EM-Überraschung:Island, das Wirtschaftswunderland

Iceland's Prime Minister Under Pressure To Resign After 'Panama Papers' Detail Offshore Holdings

Reykjavik gilt vielen als schöne, friedliche Stadt. Hier wurde Birna Brjánsdóttir am frühen Morgen des 14. Januar zum letzten Mal lebend gesehen.

(Foto: Spencer Platt/Getty)
  • Island war im Jahr 2008 praktisch pleite, die Staatsschulden betrugen zeitweise 500 Prozent des BIP.
  • Heute erlebt das Land einen regelrechten Boom in Wirtschaft und Tourismus, der Ökonomen staunen lässt.

Von Nikolaus Piper

Seit dem 2:1-Sieg Islands gegen England schwärmt ganz Europa vom "Wunder" des isländischen Fußballs. Ganz Kühne glauben gar, die Kicker um Kapitän Aron Gunnarsson könnten am Sonntag sogar Frankreich schlagen. Dabei wird leicht vergessen, dass das Land im Nordatlantik mit seinen 330 000 Einwohnern bereits ein viel größeres Wunder vollbracht hat - in seiner Wirtschaft. Nach seinem Staatsbankrott in der Finanzkrise erholte sich Island in Rekordgeschwindigkeit. Heute läuft die Konjunktur so gut, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem neuen Länderbericht vor der "Überhitzung" der isländischen Wirtschaft warnt.

Blick zurück: Im November 2008 stand Island vor dem Zusammenbruch. Drei Banken - Glitnir, Landsbanki und Kaupthing - hatten die Deregulierung des Finanzsektor für eine aberwitzige Expansion genutzt. Junge, unerfahrene Männer warfen mit Geld um sich, erwarben Beteiligungen, die sie nicht verstanden, und nahmen Einlagen von Sparern aus ganz Europa. Die Bilanzsumme der Institute entsprach dem Zehnfachen des isländischen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Als im Zuge der Finanzkrise die Finanzströme austrockneten, kollabierten die Banken. Die Regierung in Reykjavik musste sie verstaatlichen und bürdete sich so eine Staatsschuld von 50 Milliarden Dollar auf, umgerechnet 500 Prozent des BIP (zum Vergleich: Griechenland hat heute 182 Prozent).

Island musste, als erstes reiches Land seit Jahrzehnten, den IWF um Hilfe rufen. Am 19. November 2008 gewährte der Fonds dem Land einen Beistandskredit von 2,1 Milliarden Dollar, weitere drei Milliarden kamen von den skandinavischen Ländern. Nach - für isländische Verhältnisse - heftigen Protesten der Bevölkerung musste der konservative Ministerpräsident Geir Haarde zurücktreten. Das Land schien am Boden zu liegen.

Der Leitzins der isländischen Zentralbank liegt bei 5,75 Prozent

Heute ist Island eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Europas. Der IWF sagt in seinem Länderbericht ein Plus beim BIP von 4,6 Prozent voraus, die Arbeitslosenrate liegt bei 3,5 Prozent, die Reallöhne steigen um nicht weniger als 8,8 Prozent, der Finanzminister erwirtschaftet einen Überschuss, die Staatsschuld ist auf 55,1 Prozent des BIP gesunken, niedriger als in Deutschland. Jetzt will die Regierung die in der Krise verhängten Kapitalverkehrskontrollen schrittweise lockern und so auf den internationalen Kapitalmarkt zurückkehren. Der IWF rät den Isländern indirekt, im Haushalt mehr zu sparen und die Zinsen zu erhöhen, damit der Boom nicht außer Kontrolle gerät.

Und schließlich eine Zahl, die deutsche Sparer interessieren wird: Der Leitzins der Zentralbank von Island liegt bei 5,75 Prozent (der der Europäischen Zentralbank bei 0,0 Prozent), die Inflation bei 2,6 Prozent. Man kann sich also vorstellen, dass in Island gute Realzinsen zu verdienen sind.

Der EM-Erfolg dürfte den Boom im Tourismus antreiben

Wie hat Island diesen Wandel geschafft? Warum steht die Insel, die es einst am schlimmsten erwischt hatte, heute ungleich besser da als die Euro-Krisenstaaten Griechenland, Spanien, Portugal und selbst das relativ erfolgreiche Irland? Für den Ökonomen und Nobelpreisträger Paul Krugman ist die Sache klar: "Island zeigt auf dramatische Weise, wie falsch die herrschende Meinung in diesen Tagen ist. Island hat alle Regeln gebrochen, und die Dinge laufen nicht schlecht." Krugman schrieb diesen Satz 2012, als sich der Boom erst abzuzeichnen begann.

Der Chef der jüngsten IWF-Mission nach Island, Ashok Bhatia, äußert sich abgewogener, aber nicht weniger positiv: "Island war ein Musterbeispiel dafür, wie man Kapitalverkehrskontrollen sinnvoll einsetzt." Und: "Dem Land ist es gelungen, die Banken so abzuwickeln, dass die eigenen Steuerzahler geschützt wurden und die Staatskasse bei der Aktion auch noch neun Prozent vom BIP Gewinn machte." Man könnte es auch unfreundlicher sagen: Die Isländer wurden geschützt, die Ausländer enteignet. Das war in der Tat unorthodox, aber angesichts des Ausmaßes der Krise blieb dem Land wohl keine andere Wahl.

Dazu kam: Der Wechselkurs der zuvor extrem überbewerteten Krone halbierte sich 2008, wodurch die Wirtschaft wettbewerbsfähiger wurde. Euro-Ländern ist dieser Schritt verwehrt. Wegen der Kapitalkontrollen fiel der Kurs aber auch nicht ins Bodenlose. Außerdem war der isländische Staatshaushalt vor der Krise gesund, anders als der von Griechenland. Es waren also kaum schmerzhafte Einschnitte nötig. Zudem hat Island eine verlässliche realwirtschaftliche Grundlage: Fischerei, Tourismus, Aluminiumschmelze, Biotechnik. Wenn es um die Zukunft geht, werden die Autoren des IWF, anders als es sonst ihre Art ist, regelrecht pathetisch: "Wenn die Geschichte einmal geschrieben wird, dann wird es hoffentlich eine des sanften Übergangs sein. Islands neues ökonomisches Modell sollte nachhaltigen Tourismus zusammenbringen mit Fischerei und Investitionen in fortgeschrittene Technik, um die einzigartigen Reserven an erneuerbarer Energie zu nutzen und zu exportieren."

Vielleicht hilft jetzt auch die Fußball EM noch ein wenig. Island ist in den vergangenen Wochen zu einer globalen, emotional aufgeladenen Marke geworden. Das dürfte den Boom im Tourismus antreiben. Gefährden können die Isländer ihr Modell eigentlich nur selbst - dann, wenn sie mit ihren Ansprüchen an das Sozialprodukt maßlos werden, so wie vor der Finanzkrise.

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