Gründerwelle in New York:Silicon Alley

Brooklyn Bridge

Die Brooklyn Bridge in New York überspannt den East River und verbindet die Stadtteile Manhatten und Brooklyn miteinander. 

(Foto: REUTERS)

Nach dem Fall der Wall Street erfindet sich New York neu - als Stadt der Hochtechnologie. Zu den Genies geht es über den East River nach Brooklyn: "Wir wollen da sein, wo die Talente wohnen."

Von Moritz Koch und Nikolaus Piper, New York

So kann Arbeiten in der hektischen Stadt New York auch aussehen. Es ist vier Uhr am Nachmittag. Aaron Shapiro hat sich auf seinem schwarzen Ikea-Sofa ausgestreckt und hört zwei Kollegen zu, die ihm auf dem Bildschirm die Website eines Kunden erklären. Neben ihm liegt ein blauer Fußball, der aussieht, als würde er häufig benutzt. "Sie erleben mich in einem Moment der Entspannung", grinst Shapiro und macht gleich klar, dass er nicht allzu viel Zeit hat: "Unsere Tochter ist vier Wochen alt, und meine Frau bringt mich um, wenn ich nicht rechtzeitig daheim bin."

Aaron Schapiro ist CEO des digitalen Dienstleisters Huge in Brooklyn, und bei dem geht es extrem locker zu. Die Mitarbeiter hören abends auf, wenn sie das Gefühl haben, fertig zu sein. In der Büroküche gibt es immer frisches Obst, und neben dem Empfang steht ein großer Fahrradständer für die Mitarbeiter. Wer will, kann seinen Hund mit an den Schreibtisch bringen - niemand soll von der Arbeit abgelenkt werden, weil er an sein unversorgtes Haustier denken muss.

Der Firmenname ist ein Stück Ironie; er stammt aus dem Gründerjahr 1999, als zwei Software-Entwickler in einem Hinterzimmer irgendwo in Brooklyn damit anfingen, Internetseiten zu entwerfen. Sie fühlten sich winzig und nannten sich daher "Riesig". Inzwischen ist Huge eine der fünf großen Digitalagenturen Amerikas. Zu den Kunden gehörten oder gehören Ikea (daher das Sofa im Zimmer von Shapiro), die Fluggesellschaft JetBlue und die Audi AG. "Wir sind Transformer", sagt Shapiro. "Wir helfen den Unternehmen dabei, sich in virtuelle Unternehmen umzuformen."

Die Stadt erfindet sich neu

In dem Loft einer ehemaligen Kartonfabrik unten am East River arbeiten 420 Softwareentwickler, Designer und Kundenberater; weltweit beschäftigt Huge über 600 Mitarbeiter. Und Huge ist kein Nischenunternehmen, sondern Teil eines neuen Trends. New Yorks Wirtschaft ändert sich mit verblüffendem Tempo. Die Stadt erfindet sich regelrecht neu. New York ist nicht mehr nur Wall Street, Anwaltskanzleien, Medien und Werbeagenturen. Mehr und mehr dominieren jetzt technische Firmen. Hier in Dumbo, einem ehemaligen Lagerhausviertel unter der Manhattan Bridge (der Name leitet sich ab von "Down under Manhattan Bridge Overpass"), ist eine nicht mehr kleine Gründerszene entstanden. Sie prägt mehr und mehr das Image und das Selbstverständnis New Yorks.

Ein paar Schritte entfernt von Huge residiert Etsy, ein rasch wachsender globaler Marktplatz für Selbstgemachtes. Ebenfalls direkt in der Nachbarschaft Wireless Generation, ein Entwickler von Schulsoftware, der inzwischen von Rupert Murdoch gekauft wurde. Es gibt das Netzwerk DigitalDumbo und DumboLab, ein privat betriebenes Gründerzentrum. Fast keine der größeren Firmen hier, die nicht mit zweistelligen Raten wachsen würde.

Wenn Dumbo die Zukunft von New York ist, dann liegt die Vergangenheit drüben auf der anderen Seite des East River, dort wo die Fähre am Rande der Häuserschluchten von Downtown Manhattan anlegt, im Financial District. Bis vor 2008 lockte die Wall Street ohne große Mühe die Besten und die Klügsten aus der ganzen Welt in die Finanzbranche. Die Wall Street war als Karriereziel kaum zu schlagen. Wer bei den Banken nicht unterkam, der gründete eben einen Hedgefonds. Das hat sich gründlich geändert. Nach einer Statistik des Staates New York ist die Zahl der Jobs im Kerngeschäft der Wall Street von 190.000 im Jahr 2008 auf unter 170.000 im vorigen Jahr zurückgegangen. Wobei diese Zahl das Problem nur unzureichend beschreibt: Wie es in einem Bericht der Stadt heißt, werden die Finanzfirmen auf absehbare Zeit insgesamt kaum wachsen. Das bedeutet, Jobs werden weiter verschwinden, Boni schrumpfen.

