Indien:Ein Konto für die Verstoßenen

Indien: Ein Teehersteller macht in der indischen Metropole Mumbai Werbung mit Premier Narendra Modi.

Ein Teehersteller macht in der indischen Metropole Mumbai Werbung mit Premier Narendra Modi.

(Foto: Indranil Mukherjee/afp)

In Indien nehmen sich Bauern das Leben. Weil ihnen die Banken keinen Kredit geben, zahlen sie dubiosen Geldverleihern immense Zinsen. Premier Narendra Modi will das ändern.

Von Tobias Matern

Der Premier wählt die große historische Reminiszenz. "Mahatma Gandhi hat versucht, die Unberührbarkeit in der Gesellschaft zu beenden", sagt Indiens neuer Regierungschef Narendra Modi. Das wolle er nun auch angehen, auf einem ganz bestimmten Gebiet: Die "finanzielle Unberührbarkeit" solle ausgerottet werden. Nahezu jeder Inder soll ein Bankkonto erhalten, kündigt der Hindu-Nationalist an, der nun seit gut 100 Tagen im Amt ist. Seinem Milliardenvolk verspricht er, lange liegen gebliebene Reformen endlich anzupacken. Und dazu gehört für ihn ein Programm, das auch den Ärmsten der Armen ein Konto bescheren soll.

Vor allem die Landbevölkerung soll die hart erarbeiteten Rupien geregelt sparen können und an Kredite zu fairen Konditionen kommen. Modi fragte in seiner Rede zum indischen Unabhängigkeitstag: "Warum nehmen sich unsere Bauern das Leben", um sofort selbst die Antwort zu geben: "Weil sie Geld von dubiosen Geldverleihern nehmen müssen und dafür immense Zinsen zahlen." Modis Konto-Pläne kämen einer Revolution gleich für den ländlichen Teil Indiens, der im Zuge des urbanen Wirtschaftsbooms der vergangenen beiden Jahrzehnte leicht in Vergessenheit gerät, aber nach wie vor die Mehrheit des Landes ausmacht.

Vor was für einer Herausforderung Modi hier steht, verdeutlich ein Blick auf die Zahlen: Von Indiens 247 Millionen Haushalten haben nur etwa 145 Millionen ein Bankkonto. Und 73 Prozent der indischen Bauern haben nach Angaben der Weltbank keinen Zugang zu geregelten Krediten: Sie sind Kredithaien ausgeliefert.

Das Kastenwesen ist offiziell abgeschafft, bestimmt aber noch die Gesellschaft

Modi beweist ein Gespür für ein drängendes soziales Thema mit seinen Kontoplänen. Die "Unberührbaren", auf die er sich in seiner Rede bezieht, stehen am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie. Sie sind Ausgestoßene: Es gilt nicht nur als unrein, sie zu berühren, sondern sich überhaupt mit ihnen abzugeben.

Zwar ist das Kastenwesen auf dem Subkontinent offiziell abgeschafft, aber noch immer bestimmt es das gesellschaftliche Denken und Handeln. Auch in der Wirtschaftspolitik. Modi versucht dies gar nicht zu leugnen, er wählt eine offensive Strategie: Fehler benennen, ein Programm verschreiben. Er will durchregieren, den Macher geben, so wie er bereits im indischen Bundesstaat Gujarat der wirtschaftliche Macher war.

Aber lässt sich das Modell Gujarat auf das große, chaotische Land mit seinen 1,2 Milliarden Menschen übertragen? "Er hat definitiv die Mehrheiten im Parlament, um viele seine Reformvorhaben durchzudrücken", sagt Pranay Sharma, leitender Redakteur beim indischen Wochenmagazin Outlook. Aber ein großes Problem sieht der Experte in der in vielen Bereichen noch maroden Infrastruktur des Landes. Um sie zu verbessern, ist Modi auf die Zusammenarbeit mit den Bundesstaaten angewiesen, er braucht regionale Genehmigungen und Kooperationen. "Daher wird es sehr stark darauf ankommen, wie er die verschiedenen Parteien und lokalen Regierungen mit an Bord nimmt", sagt Sharma.

Modi muss beweisen, dass er ein Versöhner sein kann

Auf Zusammenarbeit war Modi bislang nicht angewiesen in seiner Zeit als lokaler Fürst, auch wird seine BJP-Partei gerade von muslimischen und christlichen Minderheiten argwöhnisch beäugt - propagiert sie doch eine hindu-nationalistische Ausrichtung. Ob Modi hier den moderierenden Versöhner geben kann, muss er erst noch unter Beweis stellen.

Das Schwellenland Indien ist zudem auf regelmäßig hohe Wachstumsraten angewiesen, um mehr und mehr Menschen das Tor zur Mittelschicht zu eröffnen. Unter der Regierung des ehemaligen Premier Manmohan Singh hatte Indien sich weit entfernt von einer gewohnten Zuwachsrate, die um die acht Prozent lag. In den ersten Amtsmonaten unter Modi, dem zweiten Quartal 2014, hat sich der Wert nun bei 5,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum eingefunden. Immerhin ein Wert, der deutlich nach oben zeigt. Auch beginnt sich die Landeswährung zu erholen, nachdem die Rupie dramatisch an Wert eingebüßt hatte.

Die Potenziale des Landes sind unbestritten. Dennoch zögern viele Investoren

"Die Wahrnehmung ausländischer Investoren über Indien ändert sich", sieht der Chef der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB), Takehiko Nakao, im Gespräch mit der Times of India erste Zeichen der Besserung. Denn gerade ausländische Investoren waren in der Vergangenheit häufig zögerlich. Indiens Potenziale sind zwar unbestritten, eine überbordende Bürokratie gepaart mit grassierender Korruption hat aber zahlreiche Geschäfte verhindert. Nakao möchte daher lieber auch noch nicht von einer neuen Indien-Euphorie sprechen: "Manchmal hat Indien gerade diese vorhandenen Erwartungen enttäuscht, weil Entscheidungen zum Geschäftemachen so langsam beschlossen worden sind", sagt er.

Mit einem der massivsten Probleme der indischen Wirtschaft wird auch der neue Premier gleich zu Beginn seiner Amtszeit konfrontiert: Die Engpässe im Bereich der Energieversorgung. Indische Medien warnten am Wochenende, dass die Reserven der Kohlekraftwerke auf den niedrigsten Stand seit Mitte des Jahres 2012 gefallen seien, das ist eine alarmierende Entwicklung. Damals war es zu einem Blackout gekommen, der das halbe Land traf. Nun sind die Kohlereserven der Kraftwerke wieder nahezu aufgebraucht. Die Industrie leidet unter Zahlungsrückständen, die Regierung Modi lehnt aber eine finanzielle Unterstützung ab, wie Finanzminister Piyush Goyal noch einmal betont hat.

Hunderte Millionen Arme, zu geringe Wachstumsraten, hohe Inflationsraten, dazu jahrelang aufgeschobene Reformprojekte der Vorgänger-Regierung: Modis Aufgaben sind gigantisch. Viel Zeit bleibt dem Mann indes nicht, auch wenn er gerade einmal gut 100 Tage im Amt ist. Die vielen Menschen, die für Modi gestimmt haben, vor allem die junge Bevölkerung, könne schnell unruhig werden, wenn ihnen der neue Regierungschef nicht zügig eine Perspektive biete, sagt der Experte Sharma. "Wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen in Indien inzwischen auf jeder gesellschaftlichen Stufe hoffen, die nächst höhere Stufe zu erklimmen", sagt Sharma. Der Unmut der Basis ist inzwischen schnell auch in Delhi zu spüren.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: