Hartz-IV-Sanktionen:Keine Einigung im Streit um Suspendierung der Hartz-IV-Rebellin

Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann

Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann: Protest gegen Hartz IV

(Foto: dpa)

Inge Hannemann war mal eine von denen, die das System Hartz IV umgesetzt haben. Dann erhob sie öffentlich schlimme Vorwürfe: Die Arbeitsagentur nehme Arbeitslosen ihre Würde, statt zu helfen. Die Behörde will sie deswegen nicht mehr als Sachbearbeiterin einsetzen. Bis September müssen sich die Parteien einigen. Sonst entscheidet das Gericht.

Von Larissa Holzki

In der Güteverhandlung vor dem Hamburger Arbeitsgericht konnten Inge Hannemann und das Jobcenter am Mittwoch noch keine Einigung erzielen. Der Richter forderte beide Parteien auf, bis zum 9. September über eine Weiterbeschäftigung an anderer Stelle - beim Jobcenter oder der Stadt Hamburg - zu beraten. Anderenfalls wird das Arbeitsgericht im November urteilen. Klägerin Hannemann kündigte an, dass nur ein Job als Arbeitsvermittlerin für sie infrage komme.

Noch vor einem Jahr stand im Arbeitszeugnis von Inge Hannemann, sie sei unentbehrlich, hoch qualifiziert und für Führungspositionen geeignet. Jetzt zweifelt das Jobcenter Hamburg-Altona daran, dass die langjährige Mitarbeiterin das Sozialgesetzbuch II korrekt anwendet. Ihr wird vorgeworfen, dass sie Arbeitssuchende, die Termine im Jobcenter versäumen, Praktikumsbewerbungen schleifen lassen oder Ein-Euro-Jobs ablehnen, ungeschoren davonkommen ließ. Das entspreche nicht dem "Fördern-und-Fordern" -System der Arbeitsagentur. Seit April darf Inge Hannemann deshalb nicht mehr im Jobcenter arbeiten. Sie ist bei vollen Bezügen freigestellt. Dagegen klagt sie. Mit der Güteverhandlung wurde am Mittwoch das Hauptsacheverfahren eröffnet.

"Systemgegnerin - Die Hartz-IV-Rebellin im Jobcenter" titelte die Welt. Die Insiderin bekämpft die Sanktionspraxis von innen. Sie bloggt, twittert und schreibt auf ihrer Facebookseite, dass die vorgeschriebenen Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher einen Verstoß gegen das Grundgesetz darstellten und das System Hartz IV die Demokratie gefährde. In einem öffentlichen Brief an die Bundesagentur für Arbeit fragte sie, "wie viele Tote, Geschädigte und geschändete Hartz-IV-Bezieher" sie noch auf ihr Konto laden wolle. Sie wirft der Agentur vor, dauerkranke, frustrierte und von "subtiler Gehirnwäsche geprägte" Mitarbeiter zu verantworten. Hannemann macht keinen Hehl daraus, dass sie als Mitarbeiterin des Jobcenters das Gesetz möglichst positiv für die Hartz-IV-Empfänger ausgelegt hat. Aber gegen das Gesetz verstoßen habe sie nicht. "Auch ich will keine Kuschelpolitik, auch ich will Bewerbungen sehen", sagt die 45-Jährige SZ.de.

Arbeitslosengeld gibt's nicht umsonst

Das Existenzminimum will Inge Hannemann dafür aber möglichst nicht antasten. 382 Euro beträgt der Hartz-IV-Satz für Alleinstehende. So viel soll ein Erwachsener in Deutschland zum Leben brauchen, wenn der Staat zusätzlich für Miete und Heizung aufkommt. Doch ganz umsonst bekommen Arbeitslose dieses Geld nicht. Sie müssen regelmäßig beim Arbeitsamt erscheinen, an Schulungen teilnehmen und Ein-Euro-Jobs annehmen, die ihnen im Jobcenter angeboten werden. Wer sich an diese Regel nicht hält, der muss mit weniger Geld leben.

So kostet es die Leistungsempfänger beispielsweise drei Monate lang zehn Prozent ihres Arbeitslosengeldes, wenn sie unentschuldigt einen Termin mit ihrem Berater im Jobcenter versäumen. Wenn ein Hartz-IV-Empfänger eine angebotene Stelle ablehnt, ein Jugendlicher eine Lehrstelle nicht will oder seine Fortbildung grundlos abbricht, wird ihm das Geld um 30 Prozent gekürzt. Beim zweiten Verstoß müssen die Arbeitslosen schon eine Kürzung um 60 Prozent fürchten. Schließlich kann die Grundsicherung auch ganz verweigert werden.

Menschen das Nötigste zu nehmen, was sie zum Leben brauchen, das ist für Inge Hannemann ein Verstoß gegen die Menschenwürde. "Wir haben in Deutschland zu wenig Arbeit. Da können doch diese Menschen nichts für", sagt sie. Viele Maßnahmen seien nur dazu gedacht, die Menschen "aus der Quote zu bekommen", um die offizielle Zahl der Arbeitslosen zu senken. Manche Hartz-IV-Empfänger würden seit Jahren nur Schulungen besuchen, ohne dass sich ihre Jobaussichten besserten. Inge Hannemann kann verstehen, dass einige sich irgendwann frustriert verweigern. Die Sanktionen sparten sich viele vom Munde ab: "Die Menschen essen einfach weniger."

