Immer neue Namen, neue Zahlen, neue Tatorte:Ein Netz mit dicken Knoten

Hinter jeder Figur ist eine andere verborgen - nachdem nun auch der ehemalige Zentralvorstand Ganswindt in Haft ist, wird es nach oben enger.

Hans Leyendecker und Klaus Ott

Die Vernehmung dauerte schon eine Weile, da bat der frühere Siemens-Kaufmann Reinhard S. die Beamten um einen Schluck Wasser, denn er müsse gleich seine Medizin einnehmen: Das Protokoll vermerkt, dass dem Beschuldigten Punkt 11.55 Uhr das blutdrucksenkende Mittel Micardis (80 Milligramm) und dann das altbewährte, vor mehr als 40 Jahren erfundene Diabetesmedikament Glucophage (500 Milligramm) gereicht wurden.

Immer neue Namen, neue Zahlen, neue Tatorte: Siemens-Aufsichtsratschef Heinrich von Pierer

Siemens-Aufsichtsratschef Heinrich von Pierer

(Foto: Foto: dpa)

Das eine hilft gegen die Aufregung, das andere soll die Glucoseproduktion der Leber bremsen und den Blutzucker senken. Um 12.55 Uhr bekam der Industriekaufmann, so die kriminalpolizeiliche Aufzeichnung, noch eine "Butterbrezn".

Eine Szene wie aus einem Münchner Tatort mit den nimmermüden Kommissaren Ivo Batic und Franz Leitmayr, aber die Materie in dem realen Fall mit dem Aktenzeichen 563 js 45415/05 ist noch viel wüster als viele Handlungen in Fernsehkrimis. Jeder Schlag ins Kontor zieht sofort einen anderen nach sich.

Nun droht der Fiskus

Allein das Geständnis, das der 56-jährige Reinhard S. den Beamten der Sonderkommission "Netzwerk" des Landeskriminalamts an diesem Tag in den Computer diktierte, lässt in der Siemens-Zentrale vermutlich wieder bei einigen Herren den Blutdruck gewaltig steigen: Etliche der Oberen bei Siemens, der frühere Zentralvorstand Thomas Ganswindt vorneweg, sagte S., hätten das System der Schwarzen Kassen gekannt.

Sie seien über das Gesamtvolumen informiert gewesen. Er selbst habe die Geldverschiebungen organisiert, und im Grundsatz seien alle Kollegen auf der Leitungsebene darüber im Bilde gewesen, dass er so etwas mache. Der Industriekaufmann nannte neue Namen, neue Zahlen, neue Tatorte.

Am Montag dieser Woche wurde dann Ganswindt verhaftet. Auch er hat möglicherweise etwas auszupacken. Die Ermittlungsakten füllen mittlerweile viele Ordner. Fünf Beschuldigte sitzen in Untersuchungshaft, andere sind nach umfangreichen Geständnissen wieder auf freiem Fuß, darunter auch der Industriekaufmann Reinhard S.

In den Dutzenden Vernehmungen wurden die Namen von mehreren amtierenden oder ehemaligen Vorstandsmitgliedern genannt, die angeblich Bescheid wussten.Eine seltsame Affäre - in Korruptionsfällen geht es gewöhnlich nach dem Prinzip der russischen Matrjoschka-Puppe zu: In jeder Figur ist eine andere verborgen. Nur bei Siemens werden die Figuren immer größer.

Wo soll das noch enden? Die verdächtigen Beträge sind innerhalb weniger Wochen von zunächst 20 Millionen Euro auf mögliche 420 Millionen Euro explodiert, die Zahl der Verdächtigen wächst ständig, und längst sind die Trennungslinien zwischen angeblichen Halunken und angeblichen Ehrenmännern verwischt.

Ein Netz mit dicken Knoten

Die Fahnder, darunter ausgekochte Spezialisten für die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität, staunen. Von Berufs wegen verknüpfen sie Indiz mit Indiz. Halten die Knoten, wird es ein Netz, und ihr Netz hat schon innerhalb weniger Wochen ganz viele Knoten bekommen.

