Sozialgericht:Alle 17 Minuten eine Hartz-Klage

Mehr Fälle, als die Richter bearbeiten können: Akten über Akten stapeln sich, ständig kommt eine neue Hartz-Klage dazu - Massenabfertigung im Akkord. 39.000 Fälle warten beim Berliner Sozialgericht auf eine Entscheidung. Die Richter müssen ausbügeln, was Politik und Jobcenter verbocken.

Thorsten Denkler, Berlin

Dienstag, kurz vor Mittag im Sozialgericht zu Berlin. Angesetzt ist die mündliche Verhandlung Kerstin K. gegen das Jobcenter Pankow. Anwesend sind drei Richter, die Klägerin und zwei Rechtsvertreter des Jobcenters. Frau K. kennen sie nur aus den Akten.

Widersprüche und Klagen gegen Hartz IV

Leben mit Hartz IV: Die Jobcenter sind überfordert - darum stapeln sich bei den Sozialgerichten die Klagen.

(Foto: dpa)

Es geht um 800 Euro, die Frau K. an das Amt zurückzahlen soll. Sie lebt zum Teil von Hartz IV, sie muss ihr geringes Einkommen aufstocken lassen. Am Ende wird sie die Klage zurückziehen. Der Fall ist so klar und so einfach, dass man sich fragt, warum sich überhaupt ein Gericht damit beschäftigen musste.

Im Januar 2010 hat Frau K. wieder Arbeit, verdient 1200 Euro netto Annähernd genug, um im Sinne des Sozialgesetzbuches ihren Ehemann und ihren 13-jährigen gehbehinderten Sohn durchzubringen. Es dauert etwas, bis das Amt den Hartz-IV-Satz neu berechnet. Deswegen überweist es zunächst zu viel.

Frau K. sieht ihre Kontoauszüge durch. Für die Verhandlung hat sie sich alles fein säuberlich auf einem Din-A4-Blatt notiert. Im Januar 2010 seien ihr 600 Euro mehr überwiesen worden als ihr aufgrund der neuen Einkommenssituation zustehen - doch das Amt will 800 Euro zurück. Sie versteht das nicht, fühlt sich ungerecht behandelt, zieht vor Gericht. Sie wirkt nicht wütend, nicht gekränkt. Sie versteht es nur einfach nicht.

Die Richterin fordert die Vertreter des Jobcenters auf, Frau K. zu sagen, wie es auf 800 Euro kommt. Die aber beten nur Paragraphen herunter. Frau K. versteht noch weniger. 600 Euro bekommen, aber 800 zurückzahlen, das geht ihr einfach nicht in den Kopf.

Die Richterin übernimmt, was wohl Aufgabe des Jobcenters gewesen wäre. Sie erklärt Frau K., warum ihre Klage keinen Erfolg haben werde. Zu den 600 Euro kommen noch 200 Euro Miete hinzu, die das Jobcenter zuviel direkt an den Vermieter der Familie K. gezahlt hat. Zusammen 800 Euro.

Frau K. versteht.

Die Richterin fragt, ob sie die Klage zurückziehen will. Frau K. zieht sie zurück. Die Richterin diktiert in ihr Aufnahmegerät, mit der sie die Verhandlung aufgezeichnet hat: "Mündliche Verhandlung wird geschlossen um zwölf Uhr."

Die Klagewelle als Wutwelle?

Warum nur hat niemand Frau K. den Zusammenhang vorher erklärt wie jetzt diese Richterin? Die Vertreter des Jobcenters schweigen. Presseanfragen seien bitte an die Geschäftsführung des Jobcenters Pankow zu stellen.

Hartz IV

Leben mit Hartz IV: Die Jobcenter sind überfordert - darum stapeln sich bei den Sozialgerichten die Klagen.

(Foto: dpa)

Wer diesen Fall miterlebt hat, der bekommt eine schwache Ahnung davon, was sich tagtäglich am Sozialgericht in Berlin abspielt. Alle 17 Minuten wird hier eine neue Hartz-IV-Klage eingereicht. Vor kurzem hat das Gericht Klage Nummer 117.000 seit der Einführung von Hartz IV vor sechs Jahren entgegengenommen.

