Inflation:Wenn Schokolade plötzlich weniger wiegt

Wie entsteht eigentlich die Inflationsrate? Unterwegs mit einer Statistik-Mitarbeiterin, die jeden Monat mehr als 1000 Preise erhebt - und manchmal feststellt, dass Hersteller auch bei den Mengen tricksen.

Von Harald Freiberger

Wo haben sie den Rheinhessen-Wein wieder hin? Angela Prieler, 54, läuft mit einem dicken Leitz-Ordner vor dem Regal eines Münchner Verbrauchermarkts hin und her. Sie sucht den "Erben halbtrocken, 0,7 Liter", so wie es auf der aufgeschlagenen Seite steht. Unter dem Schild "Rheinhessen" ist er nicht zu finden. Vielleicht bei Rheingau? Nein. Nahe? Auch nicht. Da, endlich, unter Mosel hat er sich versteckt, ist wohl rübergerutscht. Prieler prüft auf dem Etikett, ob die Menge noch stimmt, dann trägt sie den Preis ein: 4,29 Euro, so viel wie auch in den Monaten davor.

Am "Erben halbtrocken" liegt es also nicht, dass die Inflation so zugelegt hat. Im März waren es 1,6 Prozent, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag bekannt gab (siehe Kasten). Nach Jahren stagnierender und sogar fallender Preise ist Inflation auf einmal wieder ein Thema.

Wer Angela Prieler durch die Regalreihen des Verbrauchermarkts begleitet, kann erleben, wie so eine Inflationsrate zustande kommt. Sie ist beim Statistischen Amt der Stadt München angestellt und erhebt jeden Monat mit vier Kollegen etwa 6000 Preise bei 600 Supermärkten, Wirtshäusern, Friseuren, Kinos oder Tankstellen. In ganz Deutschland gibt es 600 solche Beschäftigte, die meisten machen es nebenberuflich. Sie stellen gut 300 000 einzelne Preise fest.

Mehr als 1000 Preise notiert allein Prieler, stets zwischen dem 12. und dem 20. eines Monats. "Wir melden uns immer in den Läden an und führen dann unsere Erhebungen selbständig durch", sagt sie. Die Betreiber hätten damit in der Regel kein Problem. Nur selten muss sie klarstellen, dass sie im amtlichen Auftrag handelt und die Erhebung notfalls auch anordnen kann.

Schließlich spielt die Inflationsrate eine zentrale Rolle für das wirtschaftliche Leben: Nicht nur Zinsen und Geldpolitik der Zentralbank orientieren sich an der Preissteigerung, auch Miet- oder Versicherungsverträge. Sie ist auch wichtig, um zu ermitteln, wie stark eine Volkswirtschaft wirklich gewachsen ist, ohne Inflation.

Inflation: Was kosten Nudeln? Preisermittlerin Angela Prieler kontrolliert, ob die Menge noch stimmt. Den Preis trägt sie in ihr Tablet ein. Die monatliche Inflationsrate entsteht aus 300 000 solcher Einzelpreise.

Was kosten Nudeln? Preisermittlerin Angela Prieler kontrolliert, ob die Menge noch stimmt. Den Preis trägt sie in ihr Tablet ein. Die monatliche Inflationsrate entsteht aus 300 000 solcher Einzelpreise.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

An diesem Märztag muss Prieler weit mehr Preise notieren als sonst, weil sie die urlaubende Kollegin vertritt, die für Lebensmittel zuständig ist. Deshalb hat sie wie früher auch einen dicken Ordner dabei. Die Preise der Produkte, für die sie eigentlich zuständig ist, Elektrogeräte und andere Haushaltsartikel, trägt sie seit einem Jahr in ein Tablet ein. Die Digitalisierung hat ihre Arbeit buchstäblich erleichtert.

Um die Ecke das Regal mit den Spirituosen: Jim Beam, 1 Liter, 40 Prozent Alkohol, 18,99 Euro, Dolomiti Zirbenlikör, 0,5 Liter, 10,99 Euro - beides genauso teuer wie im Vormonat. Beim Chantré, 0,7 Liter, aber hat sich was getan: Er kostet 7,49 Euro, 50 Cent mehr. Eigentlich sind bei Schnaps Preisveränderungen selten, ist Prielers Erfahrung. Beim Wein schwankt der Preis eher mal, weil die Ernte unterschiedlich ausfällt.

Fällt es ihr auf, dass die Inflation angezogen hat, wenn sie durch die Regalreihen geht? "Eigentlich nicht", sagt sie, denn Haushaltsartikel und Lebensmittel hätten sich kaum verteuert. Nur bei Salat und Gemüse ist es wegen Missernten in Spanien spürbar. Der größte Preistreiber aber ist Energie: An Tankstellen stellt sie die größten Unterschiede zum Vorjahresmonat fest.

