Inflation gegen die Krise:Mehr Geld!

Zoll-Bilanz 2011

Vieles wird in der heutigen Krise debattiert, nur die Inflation nicht.

(Foto: dpa)

Mit Inflation ist zwar nicht zu spaßen, doch die Angst vor ihr ist übertrieben. Moderate Geldentwertung wäre der beste Weg, die Länder Südeuropas zu entlasten und zu stabilisieren. Wäre da nicht Angela Merkel und ihre "Alternativlosigkeit".

Ein Gastbeitrag von Adam Tooze

Der Autor ist Historiker an der Yale University. Zuletzt erschien von ihm das Buch "The Wages of Destruction: The Making and Breaking of the Nazi Economy" (Allen Lane, London).

"Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit", dazu bekannte sich Helmut Schmidt im Juli 1972 vor Ruhrkumpeln in der Dortmunder Westfalenhalle. Ein Statement, das aus Sicht von Ökonomen heute veraltet ist. Spätestens seit Margaret Thatcher und ihrem berühmten Slogan "There is no alternative" wissen wir es besser. Man kann Inflation nicht gegen Arbeitslosigkeit tauschen. Aber im Zeitalter der von Angela Merkel erneut propagierten "Alternativlosigkeit" stimmt Schmidts Kraftwort nachdenklich. Denn für heutige Ohren sind seine Zahlen und ihre Wertung schon erstaunlich: Heute würden fünf Prozent Arbeitslosigkeit auf Europa-Ebene als reine Utopie erscheinen. Fünf Prozent Inflation dagegen wären eine Katastrophe.

Was außerdem frappiert, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Schmidt dies als Alternative hinstellte. Eine Alternative, über die man damals unter vernünftigen Leuten nachdenken und sprechen konnte. Dass dahinter vielleicht eine nicht mehr haltbare makroökonomische Theorie stand, ist nicht der Punkt. Was erstaunt, ist, dass hier keine "Alternativlosigkeit", sondern eine Entscheidungssituation postuliert wurde, und dass ein deutscher Spitzenpolitiker sich offen für eine maßvolle Inflation aussprach.

Dieses Echo aus einer längst verlorenen Welt sollte uns betroffen machen. Und dass diese Welt so fern und doch so nah ist, sollte die Wirkung nur intensiver machen. Volkswirte werden uns sagen, dass es keinen Grund gibt, diesen Zeiten nachzutrauern. Der unterstellte Trade-Off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, der von der berühmten Phillips-Kurve im fallenden Bogen schwungvoll nachgezeichnet wird, galt nicht für die Ewigkeit. In den Siebzigerjahren führte der Versuch, nach Schmidtscher Manier das eine gegen das andere auszutarieren, in die berüchtigte Stagflation - es gab mehr Inflation, aber nicht weniger Arbeitslosigkeit. Statt mit einer stabilen Alternative sah sich die Politik mit einer sich beschleunigenden Inflationsspirale konfrontiert.

Die Gegenwart, so heißt es, hat daraus die Lehren gezogen. Vieles wird in der heutigen Krise debattiert, nur die Inflation nicht. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ein einseitiges Anti-Inflationsmandat. Der fiskalpolitische Konservatismus ist per Schuldenbremse in der Berliner Verfassung festgeschrieben und soll nun ganz Europa verordnet werden. Wir befinden uns in einer anderen Realität als Schmidt im Sommer 1972. Darum stellt sich also die Frage: Wann begann dieses heutige Denken, wann fing unsere Gegenwart an? Wie sind wir hierhergekommen?

Die Geschichte, die sich die Zentralbankiers und ihre intellektuellen Vasallen bis vor fünf Jahren noch erzählten, war die eines Bildungsromans. Man hatte aus der Politik der Siebzigerjahre und ihren Konsequenzen gelernt. Die "Great Moderation", das Ende der Inflation, wurde durch die neue Lehre der Zentralbankautonomie eingeläutet. Unabhängige Experten etablierten eine neue Ära der Stabilisierung durch zielstrebige und glaubwürdige Politik.