Das Elfte Gebot

Es gibt inzwischen Beweismaterial von tropischer Üppigkeit. Dagegen aber stehen die Beteuerungen der Siemens-Oberen, Aufsichtsratschef Heinrich von Pierer vorneweg, eine "Gruppe von Mitarbeitern" habe an der Firmenleitung vorbei hantiert und "alle Sicherungen außer Kraft gesetzt"; niemand in der Konzernspitze habe etwas geahnt oder gar gewusst.

Manches deutet darauf hin, dass das Verfahren, das zunächst wegen des Anfangsverdachts der Untreue gegen ein Dutzend Mitarbeiter und Geschäftspartner eingeleitet wurde, bald schon erweitert wird. In Fällen wie diesem kommt eigentlich immer irgendwann Steuerhinterziehung ins Spiel.

Die Konzernleitung hat schon am Dienstag angekündigt, dass für etwaige Nachforderungen des Fiskus zusätzlich 168 Millionen Euro bereitgestellt werden. Als weitere Beschuldigte kommen alle Mitarbeiter in Frage, die falsche Steuererklärungen unterschrieben haben oder von den falschen Erklärungen wussten.

Immer neue Vorwürfe tauchen auf - das große Geld soll sich auf vielerlei Weise seinen Weg gesucht haben. Am Donnerstag voriger Woche packte der in U-Haft einsitzende frühere Finanzvorstand der Kommunikationssparte (Com), Michael Kutschenreuther, aus.

Er sei, erzählte er, in den vergangenen Jahren von einem saudischen Vermittler angerufen worden, der wegen der Kündigung eines Vertretungsvertrages im Königreich Ärger gemacht habe. Angeblich hatte der Araber Unterlagen über illegale Geschäfte von Siemens in Saudi-Arabien, angeblich hatte er überlegt, diese Papiere der amerikanischen Börsenaufsicht zu übergeben.

Kutschenreuther erinnerte sich, dass der Saudi angeblich die horrende Summe von 910 Millionen Dollar Schadensersatz haben wollte. Es habe Treffen in London gegeben. In einer den Ermittlern vorliegenden E-Mail findet sich dazu eine interne Siemens-Notiz vom 27. April 2004, derzufolge man versuchen werde, "eine saudische Lösung" zu erreichen.

Goldene Handschläge

Angeblich seien in den Vorgang auch hochrangige Vorstandsvertreter eingebunden worden. Alles ganz harmlos, beschwichtigt Siemens auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung. Die geforderten 910 Millionen Dollar seien kein Schweigegeld gewesen, sondern es habe sich um eine Forderung der Saudis auf der "Grundlage eines Gutachtens einer kanadischen Wirtschaftsprüfungskanzlei" gehandelt. In die Vergleichsverhandlungen habe sich in der Tat auch der Zentralvorstand eingeschaltet. Am Ende hätten sich die Parteien auf die Zahlung von 38 Millionen Euro geeinigt.

Ein Netz mit dicken Knoten

Einige der Herren der Siemens-Spitze, darunter von Pierer, der Vorstandsvorsitzende Klaus Kleinfeld und der Finanzvorstand Joe Kaeser, haben sich mittlerweile anwaltliche Berater zugelegt. Das ist so üblich, und außerdem kann man schließlich nie wissen. Die ölfleckartige Ausbreitung des Tatbestandes ist schon alarmierend, und die Siemens-Spitze versucht, die Dynamik zu drosseln mit der Technik eines schleudernden Rallye-Fahrers, der gleichzeitig bremst und Gas gibt.

Skandalöses Netzwerk

Das Publikum wiederum ist in mindestens zwei Lager gespalten. Die vermutliche Mehrheit meint, Siemens habe nur gegen das Elfte Gebot verstoßen: Du sollst dich nicht erwischen lassen - die Konkurrenz mache dieselben Mauscheleien, nur geschickter. Die anderen, wie der Bezirksleiter der IG-Metall Bayern, Werner Neugebauer, oder der Chef der Siemens-Tochter Osram, Martin Goetzeler, sind entsetzt.

