Großbritannien unter Labour:Die Verlierer des Herrn Blair

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Der Premierminister wollte den Briten mehr soziale Gerechtigkeit bringen - zehn Jahre später sind die Unterschied zwischen Arm und Reich so groß wie nie.

Andreas Oldag

Diesen Ausblick bezeichnen Immobilienmakler in ihren Glamour-Anzeigen gern als "großartig'' oder "herrlich''. Wenn Harry Hallowes vor die Haustür tritt, schweift sein Blick über die sanften Hügel des Hampstead Heath, jener berühmten und exklusiven Parklandschaft im Norden Londons.

Sie ist umgeben von den Villen der "Fat Cats'', der fetten Katzen. So nennt man die Reichen und Superreichen in der Themse-Metropole - Banker, Hedge-Fonds-Spekulanten, Kaufleute und Rockstars. Harry Hallowes ist ein Außenseiter in dieser feinen Gesellschaft.

Der 71-Jährige hat weder Millionen auf dem Konto noch Aktien im Depot. Er besitzt überhaupt kein Geld. Er will auch keines. Der gebürtige Ire ist ein Tramp, ein armer Tropf, und könnte eine Romanfigur von Jack London oder Charles Dickens sein.

"Reichtum bedeutet mir nichts"

Ich habe keine Bedürfnisse. Reichtum bedeutet mir nichts'', sagt der alte Mann, dessen fleckige Steppjacke mit einer Sicherheitsnadel zusammengehalten wird. Und doch ist Hallowes begütert: Das Fleckchen Land am Hampstead Heath, auf dem er seit 18 Jahren in einer windschiefen Holzbude wohnt, gehört ihm.

Ein Gericht hat ihm gerade das Eigentumsrecht für das 900 Quadratmeter große Grundstück zugesprochen. Seit 2005 hatten Investoren vergeblich versucht, ihn zu vertreiben. Doch die Richter entschieden zugunsten Hallowes: Nach britischem Recht geht Land in den Besitz desjenigen über, der mindestens zwölf Jahre dort unbehelligt lebte.

Damit wurde er theoretisch zum Millionär. Sein Grundstück ist etwa 2,5 Millionen Euro wert. Einziger Nachteil: Eine Baugenehmigung wird der moderne Diogenes kaum erhalten. Daher steht der Wert seiner Parzelle nur auf dem Papier.

Kein Zufall aber ist, dass die Geschichte von Hallowes jetzt von den britischen Medien begierig aufgegriffen wurde. "Harry im Glück'', schrieb der Evening Standard. In Großbritannien sorgen solche Schicksale für Aufsehen, weil Hallowes einerseits den Traum vom schnellen Reichtum verkörpert.

Andererseits gehört Hallowes weiter der immer größer werdenden Unterschicht an. Er zelebriert seine Armut sogar. In kaum einem anderen westeuropäischen Land sind die sozialen Unterschiede so groß wie auf der Insel. Vielen Briten wird bewusst, dass sie sich immer weniger leisten können.

Zehn Jahre ist es her, dass der damals frisch gewählte Premierminister Tony Blair mit seinem Programm von "New Labour'' seine Wähler begeisterte. Es sollte dem Land wirtschaftlichen Wohlstand, aber auch mehr soziale Gerechtigkeit bringen.

Was bleibt am Ende der Ära Blair?

Ende Juni tritt Blair ab. Doch die Menschen fragen sich: Was ist von seinen optimistischen Visionen geblieben? Angesichts rapide steigender Lebenshaltungskosten und astronomisch hoher Mieten in Ballungszentren wie London hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert. Umfragen zeigen, dass die Menschen die Wirtschaftspolitik der Labour-Regierung als unsozial empfinden.

Zu einem harschen Urteil kommt die nationale Statistikbehörde ONS: "Die Ungleichheit bleibt im historischen Vergleich hoch'', so die Experten. Die Einkommensschere habe sich zwar Anfang der neunziger Jahre für kurze Zeit etwas geschlossen, sei jedoch dann wieder auseinandergegangen.

Großbritannien ist auf dem Weg zurück in die Zeit der eisernen Lady Margaret Thatcher, die in den achtziger Jahren einen sozialpolitischen Kahlschlag in Gang setzte. Vom jetzigen Konjunkturaufschwung profitieren vorwiegend die ohnehin Wohlhabenden sowie die neureichen Finanzjongleure aus dem Londoner Bankenviertel.

