Indianer und die US-Justiz:Das Ende der Bescheidenheit

Vor 150 Jahren zahlten weiße Siedler den Ureinwohnern für Long Island 25 Dollar - nun verlangen die Shinnecocks Schadensersatz in Milliardenhöhe.

Andreas Oldag

Charles Smith steht da wie ein Denkmal. Der Umhang hängt schwer über seinen Schultern. Er ist zusammengesetzt aus Tausenden kleinen schwarzen und weißen Perlen, die ein gezacktes Muster bilden.

Wie Epauletten einer Uniform sind links und rechts lange Adlerfedern angebracht - die Symbole eines Häuptlings. Der 42-Jährige blinzelt in die Sonne. Er hebt seine kräftigen, braungebrannten Arme und beschreibt mit den Händen einen Halbkreis.

"Das ist unser Land. Hier hat unser Volk seit Tausenden von Jahren gewohnt. Wir wollen Gerechtigkeit", sagt Smith mit sonorer Stimme. Hinter ihm ist rhythmisches Trommeln zu hören.

Powwow und Long Island

Auf einer großen Freilichtbühne stampfen bunt gekleidete Männer und Frauen mit den Füßen. Sie trommeln und tanzen für ihr Land: Die Indianer des Shinnecock-Stammes auf Long Island, die sich zu einem "Powwow", einer großen Versammlung, getroffen haben, um über ihre Zukunft zu beraten.

"Wir sind Amerikaner. Wir wollen aber auch das Land unserer Vorväter zurück", ruft Smith. Die Trommler auf der Bühne steigern sich zu einem wilden Stakkato. Den Musikern rinnt der Schweiß. Der Boden bebt.

In einer der größten Klagen, die je ein Indianerstamm gegen den amerikanischen Staat angestrengt hat, wollen die Shinnecocks große Teile von Long Island zurückhaben, jener 190 Kilometer langen, der Stadt New York vorgelagerten Insel, in der sie einst als Ureinwohner siedelten und dann von den weißen Siedlern verdrängt wurden.

Die Klage, die bald bei einem Gericht im Bundesstaat New York eingereicht werden soll, mag skurril erscheinen. Denn es ist schwer vorstellbar, dass die Shinnecocks auf der mondänen Insel, wo New Yorker ihre Wochenend-Chalets haben, bald wieder ungehindert auf die Pirsch gehen.

Ohnehin geht es den Indianern vor allem um Schadensersatz für erlittenes Unrecht, um viel Geld. Die Rede ist von mindestens 1,7 Milliarden Dollar. Die Shinnecocks sind kühle Rechner: Sie wollen mit einer möglichst hohen Entschädigung ein Spielcasino bauen. Finanziert wird die Klage von reichen Casino- und Immobilien-Investoren aus Detroit.

Der Shinnecock-Fall ist nichts Ungewöhnliches. Die USA sind das Land der Klagen: Amerikaner, die sich ungerecht behandelt fühlen, sei es am Arbeitsplatz, im Restaurant oder wegen ihrer Hautfarbe, ihres Alters oder Geschlechts, ziehen vor Gericht. Es geht ums Rechthaben, meistens aber ums Geld. Denn im Gegensatz zum deutschen Recht erlaubt das amerikanische praktisch unbegrenzt hohe Schadensersatzsummen.

Wie ein Würfelspiel

In keinem Land der Welt wird so eifrig und verbissen vor Gericht gestritten wie in den USA. Eine Million Rechtsanwälte buhlen um Klienten. Legendär ist das Beispiel des US-Familienvaters Andrew Allocco, dem eine Kellnerin bei einem Frühstück in Disneyworld in Orlando/Florida eine Tasse brühheißen Kaffee zwischen die Beine kippte. Das Missgeschick brachte dem 33-Jährigen, der prompt vor Gericht auf Schadensersatz klagte, 670.000 Dollar ein.