Allein 2010 hatte es 5000 Klagen mehr zu bewältigen als 2009, sagt die Präsidentin des Gerichtes, Sabine Schudoma, eine drahtige Frau mit verbindlichem Blick. 39.000 Klagen warten noch auf eine Entscheidung. Genug, um das Gericht ein Jahr lang zu beschäftigen, ohne das auch nur eine neue Klage hinzukäme. "Der Ausnahmezustand ist zur Regel geworden", sagt Schudoma.

Ist die Klagewelle eine Wutwelle empörter Hartz-IV-Empfänger? Schudoma verneint. Dagegen spreche schon die enorm hohe Erfolgsquote der Kläger. Jedes zweite Verfahren endet zugunsten des Klägers. Die Leute klagen, weil sie ein gesundes und offensichtlich berechtigtes Misstrauen gegenüber den Jobcentern haben.

Der Fehler liegt im System, nicht bei den Hartz-IV-Empfängern, da ist sich Schudoma sicher. In den Jobcentern sind die Sachbearbeiter schlicht überfordert. Zu wenige von ihnen müssen zu viele Menschen betreuen. Dabei greifen sie auf ein Regelwerk zurück, das selbst Fachleute kaum durchschauen. Leistungsberechnungen verlangen von ihnen regelmäßig mathematische Höchstleistungen.

In einer vierköpfigen Hartz-Familie, in der der Mann plötzlich ein paar Euro dazuverdienen kann, muss für jedes Familienmitglied ein neuer Hartz-IV-Bescheid erstellt werden. Auf den Cent genau. Die unweigerlichen Fehlberechnungen müssen dann oft genug von Richtern mühsam nachvollzogen werden.

Merkwürdiger Regierungsplan

Das liegt auch daran, dass Jobcenter - im Gegensatz zu anderen Sozialleistungserbringern wie Renten- und Krankenkassen - nicht die pauschale Gerichtsgebühr von 150 Euro tragen müssen. Die Folge: Ob ein Hartz-IV-Empfänger vor Gericht zieht, weil sich ein Sachbearbeiter um zehn Euro verrechnet hat, kann den Jobcentern egal sein. Wenn ein Gericht die Frage klärt, ist das offenbar billiger, als eigene Prüfinstanzen zu installieren. Der Staat hat damit das Qualitätsmanagement für die Jobcenter einfach den Sozialgerichten übertragen.

Stattdessen aber hat die Regierung Pläne, von klagenden Hartz-IV-Empfängern Gerichtsgebühren zu verlangen. Für Schudoma ist das "völlig unverständlich. Der freie Zugang zur Justiz ist wichtiger denn je."

Schudoma hätte andere Ideen, wie sich Klagen vermeiden ließen. Hartz-IV-Bescheide sollten künftig für eine Bedarfsgemeinschaft ausgestellt werden. Nicht für jedes Familienmitglied. Sie würde sich auch freuen, wenn viele Kommunen von ihrem neuen Recht gebraucht machten, per Satzung zu definieren, was eine angemessene Wohnung für einen Hartz-IV-Empfänger ist. Das muss bis jetzt im Zweifel das Gericht entscheiden. Einfacher und transparenter müssen die Hartz-IV-Gesetze werden. Die Jobcenter brauchen mehr Sachbearbeiter, um genauer arbeiten zu können.

Doch die Politik reagiert nur ungern auf die Hilferufe der Sozialgerichte. Derzeit wird im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat über die Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze verhandelt. Es geht um fünf Euro pro erwachsenen Hartz-IV-Empfänger.

Gerichtspräsidentin Schudoma sagt dazu einen klugen Satz. Sie sehe keinen Raum für Klagen, in denen Hartz-IV-Empfänger im Eilverfahren auf Auszahlung der fünf Euro drängen. Eilverfahren setzen eine schwierige Notlage voraus. "Jedem verständigen Bürger ist klar, dass ein Streit um fünf Euro mehr oder weniger keine Notlage begründet."

Da ist die Praktikerin mal wieder weiter als die Politik.

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