Großbritannien:Zwischen Euphorie und Furcht

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Futuristisch: Die britische BMW-Tochter Rolls-Royce präsentierte in London eine Studie, wie die Luxusschlitten in Zukunft aussehen könnten. (Foto: Chris Ratcliffe/Bloomberg)

Vom Brexit-Blues ist vordergründig betrachtet nichts zu erkennen. Doch die kommenden Jahre werden schwierig.

Von  Björn Finke, London

Ein erstaunlicher Erfolg: In Großbritannien ist die Wirtschaft im vergangenen Jahr schneller als in allen anderen großen Industrienationen gewachsen. Das Bruttoinlandsprodukt legte 2016 um zwei Prozent zu, wie die Statistikbehörde des Königreichs berichtete. Das Wachstum in Deutschland war mit 1,9 Prozent eine Winzigkeit kleiner. Dabei hatten Volkswirte vor dem EU-Referendum gewarnt, dass ein Sieg des Brexit-Lagers die britische Konjunktur abwürgen könnte.

Doch Unternehmen und Verbraucher wollten sich einfach nicht an diese Vorhersage halten; die Wirtschaft wächst weiter. Die Arbeitslosigkeit ist nun so niedrig wie seit elf Jahren nicht mehr, und der Londoner Börsenindex FTSE 100 brach Rekorde. Nur der Verfall des Pfundkurses seit der Volksabstimmung trübt das Bild.

"Unternehmen zögern mit Entscheidungen, bis größere Klarheit herrscht."

Allerdings gehen Ökonomen davon aus, dass die Brexit-Entscheidung die Wirtschaft in diesem und den kommenden Jahren wirklich belasten wird, das Wachstum dürfte an Tempo verlieren. So verteuert das schwache Pfund Importgüter, etwa Lebensmittel. Die Preise werden steigen, und die Verbraucher, bisher eine Stütze der Konjunktur, werden sich mit größeren Anschaffungen zurückhalten. Zudem werden Manager wegen der Unsicherheit über die künftigen Handelsbeziehungen Investitionen aufschieben oder Stellen verlagern.

Großbritannien ist ein Land zwischen Boom und Angst vor dem Absturz.

Diese seltsame Mischung aus Euphorie und Furcht beherrscht auch die wichtige Autobranche. Die beschäftigt fast 170 000 Menschen auf der Insel, sie schreibt eine der wenigen Erfolgsgeschichten in der seit Jahrzehnten siechenden britischen Industrie.

Mike Hawes, Chef der Branchenvereinigung SMMT, steht in der Londoner Verbandszentrale hinter dem Rednerpult, eingerahmt von einem Jaguar F-Pace und einem Nissan Leaf. Jaguars Pseudo-Geländewagen und das Elektroauto haben nicht viel gemein, außer dass beide in Großbritannien gefertigt werden. Insgesamt verließen 2016 etwa 1,7 Millionen Fahrzeuge die 15 Autofabriken des Königreichs, fast ein Zehntel mehr als im Vorjahr. Gut 1,3 Millionen davon wurden exportiert - ein Rekord. Hawes schwärmt bei der Vorstellung der Jahreszahlen von der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts. Aber vor allem warnt er, dass der Brexit genau diese Wettbewerbsfähigkeit bedroht.

Der Boom der Branche sei "Ergebnis bedeutender Investitionen in den vergangenen Jahren", sagt er. Doch 2016 investierten die Automanager ein Drittel weniger als im Vorjahr. "Unternehmen zögern mit Entscheidungen über Investments, bis größere Klarheit herrscht", sagt Hawes: größere Klarheit darüber, welche Hürden der Brexit den Konzernen in den Weg legt.

Mehr als die Hälfte der Exporte geht in die EU. Deutschland ist hier der wichtigste Markt; auf deutschen Straßen sind die Modelle Opel Astra und Toyota Auris die beliebtesten Fahrzeuge aus britischer Produktion. 2019 wird das Königreich die Union verlassen. Premierministerin Theresa May will bis dahin ein Freihandelsabkommen mit Brüssel abschließen. Gelingt das, fallen auch in Zukunft keine Zölle an.

Aber es wird sehr schwierig, in der kurzen Zeit einen so komplizierten Vertrag zu verhandeln. Scheitern die Gespräche, unterliegen Exporte den Regeln der Welthandelsorganisation WTO. Und die sehen Zölle von zehn Prozent für Autos vor. Die Fahrzeuge würden also auf dem wichtigsten Exportmarkt, in der EU, teurer, oder die Fabriken müssten entsprechend ihre Kosten senken. Außerdem will May die Zollunion der EU verlassen. Dies bedeutet, dass demnächst wieder Zöllner Lastwagen an der Grenze kontrollieren, in Nordirland oder in den Häfen von Dover und Calais. Das ist selbst dann nötig, wenn zwischen Königreich und EU dank eines Freihandelsabkommens keine Zölle erhoben werden.

"Das Verlassen der Zollunion verursacht ähnliche Kosten wie der Zehn-Prozent-Zoll", sagt Hawes. 59 Prozent der Zulieferteile wird aus dem Ausland eingeführt, das Meiste aus der EU. Bisher halten die Fabriken nur Teile für wenige Produktionsstunden auf Lager. Das funktioniert nicht mehr, wenn Zollkontrollen den steten Nachschub verzögern könnten. Die Automanager müssen zusätzliche Lager aufbauen, müssen sich mit Zollpapieren herumschlagen. "Die Kosten von Zöllen und dem Verlassen der Zollunion woanders einzusparen, würde sehr schwer, und die Gewinnmargen der Werke sind hauchdünn", klagt Hawes. Die Folge: Internationale Autokonzerne könnten lieber Standorte in der EU auswählen, um neue Modelle zu fertigen. Die mit Abstand größte Fabrik des Landes gehört etwa Nissan aus Japan. Der Aufschwung der Branche wäre vorbei, Jobs wären bedroht.

In den Gesprächen mit Brüssel will May Sonderregeln für wichtige Sparten wie die Auto- und Finanzindustrie aushandeln. Für sie sollen die Vorteile des EU-Binnenmarktes und der Zollunion irgendwie weiter Bestand haben. Verbandschef Hawes ist skeptisch: "Wirtschaftliche Argumente sprechen dafür, dass sich EU und London auf einen für beide Seiten guten Vertrag einigen", sagt er. "Aber politische Argumente sprechen dagegen. Und das EU-Referendum war ein Beispiel dafür, dass politische Argumente manchmal die Oberhand behalten gegenüber wirtschaftlichen."

© SZ vom 27.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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