Hartz-IV-Gesetzgebung:Die Klagemauer

Welche Folgen hat ein Gesetz, das vor Fehlern nur so strotzt, für die Betroffenen? Ein Tag am Sozialgericht Berlin, wo Richter den Überblick über Hartz IV behalten sollen.

Charlotte Frank

Gegen Mittag ist aus den vielen kleinen Verzögerungen eine handfeste Verspätung geworden, und draußen, im Flur vor Sitzungssaal 3, hat sich eine Stimmung wie im Wartezimmer eines Zahnarztes ausgebreitet: ängstlich, ungeduldig, nervös. Aber drinnen im Saal ist es auch nicht besser.

Kein Hartz-IV-Gespräch am Donnerstag

Die Folgen von Hartz IV sind auch für die Richter enorm.

(Foto: dpa)

Drinnen hat sich die Anspannung in der Luft mit Nikotin-Atem und dem Geruch muffiger Kleider verbunden, und alles zusammen hängt wie eine stickige Glocke über dem Streit zwischen einer Hartz-IV-Empfängerin und einer bockigen Jobcenter-Mitarbeiterin. Die Richterin versucht zu vermitteln, es geht um den Verdacht, die Arbeitslose wohne in ihrer Gartenlaube und beziehe daher zu Unrecht Wohngeld für ihr Zimmer: "Sehen Sie, jeder von uns hat mal ein schlechtes Gefühl", sagt die Richterin zu der Frau aus dem Jobcenter. "Aber Ihr Bauchgefühl reicht nicht, um einem Menschen die Leistungen zu streichen."

Die Sachbearbeiterin schnaubt, die Klägerin nickt so triumphierend, dass die Locken, die ihr propellerartig vom Hinterkopf abstehen, hektisch wippen. Dann stürmt sie grußlos davon, in das Zimmer, für das sie nun wieder Miete zahlen kann.

Zurück bleiben das peinliche Gefühl, das jeder kennt, in dessen Nähe sich schon mal ein Ehepaar sehr laut über sehr Privates gestritten hat - und die Richterin, Margit Höltge. Sie atmet durch, greift die nächste Akte vom Stapel und setzt ihr Lächeln wieder auf, das sie bei der Arbeit nur minutenweise absetzt, wie andere eine Lesebrille. Dann ruft sie zur Tür: "Der Nächste bitte."

Der Nächste bitte, so geht das bis nachmittags im Saal von Margit Höltge, so geht das jeden Tag am Sozialgericht Berlin. Seit Einführung der Hartz-IV-Reform geht das an allen Sozialgerichten Deutschlands so.

220.000 Klagen pro Jahr

Das Gesetz, das den Sozialstaat eigentlich effektiver machen sollte, hat so viele Fehler, dass es in den Gerichten immer einen Nächsten gibt - egal, wieviel die Richter arbeiten: Nach seinem Inkrafttreten 2005 hat sich die Zahl der Klagen an den Sozialgerichten vervierfacht. Im vergangenen Jahr waren es schon 220.000, davon alleine 32.000 in Berlin.

Man kann sich darüber wundern, dass sechs Jahre nach dem Start eines Gesetzes nicht die Rechtssicherheit wächst, sondern die Zahl der Klagen. Oder man kann einen Tag am Sozialgericht verbringen und sich ein Bild davon machen, wie tief der Glaube vieler Menschen in den Sozialstaat erschüttert ist: Wem man nicht glaubt, dem traut man nicht. Und wem man nicht traut, dessen Regeln akzeptiert man nicht. Das hat schlimme und teure Folgen, für die Gerichte, für die Hartz-IV-Bezieher, für die ganze Gesellschaft. Und Besserung ist nicht in Sicht.

Ein nebliger Mittwochmorgen in Berlin, um Punkt halb neun rumpelt ein Postauto auf den Hinterhof an der Invalidenstraße. Der Fahrer springt heraus und zerrt mühsam die Fracht aus dem Kofferraum - die neuen Klagen kommen containerweise. Ein Bote rollt sie in die Poststelle, wo die Klagemauer unablässig wächst, während vier Faxgeräte weitere Beschwerden daneben spucken. Auf diese Weise erreichen das Gericht täglich 100 neue Hartz-IV-Klagen. 100 Schreiben, in denen es um sehr wenig geht, und gleichzeitig um unfassbar viel: das Existenzminimum.

"Und det find ick nich jut"

"Existenzminimum", schon das Wort zeigt eigentlich, dass etwas nicht stimmen kann. Als ob es bei Hartz IV nicht darum geht, dass Menschen leben, sondern nur darum, dass sie existieren. Aber wo hört Leben auf, und wo fängt das bloße Existieren an? Auf diese Frage läuft an diesem Mittwoch letztlich jeder Streit vor dem Sozialgericht hinaus. Meistens liegt für die Kläger gar nicht viel dazwischen. Manchmal nur ein halber Tag in der Gartenlaube. Oder ein Kinderbett.

Um zehn Uhr morgens schließt Richterin Margit Höltge die Tür zum Sitzungssaal 3 auf, im Linoleumboden spiegelt sich das Neonlicht von der Decke. "Setzen Sie sich doch", sagt sie strahlend zu den beiden Rechtsanwälten und der Klägerin, als hätte sie die drei zum Kaffeekränzchen geladen, und nicht zu einem Erörterungstermin vor Gericht.

Eine ungleiche Riege nimmt Platz: Die Klägerin Frau C. ist sehr kräftig und hat ihren Fleece-Pullover so weit hochgekrempelt, dass ein großes Delphin-Tattoo auf ihrem Arm zu sehen ist. Ihre Anwältin versinkt fast in einer filzigen Wolljacke, und der Anwalt des Jobcenters ist im grauen Nadelstreifen gekommen.