Studie: Sanktionen sind meistens ineffizient

Rückenwind bekommt Hannemann von einem Soziologen der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Klaus Dörre hat sieben Jahre lang an den Hartz-IV-Sanktionen geforscht. Sein Fazit: Die Sanktionen sind ein riesiger bürokratischer Aufwand, sie drangsalieren und stigmatisieren die Arbeitslosen und sind auch aus finanzieller Hinsicht ineffizient. "Leider denken immer noch viele, dass alle Langzeitarbeitslosen dumm und faul sind und es sich in der Hängematte des Wohlfahrtsstaates gemütlich machen", sagt Dörre. Seine Studie widerlegt diese Annahme.

Klar: Manche können nicht, manche wollen auch nicht. "Sie werden von der Gesellschaft einfach nicht gebraucht", sagt der Soziologe. Aber diese Gruppe müsse eine reiche Gesellschaft aushalten. Die Sanktionen treffen dagegen alle Leistungsempfänger. "Sie werden misstrauisch, fürchten sich und verlieren das Selbstbewusstsein, das sie für den Wiedereinstieg in einen Beruf brauchen." Nur um an wenigen Faulen ein Exempel zu statuieren, sei der riesige Verwaltungsapparat zu teuer. Dörre fordert, die Sanktionen abzuschaffen.

Das eingesparte Geld würde der Soziologe in Schulungen für die Mitarbeiter der Agentur investieren. Nach der Veröffentlichung der Studie hätten ihn einige Mitarbeiter von Jobcentern angerufen: Vielen Klienten könnten sie wirklich nicht helfen. Meistens fehle ihnen die fachliche Qualifikation.

Auch Inge Hannemann sieht Lücken in der Vorbereitung der Mitarbeiter. "Wir lernen, wie das System funktioniert, aber pädagogisch werden wir nicht geschult."

Vor ihrer Suspendierung war Hannemann für 15- bis 25-Jährige zuständig. Sie müssen ihren Schulabschluss nachmachen, sich für ein Praktikum bewerben, eine Ausbildung beginnen. "Das fällt vielen Jugendlichen nicht leicht", sagt Hannemann. Sie hat eine erwachsene Tochter, sie kennt das von Zuhause. "Sanktionen helfen da nicht weiter. Da blockieren die Jugendlichen oder geraten in Panik." Anstatt zu drohen, hat sie manchmal drei Stunden lang mit ihren Kunden Bewerbungen geschrieben.

Jeden Tag musste Inge Hannemann sich an Regeln halten, die sie aufregten. Und doch möchte sie wieder zurück in ihren Job. "Von innen heraus kann man das System am besten reformieren", sagt sie. Aber ihre Arbeitgeber, das Jobcenter Hamburg-Altona und die Stadt Hamburg, wollen sie trotz bisher guter Zeugnisse nicht mehr im direkten Kundenkontakt einsetzen. Bei gleichem Gehalt soll sie als Sekretärin arbeiten. Das hält Hannemann für nicht akzeptabel. Gut einen Monat haben beide Parteien nun Zeit, ihre Positionen zu überdenken.

Keine Angst vor dem Rechtsstreit

Die Hamburgerin hat oft erlebt, wie es Menschen ergeht, die ihren Job verlieren. Jetzt ist sie selbst betroffen. Angst hatte sie vor Beginn des Hauptverfahrens aber keine. Zwei Jahre hat sie sich darauf vorbereitet, ihre Kritik an die Öffentlichkeit zu bringen. Dafür hat sie sich sogar professionelle Tipps geben lassen, wie sie mit Medien umgehen soll. Von Anfang an war ihr bewusst, dass sie ihren Job verlieren könnte. Aber das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Aufmerksamkeit für die Situation von Arbeitslosen und Jobcenter-Mitarbeiter sei ihr wichtiger gewesen, sagt sie.

In den finanziellen Ruin treibt sie der Rechtsstreit vorerst nicht. Die Familie steht hinter ihr, ihre Anwälte werden von der Gewerkschaft Verdi bezahlt. Nach eigenen Angaben haben diverse Initiativen, Verbände und Einzelpersonen bereits Spenden angeboten. Und auch emotional wird Inge Hannemann immer wieder bestärkt. Im Internet verfolgen Tausende ihr Engagement. Allein auf Facebook haben mehr als 8500 Menschen angegeben, dass ihnen ihre Seite gefällt.

In der Sache sind sich viele mit ihr einig. Mehr als 24.000 Menschen haben eine Online-Petition unterschrieben. Sie wollen, dass die Sanktionen ausgesetzt werden. In Niedersachsen prüft die rot-grüne Landesregierung, ob die Sanktionen bei Meldeversäumnissen dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die Bundesratsinitiative, die Sozialministerin Cornelia Rundt im April laut der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung angekündigt hatte, steht momentan jedoch nicht auf der Agenda. SPD-Parteichef Sigmar Gabriel hatte es entschieden abgelehnt, die Sanktionen anzutasten.

Schon vor Beginn des Hauptverfahrens kündigt Hannemann an, im Falle einer Niederlage in Berufung zu gehen. Sie pocht auf ihr Recht, öffentlich Kritik an ihrem Arbeitgeber zu äußern. Vor allem will sie erreichen, dass die Missstände im Hartz-IV-System anerkannt werden. In den nächsten Wochen wird sie bundesweit Vorträge dazu halten. Das Jobcenter, die Bundesagentur für Arbeit und die Stadt Hamburg wollten sich auf Anfrage vor Beginn der Verhandlung nicht äußern. Zuletzt gab es im Juni eine Stellungnahme der Bundesagentur. Darin hieß es, "die Behauptungen von Inge Hannemann sind falsch und führen die Öffentlichkeit in die Irre". Die Kollegin wolle sich in der Öffentlichkeit als einsame Kämpferin für Entrechtete darstellen. Inge Hannemanns Kampf wird weitergehen.

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