mal eine andere Lebensart, schon wegen des Klimas.

Juncker: Ich sage ja nicht, dass es keine Unterschiede geben darf. Sie dürfen nur nicht zu groß werden. Das, was sympathisch ist, wird gefährlich, wenn es zu sympathisch wird.

SZ: Kann die Eurozone an den Spannungen zerbrechen?

Juncker: Das glaube ich nicht, weil im konkreten Fall Griechenland ja festgelegt wurde, dass die Griechen bei Bedarf zusätzliche Maßnahmen ergreifen werden. Sie werden über viele Jahre sparen, auch unter dem Druck der Partner.

SZ: Weitere Länder, darunter Polen, drängen in die Währungsunion. Sollten die Beitrittskriterien verschärft werden?

Juncker: Dazu müsste der Vertrag geändert werden, darauf hat derzeit keiner in Europa Lust. Wer die Kriterien erfüllt, kann beitreten, wobei die Euroländer selbst und die Europäische Zentralbank befinden müssen, ob die Kriterien dauerhaft erfüllbar sind. Stabilität ist nicht nur ein Einstiegskriterium, sondern ein dauerhaftes.

SZ: Berlin und Paris planen, eine europäische Wirtschaftsregierung zu gründen. Was halten Sie von dem Vorschlag?

Juncker: Mich stört der Ausdruck Wirtschaftsregierung nicht, obwohl er bei manchem Ordnungspolitiker im deutschsprachigen Raum zu Schweißausbrüchen führt. Wirtschaftspolitik muss europäisch koordiniert werden. Allerdings muss ich anmerken, dass, wer sich so energisch und intensiv dafür einsetzt, die wirtschaftliche Koordinierung in der EU zu verbessern, implizit damit einverstanden sein muss, dass es eine noch stärkere und intimere Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der Eurozone gibt. Die Eurozone verfügt über eine gemeinsame Währung, die EU 27 tut das nicht. Es reicht nicht, eine lose Koordinierung auf der Ebene der 27 anzustreben. Wir müssen vor allem die Wirtschaftspolitik in der Eurozone enger koordinieren.

SZ: Das klingt sehr vage. Was genau soll denn koordiniert werden?

Juncker: Nun, für die Eurozone kann ich Ihnen sagen, wir müssen über die Wettbewerbsfähigkeit reden, über Wachstumsdivergenzen, über die Entwicklung der Kaufkraft, also der Inflation, über arbeitsmarktpolitische Entwicklungen, Lohnfindungsinstrumente und über Inhalt und Fortschritt der Strukturreformen. Niemand darf sich den Debatten entziehen. Viele, die die Wirtschaftsregierung anmahnen, müssen auch ihr eigenes wirtschaftspolitisches Tun auf den Prüfstand stellen und nicht sagen, das sei eine nationale Angelegenheit.

SZ: Wen meinen Sie damit?

Juncker: Wer den Begriff Wirtschaftsregierung in den Mund nimmt, muss wissen, dass das ihn selbst in stärkere Koordinierungspflichten bringt.

SZ: Deutschland hat Frankreich zuliebe darauf verzichtet, Sie als EU-Ratspräsidenten zu nominieren. Jetzt weigert sich Berlin, Ihren Kandidaten für den Vizepräsidenten der EZB zu unterstützen. Was ist los?

Juncker: Über den Posten stimmen wir am Montag ab. Yves Mersch ist ein ausgewiesen guter Zentralbanker mit ausgeprägtem Wissen über die Befindlichkeiten in anderen Euroländern. Wenn man aus anderen Gründen, die in der Zukunft liegen, Herrn Mersch die Zustimmung verweigert, muss man sich fragen lassen, ob man der Eurozone was Gutes antut. Herrn Mersch auszubooten, um jemand anderen in den Chefsessel zu heben, spricht nicht für Weitblick.

SZ: Berlin will nun genau dies tun, nämlich Bundesbankpräsident Axel Weber in den Chefsessel der EZB hieven.

Juncker: Ich halte wenig davon, sich jetzt mit Personalien zu beschäftigen, die im Herbst 2011 anstehen. Ich empfände es nicht als störend, wenn ein Deutscher Präsident der Europäischen Zentralbank werden würde, aber ich kann keine Notwendigkeit dafür entdecken.

SZ: Bevorzugen Sie den Italiener Mario Draghi?

Juncker: Es ist nicht sinnvoll, sich jetzt mit der Personalie zu beschäftigen.

SZ: Die Europäer streiten auch, wer sie bei den G-20-Treffen vertreten soll. Der Chef der Eurogruppe?

Juncker: Ich finde, dass die Eurogruppe bei den G-20-Finanzministern vertreten sein muss. Wir sind auch bei G7 dabei, weil dort über Wechselkurspolitik geredet wird. Aber solange die Europäer denken, sie wären besonders stark, wenn möglichst viele am G-20-Tisch sitzen, was die anderen nervt und was sie als absolut störend empfinden, sehe ich die sofortigen Chancen, den Eurogruppenchef an diesen Tisch zu bringen, als klein an.

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