Aber die Rede von der Great Moderation war verharmlosend. Zeitgleich mit dem Anfang der Krise des Kommunismus und dem Zusammenbruch der autoritären Regime in Lateinamerika fand auf beiden Seiten des Atlantiks zwischen 1978 und 1984 ein harter politischer Machtkampf um die Bedingungen der Stabilisierung statt. In den Bergwerksrevieren von England und Wales wurde er in Straßenschlachten ausgefochten. Aber auch in den Zentren der Macht ging es hart zu. Es war eine internationale wie auch nationale Auseinandersetzung. Margaret Thatcher und Ronald Reagan mögen ihre Schocktherapien auf nationaler Ebene angewendet haben, zwischen Deutschland und Frankreich ging es europäisch zu.

1979 ersetzte man das Festwährungssystem von Bretton Woods durch das Europäische Währungssystem (EWS). Aber was aus dieser währungspolitischen Zusammenarbeit zwischen den Ländern der Europäischen Gemeinschaft werden sollte, stand zunächst noch nicht fest. Die Bundesbanker befürchteten zunächst eine Europäische Inflationsgemeinschaft. Erst 1981, im dreiseitigen Machtkampf zwischen Helmut Schmidt, der sozialistischen Regierung Mitterrands und den Zentralbanken von Deutschland und Frankreich, fiel endgültig die Entscheidung. Europa sollte zur Niedriginflationszone werden.

Stabile Preise helfen dem Wachstum nicht

Das Ergebnis war eine fatale Schwächung der sozialliberalen Koalition in Bonn und die Demütigung Mitterrands. Im Frühjahr 1983 verließen die Kommunisten zum ersten und letzten Mal die französische Regierung, und Paris schwenkte voll auf den Austeritätskurs ein. Der Wert des französischen Franc gegenüber der Deutschen Mark musste mit allen Mitteln gehalten werden. Die Ära des "Franc fort", des "starken Franc" begann. Am Anfang der Great Moderation stand also erst einmal diese Niederlage der Linken.

Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die in den Neunzigerjahren als neoliberaler "Washington Consensus" berühmt werden sollten, hatten europäische wie amerikanische Väter. Sie wurden untermauert durch die Maastrichter Verträge, die Währungsunion mit dem Ziel einer Null-Inflation und - das war die wichtigste Weichenstellung - die Liberalisierung des Kapitalverkehrs.

Gerade diese letzte fundamentale Befreiung des Geldes war, so unwahrscheinlich es klingt, ein Projekt von enttäuschten französischen Sozialisten, Männern wie Jacques Delors und Michel Camdessus, die Anfang der Achtzigerjahre die Krise von Mitterrands Koalition mitgemacht hatten und bis in die Neunzigerjahre hinein in Brüssel, im IWF und im OECD an leitenden Stellen saßen. Die antiinflationäre Politik hatte nicht nur gesiegt, sie war nun fest verankert. Wer nicht glaubwürdig war, dem drohte der Vertrauensentzug der Bondmärkte. Die Märkte sorgten für Disziplin, so die Lebenslüge der neuen Ordnung.

Die wahrhaft katastrophalen Folgen dieser Lebenslüge sollte man eine Generation später zu spüren bekommen. Aber was waren denn damals die realwirtschaftlichen Ergebnisse des Sieges über die Inflation? Die wirtschaftliche Unordnung der Siebzigerjahre ist mittlerweile fast sprichwörtlich. Die Wiederherstellung der Ordnung war zwar unbestreitbar, der wirtschaftliche Gewinn daraus dagegen viel weniger. Nach dem Jahrzehnt von 1973 bis 1983 ist wohl wahr, dass man mit höherer Inflation nicht weniger Arbeitslosigkeit erkaufen konnte.

Ebenso wenig gibt es aber Grund zu glauben, dass die erzwungene Preisstabilität wachstumsfördernd war. Eher im Gegenteil. Das Wirtschaftswunder war in der Bundesrepublik 1973 erledigt, das Wachstum danach mittelmäßig. Inflationsfalken lassen sich dadurch aber nicht stören. Für sie war das Ende der Inflation den Preis wert. Aber warum? Gäbe es vielleicht Gründe, einen anderen Weg vorzuziehen?