Benzin hat ein Gewicht von vier Prozent im Warenkorb. Dieser wird alle fünf Jahre ermittelt, indem 60 000 Haushalte über längere Zeit genau aufschreiben, wofür sie ihr Geld ausgeben. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden erstellt daraus ein Schema, das festlegt, wie rund 500 Produkte und Dienstleistungen gewichtet werden: Bei der Miete sind es derzeit 21 Prozent, bei Bier ein Prozent, bei Fleisch zwei Prozent.

Angela Prieler setzt die Vorgaben an der Basis um. Die Waren hat sie in ihrem Tablet so sortiert, dass sie keinen Umweg laufen muss. "Steht ein Produkt aber nicht an seinem Platz oder wird im Laden umgeräumt, muss ich suchen", sagt sie. Manchmal gestaltet sich das schwierig: Bonduelle-Gemüse etwa steht eigentlich in einem eigenen Regal, nur die Champignons von Bonduelle stehen bei den Champignons anderer Marken. Nicht alle Vorschriften aus Wiesbaden lassen sich leicht umsetzen: Prieler tut sich mit "zubereitetem Hackfleisch" schwer, das in Bayern kaum verbreitet ist, auch "Kernobstbrand" führt nicht jeder Laden.

1,6 Prozent

Die Inflationsrate in Deutschland ging im März deutlich zurück: Die Preise stiegen laut Statistischem Bundesamt gegenüber dem Vorjahresmonat nur noch um 1,6 Prozent. Im Februar waren es noch 2,2 Prozent gewesen, der höchste Wert seit 2012. Ursache waren vor allem die Energiepreise, die statt vorher um sieben nur noch um fünf Prozent stiegen. Auch bei Nahrungsmitteln ebbte der Preisauftrieb ab. Die niedrigere Inflationsrate nimmt Druck von der Europäischen Zentralbank. Die Forderungen, die Zinsen zu erhöhen, waren zuletzt lauter geworden. "Diese Aufregung wird sich jetzt legen", sagte Carsten Brzeski, Chefvolkswirt von ING-Diba. SZ

Das Bundesamt gibt nur die Produktkategorie vor. "Das konkrete Produkt oder die Marke wählen wir selber vor Ort aus und beobachten es dann über einen möglichst langen Zeitraum", sagt Prieler. Sie selbst macht den Job seit 2006. Die Preise einiger ihrer Produkte kann sie im Schlaf herunterbeten: Der "Eierkocher Krups Trio" kostet 31,90 Euro, das Fünf-Meter-Verlängerungskabel 8,29 Euro. "Das ist seit Jahren gleich, da tut sich nichts", sagt sie.

Viel Bewegung gibt es dagegen seit einiger Zeit bei Schokolade. Die 100-Gramm-Tafel ist im Warenkorb mit 1,29 Promille gewichtet, also mit gut einem Tausendstel. Bundesweit werden allein 700 einzelne Schokoladenpreise erhoben, davon 16 in München - und einer im Verbrauchermarkt von Angela Prieler.

Schokolade ist für Statistiker besonders interessant. Sie zählt zu den Ankerprodukten, deren Preise viele Bundesbürger auswendig kennen, ähnlich wie bei Milch oder Butter. Deshalb ist der Preis im Einzelhandel umkämpft. Über Jahrzehnte kostete die Tafel immer knapp eine D-Mark - die Läden trauten sich diese Schwelle nicht zu überschreiten, aus Angst, dann Kunden zu verlieren. Erst mit Einführung des Euro ging es nach oben. Inzwischen liegt der Preis meist bei 1,09 oder 1,19 Euro. "Aber es gibt häufig auch Sonderaktionen mit günstigeren Preisen", sagt Prieler. Diese vermerkt sie gesondert, sie fließen auch gesondert in die Berechnung der Inflationsrate ein.

Nicht nur der Preis schwankt bei Schokolade neuerdings. "Wir müssen auch auf Änderungen bei Menge und Qualität achten", sagt Prieler. Ein Hersteller habe vor einiger Zeit die 83-Gramm-Tafel eingeführt - zum selben Preis wie vorher 100 Gramm. Es gibt auch Windel-Packungen, die auf einmal zwei Stück weniger enthalten. "Da man eine Änderung oft nicht auf den ersten Blick erkennt, muss man immer genau hinschauen", sagt sie. Enthält die Packung Windeln statt 100 nur noch 98 Stück, vermerkt sie eine Preiserhöhung um zwei Prozent.

Hat sie es in den elf Jahren, in denen sie mehr als hunderttausend Preise aufgeschrieben hat, schon einmal umgekehrt erlebt: dass der Preis bleibt und die Menge sich erhöht? Angela Prieler überlegt einen Moment, dann sagt sie: "Eigentlich nicht."

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