Gutscheine für Hartz-IV-Empfänger:Ermittlungen am anderen Ende der Welt

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Erschreckende Erkenntnisse einer Reise in Deutschland: Für manche Kinder in Anklam und Schwerin gibt es noch nicht einmal genug zu essen, geschweige denn eine Perspektive.

Jens Schneider, Schwerin

Am Vormittag lädt Marén Dunzik ihren Bollerwagen voll. Sie hat frischen Kaffee in der Thermoskanne und auch ein wenig Kuchen dabei und macht sich mit ihren Kollegen auf den Weg zum nahen Spielplatz. Es sind nur fünfzig Meter. Die jungen Mütter, die dort jeden Vormittag sitzen, sie könnten auch mit ihren Kindern zum Treff der "In Via" im Haus der Caritas in Anklam kommen, hier im Hinterland von Usedom, wo der Aufschwung der Tourismusbranche keine Wellen mehr schlägt und jeder Fünfte arbeitslos ist.

Viele Kinder von Hartz-IV-Empfängern sind sehr ernst und zu früh erwachsen: Szene vor einem Hochhaus in Meschenich bei Köln. (Foto: dpa)

Die Frauen könnten selbst kommen, aber sie kommen nicht, um Hilfe zu holen. Sie sind misstrauisch, weiß Dunzik. Und es fehlt die Kraft. Sie trinken viel Alkohol. Dunzik setzt sich am Spielplatz zu den Müttern, wartet ab. "Zehn Mal gehst du, nichts passiert, beim elften Mal lassen sie sich ein."

Langsam kommt ein Gespräch zustande, einzelne Frauen fassen Vertrauen. Die junge Sozialarbeiterin kann dann zuhören, Rat geben, und gegen Mittag nimmt sie die Kinder der Frauen mit in ihre Einrichtung. Sie gibt den Kleinen ein warmes Mittagessen, das sie sonst nicht bekämen.

Noch nie am Strand gewesen

Manchmal zieht sie ihnen aus dem Bestand der Spenden einen sauberen Pullover oder eine Hose an. Dann bringt sie die Kinder zurück. Vor ein paar Wochen haben Dunzik und ihre Kollegen einige mit an die Ostsee genommen. Die ist nur zwanzig Kilometer entfernt, aber die Kinder waren noch nie am Strand.

Sie würde gern mehr tun, viel mehr. Aber die Mütter wollen das nicht. "Wir kommen nicht weiter heran", erklärt sie der Sozialministerin Manuela Schwesig. Die Sozialdemokratin ist aus der Landeshauptstadt Schwerin gekommen, um zu sehen, wie Menschen in Armut geholfen wird, vor allem Kindern.

Dies ist eine Region, aus der die meisten jungen Leute weggezogen sind, weil sie in Hamburg oder München eine Perspektive fanden. Viele derer, die geblieben sind, haben alle Hoffnung verloren. Viele sind auf Hilfe vom Staat, auf Hartz IV, angewiesen.

Vor Hunger hippelig

Dabei stehen gewiss die Eltern dieser fast verlorenen Kinder aus Anklam nicht für alle. Andere machen aus den knappen Mitteln das Beste. Dennoch muss nun nach einem Weg gesucht werden, der sicherstellt, dass Kinder angemessen versorgt werden - und die Mittel auch bei ihnen ankommen.

Schwesig wird demnächst mit Bundesministerin Ursula von der Leyen über die Gestaltung der Hartz-IV-Sätze sprechen. Wer sie durchs Land begleitet, sieht bald, dass es nicht nur einzelne Kinder sind, denen es am Nötigsten fehlt.

In Schwerin, Schwesigs Heimatstadt, sind viele der Kinder vor dem Besuch hippelig. Weniger wegen der Ankunft der Ministerin im Plattenbaugebiet Dreesch - sie haben Hunger. Es gibt Kuchen, einige stürzen sich darauf, als sei es ein Laib Brot.

Der kleine graue Flachbau, die "Kindertafel", ist für sie der Ort, an dem sie zu essen bekommen. Viele kommen jeden Tag, weil es zu Hause nichts gibt. Oft bleiben sie vom Mittag bis zum Abendbrot. In den Ferien gibt es Frühstück für Kinder, deren Eltern oft gar nicht aufstehen.

Viele Eltern sind nie zu sehen

Während der Schulzeit schmieren Mitarbeiter der Tafel Schulbrote. Die verteilen Lehrer an Kinder, die sonst mit leerem Magen durch den Vormittag müssten. "Die Größeren bringen ihre kleinen Geschwister mit, weil sie wissen, hier gibt es was zu essen", sagt Peter Grosch, der die "Kindertafel" ins Leben gerufen hat. Manchmal schicken Lehrer hungrige Kinder direkt.

Und die Eltern? Manche kommen mit, sie helfen hier. Viele andere sieht er nie. Manche schicken sogar ihre Kleinen vor. Kürzlich kam einer mit einem Topf, er bat um Essen fürs kleine Geschwisterkind. Grosch spürte, dass der Topf eigentlich für die Eltern war. Viele der Kinder sind sehr ernst, "zu früh erwachsen", sagt er. Eltern, die man hier trifft, sagen, dass sie selbst nicht kontrolliert werden wollen bei den Hartz-IV-Sätzen, aber in der kleinen Runde sagen sie: "Du weißt doch, es gibt Eltern, die versaufen das."

Manuela Schwesig will einen Mittelweg suchen, der nicht wie Schikane wirkt. "Gutscheine sind nicht der richtige Weg", sagt sie. "Sie sind bürokratisch und stigmatisierend." Schwesig spricht sich für viele kostenfreie Angebote aus, die auch Kindern zugutekämen, deren Eltern mit ihrem Einkommen nur knapp über dem Hartz-IV-Satz liegen. Sie meint nicht nur Frühstück und Mittagessen. Auch Musikunterricht oder der Sportverein sollen so finanziert werden. Das ist ihre Alternative zu Gutscheinen.

Bei der "Kindertafel" geht alles über Spenden von den Märkten der Stadt. Grosch hat jetzt, wie er es nennt, auch ein kleines Kinder-Reisebüro gegründet. Dafür hat er befreundete Ärzte angesprochen: "Alter, ich weiß, was du verdienst." Mit dem gespendeten Geld sorgt er dafür, dass Kinder, die den Stadtteil noch nie verlassen haben, mal das Schweriner Schloss sehen. Das ist wirklich nicht weit weg, aber für viele Kinder das andere Ende der Welt.

© SZ vom 10.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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