Intimsphäre:Aufklärung jetzt

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Schnell mal im Internet surfen. Nicht nur Kinder gehen mit neuen Medien arglos um.

(Foto: Westend61/imago)

Persönliche Daten sind die Währung in der digitalen Welt. Gibt es künftig keine Privatheit mehr? Warum es Zeit ist zu handeln.

Von Marcel Grzanna

Lily ist sieben Jahre alt, sie geht in die zweite Klasse. Im Schulunterricht benutzen die Kinder das Internet, wenn sie mal nicht weiter wissen. Dann tippen sie etwas in eine Suchmaschine und schauen, was der Algorithmus so ausspuckt. Über Hunde oder Dinosaurier. Lily ist beeindruckt. "Google weiß alles", sagt sie arglos und formuliert damit unbewusst bereits eines der drängenden Probleme der Digitalisierung. Die Kinder lernen zwar früh den sinnvollen Einsatz digitaler Technologien, die es noch nicht gab, als ihre Eltern so alt waren wie sie. Deswegen nennt man Lilys Generation ja auch die Digital Natives: quasi die Eingeborenen in einem Kosmos, der sich ohne Smartphones, Apps und Messenger-Dienste kaum noch vorstellen lässt. Doch Lilys Lehrerin versäumt es, ihren Schülern auch zu erklären, dass Google nicht nur viel über Hunde und Dinosaurier weiß, sondern schon bald auch sehr viel über Lily selbst wissen könnte. Über ihre Vorlieben, ihre Abneigungen, ihre Freunde, ihr Vermögen, ihren Charakter. "Ist das schlimm?", fragt Lily.

Die Antwort mag immer im Auge des Betrachters liegen. Klar aber ist, dass die Digitalisierung des Lebens Fragen aufwirft zur Sicherheit, zur Zwischenmenschlichkeit in der Zukunft, zur emotionalen Bewältigung der totalen Vernetzung: Wie digital dürfen wir werden, ohne es später einmal zu bereuen? Können wir überhaupt relevant bleiben, wenn wir uns ins Analoge zurückziehen?

Der Philosoph und Autor Richard David Precht sieht durch die Digitalisierung alles bedroht, "was ist". Er vergleicht die digitale Revolution, die wir erleben, mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, die aus dem Agrarstaat Deutschland ein "Land der Fabrikarbeiter, der Schlote und der großen Städte" machte und damit das "Ende der Herrschaft von Adel und Kirche und den Beginn des bürgerlichen Zeitalters" einläutete.

SPD-Chefin Andrea Nahles hatte den "digitalen Kapitalismus" zu Beginn ihrer Amtszeit sogar zu einem der größten Gegner erkoren. Verkörpert sieht sie ihn durch Internetkonzerne, die sich Unmengen persönlicher Daten ihrer Nutzer einverleibten, sich durch Steuerflucht der gesellschaftlichen Verantwortung entzögen und im Fall von Onlinehandelsplattformen auch noch schlechte Arbeitsbedingungen schafften. Für ihre Aussagen kassierte Nahles zum Teil scharfe Kritik. Sie hätte das Internet nicht verstanden. Sie würde sich der Zukunft verweigern und lieber einen Schutzwall aufbauen. Chefredakteur Frank Schmiechen von Gründerszene.de fühlte sich sogar genötigt, Nahles daran zu erinnern, dass "sich die Welt da draußen dramatisch verändert" hat. "Wir stehen vor völlig neuen, großen Herausforderungen, die neue Lösungen erfordern."

Im Kern geht es um zwei Fragen. Zum einen, wer was wann über mich weiß. Denn die Spuren der Digitalisierung sind im Vergleich zur analogen Welt deutlich schwieriger zu verwischen, oftmals gar nicht, und für den Nutzer selbst auch häufig nicht nachzuvollziehen. Daraus resultiert ein Dilemma. "Menschen im digitalen Zeitalter stehen im ständigen Wettlauf zwischen neuen Funktionen und dem Wissen darüber, wie ich diese Funktionen nutze, ohne mich komplett zu offenbaren", sagt Frederick Richter von der Stiftung Datenschutz, die sich für eine sachliche Aufklärung von Gefahren und Chancen durch die Digitalisierung einsetzt.

Richter kennt das Problem aus eigener Erfahrung. Zwei Mobiltelefone trägt er ständig mit sich herum. "Durch diese Form der Sucht nach Vernetzung, nach andauernder Erreichbarkeit sowohl im Privaten als auch im Beruflichen, ist man sich aber nicht immer bewusst, was man alles preisgibt", sagt er. Bei der Nutzung sozialer Netzwerke hat jeder selbst die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, was er freiwillig über sich mitteilt. Doch auch das hat seine Tücken, denn nicht immer wird der Schutz persönlicher Daten von den Firmen auch mit letzter Konsequenz verfolgt; trotz anderweitiger Zusagen.