"Sind die Sicherungsmechanismen bei Siemens so, dass jemand 200 Millionen Euro ohne Wissen des Vorstands aus dem Haus schleusen kann?", fragt Neugebauer. Und Goetzeler erklärte, er arbeite seit einem Vierteljahrhundert für den Konzern, "und es bewegt mich sehr, was da vorgeht".

Skandalös ist nicht die individuelle Verfehlung einzelner Manager, sondern ihre Einbettung ins Netzwerk. Neben der strafrechtlichen Dimension hat der Fall auch eine moralische Größenordnung. Das Verhalten einiger Siemens-Oberer erweckt allmählich den Eindruck gepflegter Heuchelei. Nichts gewusst, nichts geahnt, nichts gesehen?

Recherchen der Süddeutschen Zeitung zeigen, dass spätestens seit 2003, als Fahnder erstmals die Siemens-Büros in München und die privaten Domizile einiger Kaufleute aus dem Konzern filzten, der Schatten der Strafverfolgung über Siemens lag. Manche Mitarbeiter sind nicht mehr ins Ausland gereist, weil sie Angst hatten, dort wegen aufgefallener Korruptionsfälle festgenommen zu werden. Das war Thema im Haus.

Eingeschaltet wurden die Rechtsabteilung und die Compliance-Abteilung des Unternehmens. Die internen Aufpasser, die Gesetzesverstöße innerhalb des Betriebes aufspüren, verhindern oder abstellen sollten, mauschelten nach Darstellung etlicher Beschuldigter munter mit. Wer zu auffällig geworden war, schied mit einem hoch dotierten Beratervertrag aus.

Das Wort Compliance kommt aus dem Englischen und meint so viel wie Befolgung, Folgsamkeit. Das mit der Folgsamkeit muss bei Siemens mancher missverstanden haben, und es ist an der Zeit, dass Siemens, wie nun geschehen, einen erfahrenen Oberstaatsanwalt an die Spitze der Abteilung setzt. Er braucht viel Tatkraft, denn Camouflage hat am Wittelsbacherplatz Tradition.

Leidiges Thema Wirtschaftsprüfung "gelöst"

Vor mehr als einem Jahrzehnt verurteilte die 4. Strafkammer des Landgerichts München I einen damaligen Mitarbeiter der Siemens-Rechtsabteilung zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen, weil er nach Feststellungen des Gerichts Akten über Schmiergeldzahlungen im Zusammenhang mit dem Bau von Klärwerksanlagen in einen großen Schredder gesteckt hatte: "Der Angeklagte wollte die Strafverfolgung der an diesen Aufträgen beteiligten Siemens-Mitarbeiter verhindern und eine Rufschädigung der Firma Siemens vermeiden", steht in dem alten, schon vergilbten Urteil.

Kaum einer der Beschuldigten im jetzigen Verfahren wird dieses Urteil gelesen haben, aber der Duktus ist ihnen vermutlich vertraut. Bei einer seiner vielen Vernehmungen hat der Industriekaufmann Reinhard S. auch erzählt, Siemens habe 2004 von ihm, wie jedes Jahr, eine neue Unterschrift unter die Compliance-Erklärung gefordert. Mit solchen Unterschriften sollen die Führungskräfte regelmäßig beteuern, dass sie sich streng an Recht und Gesetz halte.

Ein Netz mit dicken Knoten

S. Sagte, er habe sich 2004 erstmals geweigert, weil er nicht einsehen konnte, warum er das System der "diskreten Zahlungen" umsetzen, aber solche Papiere unterschreiben solle. Und der frühere Com-Finanzvorstand Kutschenreuter gab zu Protokoll, bei der Jahresabschlussprüfung 2004 sei ein noch junger Mitarbeiter der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG auf merkwürdige Zahlungsvorgänge gestoßen.