Lichtjahre von der Welt der Hochfinanz entfernt

Die Folge: Investmentbanker ist kein attraktiver Beruf mehr. Und Tech-Firmen beginnen, den Finanzkonzernen die besten Leute abzuwerben.

Bis vor Kurzem war das noch umgekehrt. Davide Rossi wollte an die Wall Street und zwar mit aller Macht. Darum begann der Ferrari-Ingenieur ein sündhaft teures Wirtschaftsstudium am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, darum absolvierte er als 30-Jähriger noch ein Praktikum in London und darum bewarb er sich bei Citigroup, obwohl der Staat Citi kurz zuvor vor dem Zusammenbruch hatte retten müssen. Er wurde vertröstet: Einstellungsstopp. Doch Rossi gab nicht auf. Schließlich kam er 2010 bei der Deutschen Bank unter. Er war am Ziel seiner Träume, so glaubte er.

Zwei Jahre lang pendelte Rossi zwischen New York und San Francisco, half Internetfirmen wie Paypal dabei, Geld bei Investoren einzusammeln. An guten Tagen verließ er das Büro um zehn Uhr abends, meistens viel später. "Es war eine intensive, lehrreiche Zeit", sagt er heute. Noch immer verblüfft ihn das Vertrauen, das die Klienten in ihn setzten. "Ich kam doch frisch von der Uni." Genau das machte einst den Reiz der Wall Street aus. Die Verantwortung, welche die Banken selbst Neulingen übertrugen. Das Gefühl, auf einen Schlag ganz wichtig zu sein.

Krisenstimmung, Entlassungen, Sparprogramme

Wohin das führen kann, hat die Finanzkrise gezeigt, in der 30-Jährige fast das Weltfinanzsystem in die Luft gesprengt hätten. In Rossis Bankerleben gab es nichts Vergleichbares, nicht den großen Skandal. Alles lief seinen gewohnten Gang - gerade das war das Problem. Als der Zauber des Neuanfangs verflogen war, zeigten sich Schattenseiten seiner Branche: Die nicht enden wollende Krisenstimmung, die Entlassungen, die Sparprogramme. Rossi beschloss: Es reicht. Er wollte etwas Eigenes aufbauen. Gemeinsam mit seiner Schwester gründete er sein eigenes Unternehmen, Fitbark heißt es und basiert auf einer Idee, die Lichtjahre von der Welt der Hochfinanz entfernt ist.

Es geht um Hunde.

Als Rossi nach New York gezogen war, hatte er Freud in Italien zurücklassen müssen, seinen kleinen Terrier. Auch seine Schwester konnte sich nicht um Freud kümmern. Blieb sein Vater. "Aber ich vertraute ihm nicht, ich wurde das Gefühl nicht los, dass Freud nicht genug Auslauf bekommt." Die Lösung ist ein kleiner Plastikknochen, den Rossi an Hundebesitzer in aller Welt verkaufen will. Darin steckt ein Fitnesscomputer, der, einmal ans Halsband montiert, aufzeichnet, ob sich der Hund genug bewegt und die Daten auf ein Smartphone lädt. Großstädte wie New York seien der ideale Markt für seine Geschäftsidee, glaubt Rossi: Herrchen und Frauchen sind oft den ganzen Tag im Büro und müssen sich auf die Dienste von professionellen "Dog Walkern" verlassen. Da ist Kontrolle besser als Vertrauen.

Rossis Wandlung vom Banker zum Gründer zeigt, wie sich New York ändert. Die Wall Street ist nicht mehr der übermächtige Magnet, der Elitestudenten anzieht und sie erst wieder loslässt, wenn sie ein Vermögen angehäuft haben oder in die Politik gehen. Die Wall Street ist zur Zwischenetappe geworden. Eine Talentschmiede, die man durchläuft, kein Lebensentwurf, dem man sich verschreibt. Wer etwas werden, etwas bewegen will, kommt hierher, um ein paar Jahre später weiterzuziehen.

Von der Wall Street zur Silicon Alley

Von der Wall Street geht es dann zur Silicon Alley. Der Begriff ist nicht einfach nur ein cleveres Wortspiel von Marketingstrategen. Silicon Alley bezeichnete früher den Flatiron-Bezirk in Manhattan, in dem sich viele Digitalfirmen zuerst angesiedelt hatten. Heute ist die Silicon Alley ein über das gesamte Stadtgebiet verteiltes Netzwerk junger Internetfirmen, gegründet von Leuten, die nicht auf das Gefühl verzichten wollen, in einer Weltstadt zu leben, aber trotzdem den Reiz einer Wachstumsbranche suchten. Welche die große digitale Transformation selbst erleben wollen, ohne in den Vorstadtkosmos des Silicon Valley zu ziehen. Zu Silicon Alley gehören Firmen wie Foursquare (ein mobiles soziales Netzwerk, gegründet 2009), Seamless (ein digitaler Bestellservice, 1999), Buzzfeed (ein Mediendienst, 2006) und eben Etsy. Das neue New York.