Beispielsweise ließ Facebook die Firma Cambridge Analytica jahrelang Daten über die Profile von Facebook-Nutzern sammeln, ohne vehement Einhalt zu gebieten. Viele wussten es bei Facebook, aber keiner wusste es letztlich zu verhindern. Bis die Bombe platzte. Das immerhin nahmen viele Nutzer zum Anlass, ihre Einstellungen bei Facebook mal genauer unter die Lupe zu nehmen und stellten fest: Da schnüffeln aber viele Apps in meinen Daten.

Für Datenschützer Richter ist klar: Um den Spagat zwischen analoger und digitaler Welt zu meistern, dürfe man seine Privatheit nicht aufgeben. Zum Abwarten sieht er keine Zeit mehr, sonst könnte die Gleichgültigkeit beim Umgang mit den eigenen Daten bald zur Normalität werden. Mit einer Portion schlechter Laune und Pessimismus ließe sich daraus ganz schnell ein folgenschweres Desaster für die liberalen Bürgerrechte ableiten: Ohne Privatheit muss ein Nutzer davon ausgehen, dass alle seine Äußerungen und alles, was er tut, irgendwo registriert werden.

Heute mag das noch unproblematisch sein, aber was geschieht, wenn sich die Verhältnisse ändern? Wenn sich die Gesetzgebungen in dieser oder jener Hinsicht eines Tages weiter verschärfen? Dann könnten Taten und Worte vielleicht gegen den verwendet werden, der sie begangen oder gesprochen hat. Die Konsequenz daraus wäre, dass sich der Einzelne sehr genau überlegen müsste, was er sich noch traut zu sagen. Die Bürger würden also beginnen, sich selbst zu zensieren. Für die humanistische Entwicklung von Gesellschaften wäre das ein Problem. Denn ihr vielfältiger Input, der öffentliche Debatten provoziert und damit unser Zusammenleben entscheidend mitgestaltet, würde entfallen.

Doch der Datenschützer will Alarmismus unbedingt vermeiden. Zumal er kein Gegner der Digitalisierung ist. Im Gegenteil sagt Richter: "Es wäre schade, wenn sich eine Gesellschaft dem Fortschritt verweigern würde, nur aus Angst davor, nicht mit ihm umgehen zu können. Dann würden wir der Gesellschaft Vorteile abschneiden, von der sie bei guter Nutzung der Daten in vielerlei Hinsicht profitieren könnte." Beispielsweise bei der Bekämpfung von Krankheiten und dem sinnvollen Einsatz von Medikamenten.

Er sieht besonders die Politik in der Pflicht, für eine sachliche Aufklärung zu sorgen, was Gefahren und Chancen der neuen technischen Möglichkeiten anbelangt. "Die totale Aufgeklärtheit aller Nutzer wäre ein Optimalzustand. Aber es geht um eine nüchterne Herangehensweise. Wenn ständig Alarm geschlagen wird, dann führt das zu einer Abstumpfung bei all jenen, die sich der Risiken bewusst werden sollten", sagt Richter.

Zumindest die kommende Generation sollte sensibilisiert werden

Die andere große Frage lautet: Wie bereiten wir Menschen uns auf den Konkurrenzkampf mit den Maschinen vor? Künstliche Intelligenz wird in der Zukunft in der Lage sein, viele Aufgaben zu erledigen, die heute noch von menschlicher Intelligenz bewältigt werden. Der chinesische Alibaba-Chef Jack Ma appelliert gebetsmühlenartig, endlich zu beginnen, unsere Kinder anders auszubilden, als wir es heute noch tun. "Es ergibt keinen Sinn, unsere Kinder in einen Wettbewerb mit Maschinen zu schicken. Die Maschine wird immer mehr wissen und gewinnen", sagt Ma. Bildung müsse sich angesichts des technischen Fortschritts auf jene Bereiche fokussieren, die Menschen zu eigen sind, in denen sie Computern und Maschinen immer voraus sein werden: Kreativität, Teamwork, Fantasie.

Gleichzeitig müssen Kinder wie die siebenjährige Lily lernen, die Konsequenzen ihres Handelns in der digitalen Welt zu begreifen. Wenn heute schon viele Erwachsene leichtfertig mit ihren Daten umgehen, weil sie glauben, sie seien ein fairer Preis für die kostenlose Nutzung von Onlineangeboten, dann sollten zumindest die kommenden Generationen frühestmöglich so sensibilisiert werden, dass sie selbständig in der Lage sind, möglichem Missbrauch vorzubeugen.

Datenschützer Richter erkennt, dass "das Interesse an unserer Arbeit zunimmt." Ein gutes Zeichen, wie er findet. Ihm war es neulich sogar gelungen, die Chat-Gruppe eines Kindergartens zum gemeinsamen Wechsel zu einem anderen Anbieter zu bewegen. Ein Anbieter, der sensibler mit persönlichen Daten und verschickten Fotos kleiner Kinder umgeht. "Wenn man intensiv auf die Leute zugeht, kann man sie zum Umdenken bewegen. Das hat mich selbst erstaunt."

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