Früher sei das von "erfahrenen" KPMG-Mitarbeitern erledigt worden. Was passierte dann, wollte ein Fahnder wissen? Ein anderer Top-Manager habe ihm gesagt, das leidige Thema werde gelöst werden. Eine KPMG-Mitarbeiterin habe sich für den Übereifer des jungen Kollegen entschuldigt.

"seit langem" Verhaltensgrundsätze

Ein früherer Schweizer Chef der KPMG hat die Arbeit eines Prüfers mal so beschrieben: Erst wenn man die Eiger Nordwand zum zweiten oder dritten Mal bezwinge, sei der Blick frei für ein Edelweiß abseits des Weges. Was aber ist, wenn man Unkraut entdeckt und die Kunden behaupten, es handele sich um Edelweiß? Ist das Wirtschaftsleben voller solcher Vorgänge an der oberen Grenze der Dubiosität? Wem darf man noch glauben?

Im März 1999 stellte die Süddeutsche Zeitung in einem Interview zwei damaligen Top-Managern eine einfache Frage: "Gehören Schmiergelder zum Geschäftsinstrumentarium von Siemens?"

Die Antwort war eindeutig: "Das meinen Sie wohl selbst nicht im Ernst. Siemens hat seit langem schon Verhaltensgrundsätze für die Mitarbeiter definiert." Zwar gebe es in Spanien irgendwelche Vorwürfe, aber es sei überhaupt "nicht klar, ob es wirklich ein Fehlverhalten gegeben hat".

"Wirtschaft ist anners seggen as doon", heißt ein Sprichwort, und solches Vor-Urteil stützt sich auf die Erfahrung, dass zwischen Sagen und Tun auch in der Ökonomie Welten liegen können. Das dokumentieren die Akten im Siemens-Verfahren: Allein 1999 sollen über geheime Siemens-Konten in Österreich schätzungsweise 150 Millionen Mark für die so fein genannten "diskreten Zahlungen" systematisch verschoben worden sein. Kein Fehlverhalten?

Reinhard S., der inzwischen aus der U-Haft entlassen ist, berichtet, dass Bargeld gezahlt worden sei, um an Aufträge zu gelangen und Informationen einzuholen. Das System sei weitaus vielschichtiger, als Außenstehende ahnen könnten.

Die Namen einiger Projekte wie "Olympic Games Athen" seien als "Dummies"verwendet worden. Zwar habe es das Projekt gegeben, aber die Zahlungen, die damit in Verbindung gebracht werden könnten, seien für andere Aufgaben eingesetzt worden.

Mit 120 Stundenkilometern gegen den Baum

2004 sei er ausgeschieden und habe einen goldenen Handschlag bekommen. Als Direktor habe er zwischen 150 000 und 200 000 Euro pro Jahr verdient. Als Berater erhielt er alle vier Wochen 35 000 Euro plus 10 000 Euro pro Monat. In diesem Jahr seien die Zahlungen etwas unregelmäßig gewesen. Im Juli habe er aber 678 600 Euro bekommen. Ähnliche Geschichten berichten auch andere Ex-Siemens-Manager. Schweigegeld? Wer in diesen Tagen mit Siemens-Mitarbeitern über heiße Geschäfte spricht, stößt nicht selten auf ein Klima gegenseitiger Gereiztheit, enttäuschter Erwartungen und Nervosität. Korruption ist gesellschaftlich zerstörerisch und es gibt einen furchtbaren Verdacht: Hat die Affäre ein Todesopfer gefordert?

Ein aus München stammender Siemens-Mitarbeiter, der viele Jahre im Russland-Geschäft gearbeitet hat und den Vernehmungen zufolge bei heißen Transfers eingeschaltet worden ist, setzte sich am frühen Morgen des 21. November in seinen VW-Passat und fuhr unangeschnallt, ohne zu bremsen, um 4.36 Uhr mit einer Geschwindigkeit von 120 Stundenkilometern frontal gegen einen Baum. In einem Siemens-Nachruf wird er als "langjähriger, verdienter Vertriebsmitarbeiter und geschätzte Führungskraft" gewürdigt. Er ist 45 Jahre alt geworden.

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