Besonders teuer wird es für beklagte Unternehmen, wenn sich viele Kläger zu so genannten Sammelklagen (class action suits) verbünden. Nach Schätzungen von Experten kostet das großzügige Schadensersatzrecht die US-Wirtschaft jedes Jahr 250 Milliarden Dollar.

Für die Unternehmen kann es dabei um Sein oder Nicht-Sein gehen. So sind wegen hoher Schadensersatzzahlungen im Zusammenhang mit Asbest-Klagen in den USA bereits 70 Unternehmen in die Pleite getrieben worden. Mehr als 50 000 Arbeitsplätze gingen verloren.

Schadensersatzklagen basieren auf angelsächsischen Rechtsprinzipien. Der Ausgang der Prozesse gleicht einem Würfelspiel. Geschworene, die sich oft in Szene setzen wollen und von komplizierten juristischen Sachverhalten nichts verstehen, entscheiden über Schuld und Unschuld.

Das ist auch die Stunde trickreich agierender Klägeranwälte, die alles versuchen, um die Geschworenen auf ihre Seite zu ziehen. "Das Ganze hat oftmals mehr mit einer perfekt inszenierten Show zu tun", räumt der New Yorker Anwalt Thomas Elin ein.

Kein Zufall, dass sich die Kläger gerne an Provinz-Gerichte in abgelegenen Bundesstaaten wenden, weil die dortigen Richter als voreingenommen gelten, wenn es darum geht, den reichen "Yankee"-Eliten an der Ostküste ein Geschäft zu vermasseln.

Der US-Nahrungsmittel-Multi Altria, zu dem der Zigarettenhersteller Philip Morris gehört, hat da leidvolle Erfahrungen gemacht: Ein Gericht in Illinois verdonnerte die Marlboro-Firma vor zwei Jahren zur Zahlung einer Kaution von zwölf Milliarden Dollar.

Dem New Yorker Konzern wurde vorgeworfen, in seiner Werbung die Gefahren von "Light"-Zigaretten heruntergespielt zu haben. Zwar wurde die Summe später verringert, weil der weltgrößte Zigarettenhersteller andernfalls vor der Pleite gestanden hätte. Philip Morris ist nach wie vor ein Hauptgegner der Anti-Raucher-Kampagne. Er wird aber zugleich von klagenden Rauchern zusehends als eine Art Melkkuh betrachtet.

Zwar hat der US-Kongress vor kurzem auf Betreiben der Regierung eine Reform der Sammelklagen beschlossen. Klagen mit mehr als 100 Klägern und einer geforderten Summe von mehr als fünf Millionen Dollar müssen nun von einem Bundesgericht verhandelt werden. So will Washington die Rechtsprechung vereinheitlichen und vor allem verhindern, dass sich Anwälte klägerfreundliche Bezirksgerichte aussuchen. Doch Experten fragen sich skeptisch, ob das die Klageflut tatsächlich eindämmt.

Eine Eigenart des amerikanischen Rechts sind so genannte Strafentschädigungen (punitive damages). So kann eine Jury Klägern ein Vielfaches der tatsächlichen Schadenssumme zugestehen, um den Beklagten von einem zukünftigen Fehlverhalten abzuschrecken. Doch wer kassiert das Geld? Im Prozess-Rodeo sind Anwälte immer die Gewinner.

Gerade die Asbest-Verfahren haben sich für den Berufsstand als Goldgrube erwiesen. In den vergangenen Jahren verdienten Amerikas Rechtsvertreter durch Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit dem krebserregenden Isolierstoff, der inzwischen verboten ist, zehn Milliarden Dollar an Honoraren. Ihre Mandanten mussten sich mit weniger zufrieden geben: Sie erhielten von jedem Dollar Schadensersatz gerade 39 Cent.