Die soziale Elite, die nur 0,1 Prozent der Einkommensbezieher ausmacht, konnte seit den neunziger Jahren nach einer Studie des Sozialforschers William Rubinstein von der Aberystwyth Universität ihren Wohlstand um 500 bis 600 Prozent steigern. Dagegen ist das Einkommen der ärmsten zehn Prozent der Briten gesunken - von 134 Euro wöchentlich im Jahre 2002 auf 130 Euro im Jahre 2006.

Zwar ist die offizielle Arbeitslosenquote in Großbritannien mit 5,5 Prozent viel niedriger als in den meisten EU-Staaten. Doch von einem Beschäftigungswunder ist das Land noch weit entfernt: Industriearbeitsplätze gehen weiter durch den Globalisierungsdruck verloren. Sie werden vor allem durch Billig-Jobs ersetzt, die kaum zur Sicherung des Lebensunterhalts reichen.

Die Folge ist: Knapp 5,4 Millionen Briten, das sind etwa 15 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung, sind nach Berechnungen des Arbeitsministeriums auf staatliche Leistungen angewiesen - eine Entwicklung, die mit den Hartz-IV-Reformen auch in Deutschland immer deutlicher wird.

Die Zahl der Briten, die von ihrem Arbeitgeber nur den Mindestlohn von acht Euro pro Stunde erhalten, hat sich in den vergangenen acht Jahren verdoppelt. Für Labour wird es zunehmend schwierig, die Wirtschaftspolitik als Erfolg zu verkaufen.

"Blair ist für das Land sozialpolitisch ein Rückschritt'', kritisiert der konservative Oppositionspolitiker und "Schattenfinanzminister'' George Osborne. Der 36-Jährige gehört zu einer jungen Garde von Politikern, die sich um Tory-Parteichef David Cameron scharen.

Konservative geben sich sozial

Ironie der Geschichte: Ausgerechnet die Erben Margaret Thatchers profilieren sich als soziales Gewissen des Landes - gegen die als kalte Technokraten verschrieenen Labour-Politiker.Die Tory-Propaganda kommt bei vielen Briten gut an. Auch für Steve und Clara McClaren (Name von der Redaktion geändert) gibt es keinen Zweifel, dass sie bei den nächsten Wahlen die Konservativen wählen.

"Wir waren eigentlich Fans von Blair'', sagt Steve McClaren. "Doch Labour hat uns schwer enttäuscht. Uns bleibt immer weniger Geld. In diesem Jahr müssen wir auf einen Urlaub verzichten.'' Dabei ist er ein gutverdienender Rechtsanwalt und wohnt in Londons gutbürgerlichem Stadtteil Fulham.

Die McClarens sind typische Vertreter des britischen Mittelstands. Eigentlich ist alles vorhanden: Vom schmucken Reihenhaus bis zum neuen 3er BMW, der von der Sozietät als Dienstwagen gestellt wird. Trotzdem ist das Leben der McClarens alles andere als luxuriös.

Wegen der ständig steigenden Kosten in einer der teuersten Metropolen Europas muss die Familie auf jedes Pfund schauen. Die Rechnerei beginnt schon bei den horrenden Gebühren für den Kindergarten des Sohnes Ewan. "Wir zahlen 1000 Pfund im Monat für eine ganz normale Kinderbetreuung'', berichtet Clara McClaren. Das sind umgerechnet 1.500 Euro.

Die 41-jährige Mutter kümmert sich jetzt bereits um eine Schule für ihren vierjährigen Sohn. Eine Prozedur, die Londoner Familien zu wahren Verrenkungen treibt. Weil die staatlichen Lehranstalten vielerorts nur ein bescheidenes Niveau haben, bevorzugen viele Eltern für ihre Kinder eine Privatschule.

Doch das hohe Schulgeld können auch besserverdienende Familien kaum aufbringen. Die Alternative ist eine konfessionelle Schule. Doch um die muss man sich intensiv bemühen. "Wir gehen neuerdings jeden Sonntag in die Kirche. So verdienen wir uns die Eintrittskarte für eine gute Schule'', sagt Clara McClaren offen.