Mehr und mehr Banker laufen ins Lager der Gründer über. Sie kommen von Goldman Sachs, Morgan Stanley und JP Morgan und landen beim IT-Dienstleister Rackspace, dem Online-Limousinen-Service Uber und der Modedesign-Firma Darby Smart - Unternehmen, die außerhalb der Technikbranche kaum jemand kennt. Die Entwicklung steht am Anfang, doch ihre Bedeutung ist immens. Der Finanzsektor wird auf Normalmaß zurückgestutzt. Zwar werden all die phantasiereichen Softwarefirmen die Finanzfirmen als wichtigsten Teil der ökonomischen Basis der Stadt nicht ersetzen können. Noch nicht jedenfalls. Doch die Gründerwelle hat das Selbstverständnis von New York verändert.

Stellt einen Billardtisch auf

Es ist Montagabend im Flatiron-Distrikt. Der kleine Seminarraum füllt sich langsam. Vorne steht Arie Abecassis und klickt sich durch eine Power-Point-Präsentation. Die hohe Kunst des Geldeintreibens steht auf dem Programm. Abecassis kennt das Geschäft, er hat selbst für einen Wagniskapital-Fonds gearbeitet. An diesem Abend allerdings sieht er mit seinem grauen Schlabber-Pulli eher aus wie ein Langzeitstudent. Sein Vortrag mäandert zwischen Betriebstheorie und Binsenweisheiten. "Selbst, wenn du erfolgreich bist, gibt es gute und schlechte Tage", doziert Abecassis. Und auf die Frage, wie junge Firmen im erbitterten Wettbewerb um gute Programmierer mithalten können, schlägt er vor: Stellt einen Billardtisch auf, und lasst sie ihren Hund mitbringen. Seine Zuhörer schreiben eifrig mit. Auf den Tischen liegen Laptops und iPads, selbst ein paar Notizblöcke aus der analogen Vorzeit. Eine Frau, die ihren Lippenstift auf die Hülle ihres iPhone abgestimmt hat, kritzelt schwarze Sterne vor sich hin.

So geht es zu in der General Assembly, einer Art Abendschule für Firmengründer, die hier in Manhattan Quartier bezogen hat. Die Studenten lernen Marketingkniffe und können ihre Softwarekenntnisse verfeinern. Doch auf den Inhalt der Kurse kommt es gar nicht so sehr an. Viel wichtiger ist es, Kontakte zu knüpfen, Ideen auszutauschen und sich Mut zu machen. Die Gelegenheit, eine Firma zu gründen, ist günstig, wahrscheinlich so günstig wie noch nie. Selbst Schüler können Miniprogramme basteln, sie in einen App-Store stellen und weltweit vertreiben. Das dafür benötigte Startkapital schrumpft, eine Firma zu gründen, wird weniger riskant. So ist die Anschaffung von teuren Großrechnern überflüssig geworden, seit es Speicherplatz zu mieten gibt.

Die Anfänge der New Yorker Internetszene reichen in die 90er Jahre zurück. Doch erst 2003 begann der große Schub nach vorn. Auslöser war ausgerechnet der kalifornische Suchmaschinen-Konzern Google. Das Unternehmen beschloss, Software-Ingenieuren nach New York zu verlegen, um sie enger mit der Anzeigenabteilung zusammenarbeiten zu lassen - und trug so die Saat für ein Gründerbiotop aus, das inzwischen mit dem Silicon Valley konkurriert. Viele Google-Leute bauten eigene Firmen auf, verkauften sie und investierten die Erlöse in die nächste Gründer-Generation. Der Innovationskreislauf kam in Bewegung, erst behäbig, dann schneller und schneller. Heute gibt es, auch dies ein Symbol, im ganzen Bryant Park in der Mitte Manhattans kostenloses Internet - bereitgestellt von Google.

