Insolvenz-Statistik:Deutschlands teuerste Pleiten

Lesezeit: 5 min

2011 war ein gutes Jahr für Deutschlands Unternehmen, seither aber hat sich der Trend gedreht. Ganz gleich, ob man nun Umsatz, offene Forderungen oder Mitarbeiterzahl zum Maßstab nimmt - die Insolvenz-Statistik für das erste Halbjahr 2012 beunruhigt.

Stefan Weber

Die gefürchtete Post aus Köln-Rodenkirchen kommt jedes Jahr in den ersten Novembertagen. Dann verschickt der Pensionssicherungsverein (PSV) an Tausende Unternehmen den "Jahresbeitragsbescheid". Mancher Firmenchef öffnet den Brief mit zittrigen Händen. Denn die Summe, die der PSV rückwirkend einfordert, kann stark schwanken. Sie steht und fällt mit dem Insolvenzgeschehen.

Klicken Sie auf das Bild, um die Verlierer des Unternehmen-Rankings im Vergleich zu sehen.

Der Versicherungsverein sorgt dafür, dass die Arbeitnehmer auch im Fall der Insolvenz ihres Unternehmens die Betriebsrente erhalten. Um das zu gewährleisten, stellt der PSV immer dann einen hohen Beitrag in Rechnung, wenn viele große Unternehmen mit Hunderten oder gar Tausenden Mitarbeitern zahlungsunfähig geworden sind. Umgekehrt ist der Beitrag moderat, wenn es nur wenige Großinsolvenzen gegeben hat.

Der traurige Rekord datiert aus dem Jahr 2009. Damals summierten sich die aus Firmenzusammenbrüchen resultierenden Schäden auf 4,3 Milliarden Euro; 170.000 neue Betriebsrentner mussten in die Insolvenzsicherung aufgenommen werden. Das war vor allem eine Folge der Pleite des Arcandor-Konzerns gewesen. Der Absturz des Handels- und Touristikriesen kam (und kommt) den PSV weit teurer als der Bankrott des Elektrokonzerns AEG, der bis dato größte Schadensfall aus dem Jahr 1982. Entsprechend heftig bat der Verein die Mitglieder zur Kasse. Die Rechnung fiel achtmal höher aus als im Jahr zuvor.

Dagegen enthielt der Brief, den der PSV im vergangenen November verschickte, eine gute Nachricht: Der Beitrag für 2011 war weit niedriger als im Durchschnitt der gut 35 Jahre, in denen der PSV bereits für die Verpflichtungen aus der betrieblichen Altersvorsorge geradesteht. Schließlich war 2011 für Insolvenzverwalter ein eher ruhiges Jahr. Gut 30.000 Pleiten bedeuteten einen Rückgang von etwa sechs Prozent im Vergleich zum Jahr zuvor.

Vor allem gab es weniger große spektakuläre Verfahren. Kein Unternehmen, das seine Rechnungen nicht mehr begleichen konnte, verzeichnete einen Umsatz von mehr als eine Milliarde Euro. Die mit Abstand größte Insolvenz im vergangenen Jahr war der Zusammenbruch von Manroland, dem weltweit drittgrößten Hersteller von Druckmaschinen mit 6500 Mitarbeitern und einem Umsatz von 986 Millionen Euro.

Aber was ist der geeignete Maßstab, um die wahre Dimension eines Firmenbankrotts festzumachen? Der Umsatz hilft da oft wenig weiter. So kann etwa ein Online-Händler auch mit nur einer Handvoll Mitarbeitern ein vergleichsweise großes Rad drehen - und dabei möglicherweise mehr in der Kasse haben als ein Handwerksbetrieb mit zwei Dutzend Beschäftigen.

Die Höhe des finanziellen Schadens zählt

Aussagekräftiger als die Höhe des Umsatzes ist der finanzielle Schaden, der privaten Gläubigern und öffentlicher Hand entsteht, wenn eine Firma nicht mehr zahlungsfähig ist. Wie aber lässt sich dieser Schaden ermitteln? Die Summe der Forderungen, die die Gläubiger beim Insolvenzverwalter anmelden, liefert nur eine grobe Orientierung. Denn viele, die noch Geld zu bekommen haben, melden ihre Ansprüche gar nicht erst an - weil sie das nicht für aussichtsreich halten oder weil sie den Papierkrieg fürchten.