Während es sich die McClarens noch leisten können, eine Adresse in London zu haben, treiben die hohen Lebenshaltungskosten viele Normalverdiener wie Krankenschwestern, Polizisten oder Sekretärinnen zur Stadtflucht. Apartments, die Schuhkartons gleichen, sind mit Mieten von 2200 Euro und mehr pro Monat für diese Gruppe unerschwinglich.

Großstädte zu teuer für Angestellte

Nach einer Studie der Bank Halifax sind knapp zwei Drittel aller britischen Großstädte für Angestellte im öffentlichen Dienst zu teuer geworden. Chancen auf billigeres Wohnen gibt es nur weitab der Zentren. Der Exodus hat weitere negative Folgen - auch für die Umwelt: Millionen von Berufs-Pendlern drängeln sich täglich in überfüllten Vorortszügen oder auf verstopften Autobahnen.

Stadtplaner warnen, dass Städte wie London zu einer rigiden Zweiklassengesellschaft werden: Eine kleine Schicht von Reichen und Superreichen, die in Villen und Luxusapartments wohnt, und diejenigen, die ganz unten sind und in den Sozialbauten des Londoner Südens leben.

Stadtteile wie Peckham, Clapham, Brixton und Lambeth werden zu Gettos der "working poor'', der arbeitenden Armen. Dieses Prekariat, wie es neudeutsch heißt, schuftet für Minimallöhne in Schnell-Restaurants, Telefonzentralen und Reinigungsbetrieben.

In den Mietskasernen an der Jamaica Road oder der Old Kent Road versteckt sich die Armut hinter grauen Gardinen. Jugendliche lungern auf der Straße herum. Knurrende Kampfhunde sind ihr Statussymbol. Die Zahl der gefährlichen Vierbeiner steigt hier proportional zur Höhe der staatlichen Sozialhilfe.

Laurence Cavanag ist Mitglied einer Jugend-Gang. Der 17-Jährige hängt meist mit seinen Kumpels vor einem Kiosk herum. Dort trinken sie billiges Bier. Alle tragen Einheitskluft: Baggy-Jeans und Kapuzen-Sweatshirts. In ihren I-Pods dröhnen harte Hip-Hop-Rhythmen. Er habe zu nichts Lust, sagt Cavanag.

Zu einem geregelten Job schon gar nicht. Manchmal verdient er sich ein paar Pfund als Hilfskraft in einer Spedition. Cavanag wohnt bei seinen Eltern. Mit dem Handel von Ecstacy-Pillen ließe sich am besten Geld machen, behauptet der Jugendliche mit den raspelkurz geschnittenen Haaren. Doch leider habe er keinen Kontakt zu den Tabletten-Küchen.

So wie er denken viele seines Alters. Sie sehen für sich kaum Chancen, in der britischen Leistungsgesellschaft. Sie fühlen sich als Verlierer des Marktliberalismus à la Blair. Von einer "verlorenen Generation'' schreibt der konservative Daily Telegraph. Soziologen nennen sie die "neets''.

Kreislauf der Armut

Die Abkürzung steht für: "not in education, employment or training'' - nicht in Ausbildung, Anstellung oder Schulung. Etwa ein Fünftel aller britischen Jugendlichen zählt zu dieser Gruppe, schätzen Experten. Hilfsorganisation wie "Child Poverty Action Group'' (CPAG) bemühen sich, den Kreislauf von Armut, schlechter Erziehung und mieser Ausbildung zu durchbrechen.

Doch es sei eine Sisyphus-Arbeit, räumt Tim Nicholson ein. Der 35-jährige CPAG-Mitarbeiter hockt in einem karg ausgestatteten Büro im Londoner Stadtteil Islington. Die CPAG wird vor allem durch private Spenden finanziert. Sie versteht sich als Lobby-Organisation, gegen Kinderarmut.

"Es ist egal, wer regiert - Labour oder Tory. Hauptsache, für Kinder und Jugendliche wird mehr getan. Es geht um die Zukunft unseres Landes'', sagt Nicholson.

Auch Harry Hallowes aus dem reichen Hampstead Heath liegt die Zukunft Großbritanniens am Herzen. Er träumt davon, dass eines Tages der Reichtum des Landes gerechter verteilt werden wird. "So geht es nicht weiter. Das große Geld ist zum Maß aller Dinge geworden'', meint der alte Mann und blickt versonnen auf seine schöne, grüne Parklandschaft.

© SZ vom 09.06.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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