Er soll um ein neues Kinderbett verhandeln, das Frau C. für ihren Sohn beantragt hat. "Das ist kein Sonderbedarf, Sie wussten doch, dass Ihr Sohn wächst und hätten sparen können", sagt er. "Ja, aber", sagt Frau C., nun sei ihr Sohn schon sechs und schlafe immer noch in seinem Gitterbettchen. "Und det find ick nich jut."

Margit Höltge hört aufmerksam zu, stellt Fragen, erklärt. Hätte sie nicht ihre Robe über den violetten Pullover geworfen, man könnte sie für eine nette Tante halten oder für eine sehr geduldige Pädagogin. Sie nickt: Mittlerweile sei es ihre wichtigste Aufgabe, den Menschen die Rechtslage überhaupt verständlich zu machen. "Das Gesetz wurde seit dem Start gut 50 Mal geändert, da haben viele den Überblick verloren", sagt sie.

Etwa jeder zweite Hartz-IV-Bescheid ist fehlerhaft

Damit meint Höltge keinesfalls nur die Hartz-IV-Bezieher - mindestens genauso oft irren die Jobcenter. In Berlin liegt die Erfolgsquote der Kläger bei 50 Prozent. So ist das fast überall in Deutschland: Etwa jeder zweite Hartz-IV-Bescheid, der vor den Sozialgerichten landet, wurde fehlerhaft ausgestellt.

Im Fall von Frau C. und ihrem Kinderbett aber muss Höltge dem Jobcenter Recht geben: Mit 1,22 Meter ist der sechsjährige Sohn nicht überdurchschnittlich groß - und "Sonderbedarf gibt es nur bei Abweichungen von der Norm", erklärt die Richterin. Dann hat sie eine Idee: Ob das Jobcenter der Frau C. nicht ein Darlehen gewähren könnte?

"Warum haben Sie nicht vorher gefragt?"

Der Anwalt muss erst raus und telefonieren. Kommt wieder rein, holt Akten und geht wieder vor die Tür. Führt Extraberatungen zum Thema Kindermatratze. Ermittelt, was ein Lattenrost kostet. Zuletzt willigt er ein: Frau C. bekommt ein Darlehen über 150 Euro. Nach einer halben Stunde ist die Sache erledigt.

Hätte es dafür wirklich ein Gericht gebraucht? "Nein", sagt Michael Kanert, als er abends von Frau C. hört, und dann: "Doch." Kanert, sehr teddyhaft, sehr herzlich, war bis vor kurzem ein Kollege von Margit Höltge, aber inzwischen hat er die Robe gegen einen Anzug getauscht, und die Linoleumböden im Gericht gegen Eichenparkett: Er ist jetzt Sprecher der Justizsenatorin, deshalb spricht er viel, auch über Dinge, die andere an seinem alten Arbeitsplatz so nicht sagen würden.

Zum Beispiel über den "vierfachen Abwehrring", den Jobcenter gegen Anliegen der Hartz-Empfänger errichtet hätten, oder darüber, "dass die Jobcenter und ihre Kunden einfach nicht vernünftig miteinander sprechen". Kanert wackelt in seinem Polstersessel herum, das Thema regt ihn auf: "Das Vertrauen in die Behörden ist schon verloren", sagt er, und nun feilschten auch noch die Politiker um ein paar Euro. Aber wie soll man bitte ein willkürlich festgelegtes Existenzminimum ernstnehmen?

Kanert ist nicht der einzige in Berlin, der an diesem Tag die ungünstige Prognose stellt: Durch das Gezerre der Politiker sinkt die Glaubwürdigkeit von Hartz IV weiter. Die Zahl der Klagen wird weiter steigen. Und die Richter werden noch öfter einspringen müssen - nicht um Urteile zu sprechen, sondern um Vertrauen wiederherzustellen. Schon heute wird in Berlin nur jede fünfte Klage durch ein Urteil entschieden. Die anderen lassen sich vorab schriftlich klären oder in "Erörtungsterminen" - Gespräche im Gericht, bei denen Missverständnisse aus der Welt geräumt werden sollen, bevor es zu einem Urteil kommt.

Margit Höltge wirkt erschöpft, es ist zwei Uhr am Nachmittag, und sie hat schon fünf Erörterungstermine hinter sich gebracht. Es ging nicht nur um Kinderbetten und Gartenlauben, um Umzüge, um Rechenfehler im Hartz-IV-Bescheid, um eine Weiterbildung zum Fahrlehrer. Es ging um sehr kleine Beträge, die für die Menschen sehr große Bedeutung haben. Als Hölgte sich die letzte Akte greift, lächelt sie immer noch, sie hat allen Grund dazu: Alle fünf Klagen wurden zurückgezogen. Nun wartet draußen nur noch Herr W.

"Bis zum nächsten Mal"

Seine Gummistiefel quietschen, als er den Saal betritt, er bringt eine schnapsige Wolke und Erdklumpen aus dem Profil seiner Sohlen mit in den Saal. Der Vertreter des Jobcenters bringt Bücher mit, Ordner, Gesetzestexte und viele bunte Stifte. Er hat also viel zu blättern, während Herr W selbstsicher über Schonvermögen, Aktien und Rentenvorsorge doziert. Herr W. endet mit dem Satz: "Sie haben sich einfach verrechnet." Der Jobcenter-Jurist blättert hastig, sagt mehrmals "Äh", dann stimmt er Herrn W. zu. "Warum haben sie denn vorher nichts gesagt?", fragt er. "Warum haben Sie mich denn vorher nicht gefragt?", fragt Herr W. und steht auf.

In der Tür dreht er sich noch einmal zur Richterin um und grüßt freundlich: "Bis zum nächsten Mal."

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