Auf der anderen Seite lässt sich schwer ermitteln, wie viel die Gläubiger im Rahmen eines möglicherweise mehrere Jahre dauernden Verfahrens am Ende zurückerhalten haben. Dennoch: Die Erfassung der voraussichtlichen Forderungen durch die Insolvenzgerichte, die Registrierung der Insolvenzgelder durch die Bundesagentur für Arbeit sowie die Statistiken des Pensionssicherungsvereins erlauben zumindest eine grobe Einschätzung der Schadensumme.

Was passiert mit den Mitarbeitern?

Ein gutes Indiz für den Schaden, der einer Volkswirtschaft durch den Zusammenbruch eines Unternehmens entsteht, ist die Anzahl der Mitarbeiter, die eine Pleitefirma beschäftigt. Ihr Job ist weg, wenn das Unternehmen dichtmacht. Bei Arcandor hatten mehrere Zehntausend Menschen auf der Lohnliste gestanden. Aber bei Weitem nicht alle haben ihren Arbeitsplatz in den Wirren der Insolvenz verloren. Manche Tochterfirma wurde verkauft und ist heute unter neuer Flagge erfolgreich. Die meisten Menschen, die dort beschäftigt waren, haben ihre Stelle behalten. Karstadt fand gar einen neuen Eigentümer, der zusagen musste, bis Herbst 2012 niemanden zu entlassen. Was danach kommt, ist freilich offen.

So wie bei Arcandor ist es auch bei vielen anderen Insolvenzen. Die meisten Firmen verschwinden nicht völlig vom Markt. Es gibt ein Leben danach, eine Art Resteverwertung von Firmenteilen durch Finanzinvestoren oder ehemalige Konkurrenten. Treffender ist deshalb, im Zusammenhang mit einer Insolvenz zunächst von gefährdeten und nicht von verlorenen Arbeitsplätzen zu sprechen.

Ganz gleich, ob man nun Umsatz, offene Forderungen oder Mitarbeiterzahl zum Maßstab nimmt - die Insolvenz-Statistik für das erste Halbjahr 2012 beunruhigt.

Der Pleitegeier muss nicht immer eine Bedrohung sein. Manche Unternehmen können durch eine Insolvenz gar gerettet werden. (Foto: Illustration: Dirk Schmidt)

Der Befund der vergangenen Monate ist immer derselbe: Es hat zuletzt mehr und vor allem mehr große Insolvenzen gegeben. Der finanzielle Schaden, der von Januar bis Juni durch Insolvenzen entstanden ist, summiert sich nach Schätzung der Wirtschaftsauskunftei Creditreform auf 16,2 Milliarden Euro - ein Plus von 55 Prozent gegenüber den ersten sechs Monaten 2011. Gut 150.000 Mitarbeiter müssen im Zusammenhang mit einem Firmenbankrott um ihren Job fürchten; im ersten Halbjahr 2011 waren es 110.000 gewesen.

Und auch gemessen am Umsatz waren es zuletzt mehr größere Unternehmen, die in Nöte gerieten. Allen voran die Drogeriekette Schlecker. Aber es gab auch namhafte Pleiten in der Solarbranche und unter Autozuliefern. Sind das nun die Vorboten einer schlechteren Konjunktur? Droht etwa eine Insolvenzwelle? Nein, sagen Insolvenzverwalter, Auskunfteien und Wirtschaftsforscher. Viele Insolvenzen der jüngsten Zeit hätten firmenindividuelle oder branchenspezifische Ursachen. Deshalb sei die Entwicklung nicht symptomatisch für andere Wirtschaftsbereiche.