Über ein millionenschweres Honorar wird sich auch der neue Star der Anwaltsszene, Mark Lanier, freuen können. Er überzeugte die Jury eines Gerichts in Houston, Texas, davon, den Pharmagiganten Merck zur Zahlung von 253 Millionen Dollar zu verpflichten. Lanier vertrat die Witwe eines 59-jährigen Marathonläufers, der im Jahr 2001 nach achtmonatiger Einnahme des Schmerzmittels Vioxx, das mittlerweile vom Markt genommen ist, gestorben war. Trotz dürftiger Beweise, gelang es Lanier, die Geschworenen auf seine Seite zu ziehen.

"Es gibt Zeiten und Gelegenheiten, und dieses ist eine, wenn Sie eine Chance haben, ihre Meinung zu sagen", appellierte er an das Ego der Laienrichter. Prozessbeobachter behaupten sogar, Lanier habe den Jury-Mitgliedern versprochen, nach einem Urteil gegen Merck von der berühmten TV-Talk-Masterin Oprah Winfrey eingeladen zu werden. "Gott hat seine Macht gezeigt", erklärte der 44-jährige Jurist und Baptisten-Laienprediger nach dem spektakulären Prozess vor 300 Gläubigen in Texas.

Trickreich vertrieben

Im Land der Klagen haben nun auch die Ureinwohner die Macht der Gerichte entdeckt, um ihre Rechte einzufordern. Das Problem des Shinnecock-Falls: Es sind nicht irgendwelche unbewohnten Dünen, welche die Ureinwohner beanspruchen, sondern ausgerechnet die Luxusresorts und Wochenendheime von schwerreichen New Yorkern, die sich in der Gegend der Stadt Southampton niedergelassen haben.

Das Ganze sei eine "Erpressung" von ein paar verrückten Indianern, giftete das Boulevardblatt New York Post. Nun werde das "Kriegsbeil" ausgegraben, befürchtet die Internet-Zeitung HamptonsView.com. Zumindest macht sich hinter den akkurat geschnittenen Hecken der Luxusvillen Unruhe breit.

Ein Prozess dauert zwar Jahre. Und auch ein Entschädigung müsste wahrscheinlich der Staat zahlen. Doch die betuchten Bewohner befürchten, dass durch den Bau eines Spielcasinos ihre Idylle zerstört werden würde.

Es ist der diskrete Charme des New Yorker Geldadels, der hier in den Hamptons, dem östlichen Zipfel Long Islands, regiert: Investmentbanker, Medien-Tycoons und Schauspieler. Der ehemalige Chef des Auktionshauses Sotheby's, Alfred Taubmann, hat in der sandigen Endmoränenlandschaft ebenso sein Anwesen wie Mode-Zar Calvin Klein und Amerikas Superhausfrau und Design-Ikone Martha Stewart. Menschen, die sich am Wochenende mal eben per Hubschrauber von Manhattan in ihr Sommer-Chalet herüberfliegen lassen.

Doch nun der Ärger mit den Indianern: Dass ausgerechnet der Shinnecock-Stamm die Spielwiese der Reichen stören könnte, passt nicht in das Bild der heilen Hamptons-Welt. Die Indianer bewohnen bescheidene Fertighäuser im 3,5 Quadratkilometer großen Reservat östlich von Southampton. Ihren Lebensunterhalt verdienen die meisten als Billigarbeiter in Restaurants, als Zimmermädchen, Gartenpfleger oder Caddy-Fahrer im "Shinnecock Hills Gulf Club".

Häuptling Smith plädiert beim "Powwow" für das Ende der Bescheidenheit: Die Shinnecocks sollen am Reichtum auf Long Island teilhaben. Der Stamm sei vor 150 Jahren durch trickreiche Pachtverträge mit weißen Siedlern von seinem angestammten Gebiet in Southampton und Umgebung vertrieben worden. "Es ist nur gerecht, wenn wir für dieses Land, das uns für 25 Dollar abgeknöpft wurde, eine Entschädigung erhalten."

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