Inflation spielt zentrale Rolle bei Umverteilung

Wir sind heute mit einem riesigen Überhang an nominellen Schulden konfrontiert. Konsolidierung lautet daher das Schlagwort. Aber der Versuch, solche Schulden bei stabilen Preisen abzutragen, ist historisch naiv. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es keinen gelungenen Versuch dieser Art. Immer hat Inflation eine zentrale Rolle gespielt bei der Umverteilung der Lasten und der Schaffung von Verteilungsspielräumen. Manchmal, wie in den Siegerstaaten Großbritannien und USA nach dem Zweiten Weltkrieg, ging das geräuschlos vonstatten. Manchmal, wie in den schnell wachsenden Verliererstaaten nach 1945, bedeutet die Entwertung einen Kahlschlag.

In unserer heutigen Lage kann es keinen Zweifel geben: Ein robustes Wachstum im nominellen Einkommen, auch wenn ein Großteil in inflationärer Form stattfindet, ist der Schlüssel zur finanziellen Entlastung und zur politischen Stabilisierung der Schuldnerländer im europäischen Süden.

Die Frage lautet jetzt: wie? Es gibt zwei Szenarien. Die technokratische Version setzt auf die Gewinner der Achtzigerjahre. Die führenden Zentralbanken sollen einfach höhere Inflationsziele setzen. Und es gibt patriotische Ökonomen in Deutschland, die fürchten, dass genau dieses Szenario einer gesteuerten Geldentwertung tatsächlich auf dem Plan stehe. In den Händen von Draghi und anderen sei der Euro nicht sicher. Es ist nicht zu leugnen, dass man in den Schaltzentralen der Macht in Washington, London und Tokio offen über höhere Inflationsziele redet. Olivier Blanchard, der Chef-Ökonom des IWF, plädiert schon seit 2010 für vier Prozent Inflation.

Aber geht das? Kann man eine moderate Inflation gezielt herbeiführen? Es gibt Skeptiker auf allen Seiten. Schön wäre es, sagen die Keynesianer. Die Banken schwimmen im Geld, aber die Preise regen sich nicht. Wo sollen die Inflationsimpulse dann herkommen? Der Weg zur Stimulierung durch die Fiskalpolitik ist in Amerika durch den Kongress, in Europa durch Berlin versperrt. Vielleicht kommen von den überhitzten Zentren der deutschen Exportindustrie noch Impulse zur Lohnerhöhung? Vielleicht muss man warten, bis sich die Investitionstätigkeit wieder belebt.

Für die Verteidiger der alten neuen Ordnung sind solche Diskussionen ein wiederkehrender Albtraum. Zu glauben, dass die Inflation gesteuert werden könne, war die fatale Illusion der Siebzigerjahre. Selbst eine leichte Inflation gerät schnell außer Kontrolle. Das ist aus konservativer Perspektive konsequent gedacht, aber für die demokratische Linke sollte es das Umgekehrte implizieren.

Konservative fürchten Repolitisierung der Wirtschaft

Wovor sich die Konservativen fürchten, ist doch gerade die viel beschworene Repolitisierung der Wirtschaft, die Möglichkeit, dass die Verteilungsfrage neu gestellt werden könnte.

Der Niedergang der Gewerkschaften ist ohne Zweifel zum großen Teil strukturell bedingt durch die neue globale Arbeitsteilung. Aber es gibt darin auch einen konjunkturellen Aspekt. Die Demobilisierung in den Achtzigerjahren ging mit der Deflation einher. Umgekehrt gibt es jedoch kein historisches Beispiel einer anhaltenden Inflation, in der es nicht zu einem aktiven Verteilungskampf kam. Wer der klassischen Arbeiterbewegung nachtrauert, sollte sich daran erinnern, dass sie neben der klassischen Industrie auch etwas mit den klassischen Inflationen zu tun hatte. Alle Phasen ihrer Ausweitung und Militanz - Ende des 19. Jahrhunderts, um die beiden Weltkriege herum, in den Siebzigern - waren Zeiten epochaler Inflation.

Inflationen erzeugen Konflikte, das macht ihre Dynamik aus. Mit ihnen ist nicht zu spaßen, nicht selten ist Gewalt im Spiel, auf allen Seiten. Aber unter heutigen Bedingungen kann man nicht behaupten, dass der Sieg über die Inflation Sicherheit böte. Der heutigen europäischen Linken, der deutschen an erster Stelle, möchte man in Abwandlung von Horkheimers Kapitalismus-Faschismus-Formulierung sagen: Wer aber von Inflationskämpfen nicht reden will, sollte auch von Schuldenschnitten und einer neuen Politik der Gerechtigkeit schweigen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: