Großbritannien:Schlechte Sicht

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Ein Oldtimer von Rolls-Royce fährt am Parlament in London vorbei: Die britische Automarke gehört BMW. (Foto: Matthew Lloyd/Getty Images)

Die Regierung in London will die Industrie nach ihrem langen Niedergang stärken. Vorbild ist die Auto-Branche. Doch den Firmen bereitet das EU-Referendum Sorgen, spätestens Ende 2017 soll abgestimmt werden.

Von Björn Finke, London

Rechts vom Rednerpult steht ein roter Nissan Qashqai, ein Pseudo-Geländewagen der Japaner. Links ein weißer Jaguar. Eins haben die beiden doch sehr unterschiedlichen Fahrzeuge gemein: Sie rollten in Großbritannien vom Fließband - wie 1,6 Millionen andere Autos im vergangenen Jahr. Diese Zahl verkündete der Mann hinter dem Rednerpult, Mike Hawes. Der ist Chef des Verbands der britischen Auto-Industrie SMMT und berichtete am Donnerstag in London über die Lage der Branche. Und über die Risiken, die das Referendum über einen Austritt des Landes aus der EU mit sich bringt.

Die Auto-Hersteller schreiben eine der seltenen Erfolgsgeschichten in der britischen Industrie. Sie fertigten 2015 vier Prozent mehr Fahrzeuge als im Vorjahr und exportierten so viele Autos wie noch nie: gut 1,2 Millionen. In den Export geht mehr als Dreiviertel der Produktion. Nach Deutschland und Spanien ist das Königreich der drittgrößte Fahrzeug-Hersteller der EU.

Eine erstaunliche Wiederauferstehung: Die britische Auto-Branche erlebte wie die ganze Industrie des Landes seit den Siebzigerjahren einen langen Niedergang. Es wurde viel gestreikt und wenig investiert; Fahrzeuge von der Insel erwarben sich einen Ruf für ihre Unzuverlässigkeit. Hersteller wie Rover verschwanden, andere wie Rolls-Royce wurden von ausländischen Konzernen gerettet, im Fall der Luxusmarke von BMW.

Doch inzwischen boomt die Branche wieder, vor allem dank Investoren aus der Fremde. Das größte Werk betreibt der japanische Hersteller Nissan in Sunderland im Norden Englands. Das verließen im vergangenen Jahr 477 000 Autos, mehr als in sämtlichen italienischen Auto-Fabriken zusammen. Und die Geschäfte bei den britischen Anbietern Jaguar Land Rover - gehört dem Tata-Konzern aus Indien -, Mini und Rolls-Royce (beide BMW) oder Bentley (Volkswagen) laufen ebenfalls: schön für die insgesamt 160 000 Beschäftigten der Industrie-Sparte auf der Insel.

Geht es nach der konservativen Regierung, soll der Aufstieg der Auto-Hersteller Vorbild für andere Industrie-Branchen sein. London will die gesamte Industrie nach ihrem langen Siechtum wieder stärken. Die Wirtschaft soll weniger abhängig vom Wohl und Wehe der Banken und Versicherer werden - eine Lehre aus der Finanzkrise. Bislang ist das aber nur ein frommer Wunsch: In den vergangenen Monaten machten in der Industrie vor allem Stahl-Konzerne Schlagzeilen, und zwar schlechte. Die Sparte kämpft ums Überleben, Tausende Jobs fallen weg.

Bei allen freundlichen Worten für die Industrie ist die Regierung zugleich Schuld an einer Sorge, die viele Manager umtreibt: die Unsicherheit über die EU-Mitgliedschaft. Premier David Cameron lässt das Volk bis spätestens Ende 2017, aber wahrscheinlich schon in diesem Frühsommer über einen Austritt abstimmen.

Die anderen EU-Staaten sind der wichtigste Exportmarkt des Landes. Das gilt auch für die Auto-Branche. Hier steht die Union für mehr als die Hälfte der Ausfuhren, und ihr Anteil steigt. Umso härter würde ein Brexit, ein Austritt, die Firmen treffen. Verbands-Chef Hawes sagt, die Mitgliedschaft sei "unerlässlich", wenn die Auto-Industrie weiter wachsen und Jobs schaffen solle. "Viele ausländische Hersteller sehen einen Standort in Großbritannien als Sprungbrett für ihre Geschäfte in Europa an", sagt er. Die Europäische Union zu verlassen, bedrohe diese Investitionen. Einer Umfrage zufolge sprechen sich 92 Prozent der Unternehmen im Verband für einen Verbleib aus.

Die britische Regierung will sich bis zum EU-Gipfel Mitte Februar mit den anderen Mitgliedsstaaten auf Änderungen im Verhältnis des Königreichs zur EU einigen. Unter anderem möchte London durchsetzen, dass Einwanderer aus der EU erst nach vier Jahren Sozialleistungen erhalten. Premierminister Cameron will dann mit dem erhofften Verhandlungserfolg zu Hause für einen Verbleib in dieser reformierten Europäischen Union werben.

Die meisten Umfragen sagen eine knappe Mehrheit für die EU voraus. Käme es wirklich zum Brexit, müsste Großbritannien in mühsamen Verhandlungen mit Brüssel erreichen, dass heimische Firmen weiterhin freien Zugang zum wichtigen EU-Binnenmarkt haben. Bis diese Gespräche abgeschlossen wären, würde Ungewissheit darüber herrschen, zu welchen Bedingungen in Zukunft Handel über den Ärmelkanal hinweg möglich ist - eine Schreckensvorstellung für viele Manager und Investoren.

Daher spricht sich die große Mehrheit der Unternehmer und Banker gegen eine Trennung aus. Es gibt allerdings auch eine kleine, aber lautstarke Minderheit im Wirtschaftslager, die für den Brexit trommelt. Premier Cameron forderte am Donnerstag beim Weltwirtschafts-Forum in Davos die Manager britischer Firmen auf, nicht still abzuwarten, sondern für einen Verbleib des Landes in der EU zu werben.

Die amerikanischen Investmentbanken Goldman Sachs, Morgan Stanley und JP Morgan, die alle große Büros in London haben, belassen es nicht beim Werben mit Worten. Sie spenden offenbar hohe sechsstellige Beträge an die Pro-EU-Kampagne im Königreich, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf ungenannte Insider: ein Investment in ungestörte Geschäfte mit dem Rest Europas.

© SZ vom 22.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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