Fluch und Segen

Bürgermeister Michael Bloomberg unterstützt den Übergang von der Finanz- zur Technikmetropole massiv. Diese Woche stimmte der Stadtrat dem Bau einer riesigen Technischen Universität auf der Südspitze von Roosevelt Island im East River zu. Der "Tech Campus" gehört zur renommierten Cornell-Universität (Ithaca, New York), soll zwei Milliarden Dollar kosten und 48.000 Arbeitsplätze schaffen. So wie die Stanford University die intellektuellen Grundlagen für das Silicon Valley schuf, so soll der Campus auf Roosevelt Island Silicon Alley voranbringen. Mehr als 1000 Jungunternehmen würden in den kommenden drei Jahrzehnten aus der Universität heraus gegründet werden, versprach die New Yorker Stadträtin Jessica Lappin, nachdem das Projekt beschlossen war. Im kommenden Jahr soll der Bau beginnen.

Einer der größten Standortvorteile New Yorks im Wettbewerb um junge Firmen ist seine Bevölkerungsdichte. Nirgendwo sonst in den Vereinigten Staaten wohnen so viele gut ausgebildete Menschen auf so engem Raum. Niemand muss, wie im Großraum San Francisco, ins Auto steigen und stundenlang im Stau stehen, um Geschäftspartner zu treffen. Man fährt U-Bahn, Taxi, Fahrrad oder geht gleich zu Fuß. New York ist daher kommunikativer als das Silicon Valley.

Eine schäbige Dachkammer für 3000 Dollar im Monat

Doch ein Ballungsraum ist nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch. Wer nicht Anwalt, Banker oder Arzt ist, kann sich Wohnen in Manhattan kaum noch leisten. Eine schäbige Dachkammer kostet oft schon 3000 Dollar monatlich. Für junge Hochschulabsolventen ist das viel zu teuer. Und es wird noch schlimmer. Der letzte Schrei in der Bauszene von Manhattan heißt Ultraluxus. Nichts symbolisiert diesen Trend so sehr wie Manhattans neuester Wohnwolkenkratzer, der unter dem schlichten Namen "One 57 West" vermarktet wird. Er steht gegenüber der Carnegie Hall und wird, wenn er demnächst fertig ist, das höchste Apartmentgebäude New Yorks und das teuerste Wohnhaus der Welt sein. Das Penthouse, vor dessen Panorama-Fenstern sich der Central Park ausbreitet, wurde für 94 Millionen Dollar verkauft.

Wer sich so etwas leisten kann?

Eine hauchdünne Schicht von Superreichen. Ölscheichs, Hegefondsmanager, russische Oligarchen und neureiche Asiaten. Eine Chinesin legte vor ein paar Wochen 6,5 Millionen Dollar auf den Tisch, um für ihre zwei-jährige Tochter eine Wohnung in One 57 West zu kaufen.

"Alle Talente leben hier in Brooklyn"

Und hier kommt Dumbo ins Spiel. Brooklyn, der Stadtteil, über den noch bis vor kurzem Manhattaner die Nase rümpften, hat in den vergangenen Jahren einen unglaublichen Aufschwung erlebt. Heute gelten Brooklyner Viertel wie Williamsburg, Park Slope oder eben Dumbo als die hippesten der ganzen Stadt. Deren wichtigster Vorteil: Sie sind billiger als Manhattan. Deshalb ist es besonders für junge Leute und Familien attraktiv, nach Brooklyn zu ziehen. Erst kamen die Künstler, dann die Medienleute und Designer und nun sind es die Jungunternehmer, Unternehmensberater und Software-Leute.

In Brooklyn ist MakerBot zu Hause, einer der führenden Hersteller von 3D-Druckern in Amerika, im Stadtteil Red Hook produziert das Jungunternehmen Token "nachhaltige" Büromöbel. Und in Sunset Park soll noch in diesem Jahr die größte Dachfarm der Welt entstehen.

"New York ist eine Marke, die ist nicht zu schlagen"

Frage an CEO Aaron Shapiro: Warum sind Sie mit Ihrer Firma nach Brooklyn gegangen? Die verblüffend einfache Antwort: "Alle Talente leben hier in Brooklyn."

Im Ernst: alle? "Ja, für junge Softwareentwickler und Designer ist Manhattan unerschwinglich geworden. Und für uns ist Talent der entscheidende Wachstumsfaktor. Wir wollen da sein, wo die Talente wohnen." Das hat Weiterungen: Die jungen Leute, die heute in Webfirmen arbeiten, sind umweltbewusst und wollen mit dem Rad zur Arbeit fahren. In Brooklyn geht das. Und die bei Webfirmen beliebten loftartigen Büroflächen gibt es hier in Dumbos ehemaligen Lagerhäusern schon, sie müssen nicht erst neu gebaut werden.

Aber warum dann überhaupt in New York bleiben und nicht in eine billigere Stadt umziehen? "Sehen Sie", sagt Shapiro. "Wenn ein Unternehmer die beste Digitalagentur sucht, dann sucht er automatisch in New York. New York ist eine Marke, die ist nicht zu schlagen."

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