Runtergewirtschaftete Unternehmen

Sicher, Schlecker hat sich selbst ins Abseits manövriert. Am Ende war der Name so verbrannt und das Image so runtergewirtschaftet, dass auch Investoren abwinkten. Und für die deutsche Solarbranche, auch das ist eindeutig, ging es im Gleichschritt bergab - weil sie die Konkurrenz aus Asien unterschätzt hatte, zu wenig in Forschung investiert hatte und sich lange Zeit durch Subventionen in trügerischer Sicherheit gewogen hatte.

Die Tatsache, dass es zuletzt mehr Großinsolvenzen gab, hat auch mit einer Reform des Insolvenzrechts zu tun. Die seit März gültige Novelle ("Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen", ESUG) soll strauchelnden Firmen Anreize bieten, möglichst frühzeitig Insolvenz anzumelden. Denn seit Jahrzehnten verfahren Unternehmen in einer fortschreitenden Krise stets nach dem gleichen Handlungsmuster: den Insolvenzantrag auf jeden Fall vermeiden. Dahinter steht die Angst vor gesellschaftlichem und sozialem Abstieg. Noch immer gilt die Insolvenz als bürgerlicher Tod des Kaufmanns. Dabei sind die Aussichten für eine Sanierung sehr viel größer, wenn der Unternehmer nicht bis zuletzt versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist.

Das ESUG bietet gefährdeten Firmen die Möglichkeit, bis zu drei Monate unter einen Schutzschirm zu flüchten, wo sie vor dem Zugriff der Gläubiger sicher sind. In dieser Zeit sollen sie gemeinsam mit den Gläubigern einen Plan erarbeiten, der ihnen hilft, rasch zu gesunden. Gelingt die Sanierung, wird der Schirm aufgehoben, und die Insolvenz ist hinfällig. Scheitert die Sanierung, wird das Insolvenzverfahren angeordnet.

Das neue Gesetz war im März noch keine Woche in Kraft, da beantragte die Dura-Gruppe, die mit knapp 800 Mitarbeitern textile Bodenbeläge und Auto-Innenausstattungen produziert, ein Schutzschirmverfahren. Weitere, größere Firmen wie zuletzt die Schuhhandelsfirma Leiser folgten.

Insolvenzrechtler halten es für möglich, dass das ESUG die Sanierungskultur verändern könnte - hin zu dem Gedanken, dass die Insolvenz auch eine Option sein kann, eine Krise zu meistern. Das kann allerdings nicht so weit führen, ein Unternehmen auf jeden Fall erhalten zu wollen. Eine Firma zu retten, die nicht wettbewerbsfähig ist, macht keinen Sinn.

Schlecker war ein hoffnungsloser Fall

Hätte Schlecker eine Chance gehabt, wenn die Drogeriekette nicht im Januar, sondern im März Insolvenzantrag gestellt und so die Möglichkeiten des ESUG genutzt hätte? Wohl kaum. Denn dem Unternehmen fehlte die wichtigste Voraussetzung, um unter einem Gläubiger-Schutzschirm ein Sanierungskonzept zu erarbeiten: eine hinreichend große Aussicht, dass die Rettung gelingen kann. Das Geschäftsmodell war überholt, der Ruf ramponiert, und größere Assets gab es nicht. Zudem hatten Tausende Kündigungsschutzklagen möglichen Interessenten den Mut genommen, sich näher mit Schlecker zu beschäftigen.

Aber für andere Unternehmen, die über einen gesunden Kern verfügen und gut vorbereitet zum Insolvenzgericht marschieren, kann das ESUG die Rettungschancen vergrößern. Das wird sich rasch herumsprechen und die Anzahl der Insolvenzen kurzfristig steigen lassen. Bis zu 32.000 werden es in diesem Jahr sein, schätzt Creditreform.

Ein Alarmsignal ist das noch nicht. Denn das wären immer noch deutlich weniger als in den Jahren 2003 bis 2006. Damals brachen per anno zwischen 34.000 und 39.500 Firmen zusammen. Gleichwohl wird der Pensionssicherungsverein neue Lasten schultern müssen. Bezahlen muss das die gesamte Wirtschaft. Die Rechnung steckt im November im Briefkasten.

© SZ vom 05.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: