Gewerkschaften:Vorteil klein und schlagkräftig

Massiver Mitgliederschwund, maue Tarifabschlüsse und schlechte PR: Deutschlands Großgewerkschaften verlieren an Schlagkraft. Tarifexperte Horst Tomann erklärt, warum.

Melanie Ahlemeier

Professor Horst Tomann unterrichtet am Institut für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte der Freien Universität Berlin. Die Tarifpolitik ist einer seiner Schwerpunkte.

Gewerkschaften: Streikbereite Banker: Auch die in der Finanzbranche Beschäftigen pochen auf Lohnerhöhungen.

Streikbereite Banker: Auch die in der Finanzbranche Beschäftigen pochen auf Lohnerhöhungen.

(Foto: Foto: AP)

sueddeutsche.de: Herr Professor Tomann, den Großgewerkschaften laufen die Mitglieder in Scharen davon. Was ist die Ursache?

Horst Tomann: Es gibt mehrere Ursachen. Ein statistischer Effekt ist die Wiedervereinigung. Zunächst sind etliche Ostdeutsche - ob sie wollten oder nicht - Gewerkschaftsmitglied geworden, die Mitgliedszahlen sind gestiegen. Allerdings hat sich das ganz schnell wieder reduziert, weil sich viele ostdeutsche Mitglieder entschlossen haben auszutreten.

sueddeutsche.de: Warum? Fühlten sie sich nicht gut aufgehoben?

Tomann: Die westdeutschen Gewerkschaften haben die Gelegenheit genutzt, um sich im Osten auszubreiten und Mitglieder zu werben. Sie haben versucht, eine rasche Einkommensangleichung durchzusetzen, weil die ostdeutschen Löhne deutlich niedriger waren. Dabei haben die Gewerkschaften in den ersten Jahren überzogen. Die Zusagen mussten zurückgenommen werden, weil die ostdeutsche Produktivität das einfach nicht hergegeben hat. Das war eine besondere Enttäuschung für die Ostdeutschen. Sie haben gesehen: Die Versprechungen werden nicht eingehalten.

sueddeutsche.de: Auch in den alten Bundesländern verabschieden sich immer mehr Arbeitgeber aus der Tarifbindung. Lohnt es sich noch, Mitglied einer Gewerkschaft zu sein?

Tomann: Im internationalen Vergleich ist die gewerkschaftliche Bindung in Deutschland schon längere Zeit vergleichsweise niedrig. Der Vorteil, Mitglied in einer Gewerkschaft zu sein, wird nicht mehr so groß eingeschätzt. Viele sind nicht mehr bereit, Beiträge zu bezahlen. Das gilt auch in den westlichen Bundesländern, aber der Rückgang im Osten ist stärker.

sueddeutsche.de: Die Arbeitsbedingungen in Deutschland haben sich massiv verändert: Arbeitsverträge haben heutzutage häufig kürzere Laufzeiten, der Wechsel des Arbeitsgebers ist Routine geworden. Haben es die Gewerkschaften versäumt, sich den modernen Arbeitsbedingungen anzupassen?

Tomann: Es ist sicherlich richtig, dass die Gewerkschaften diese stärkeren Anforderungen an Flexibilität auch bei den Tarifverhandlungen nur zögernd aufgenommen haben und immer noch versuchen, flächendeckende Tarifverträge abzuschließen, während die Arbeitgeber auf mehr Flexibilität drängen. Da haben die Gewerkschaften lange gemauert.

sueddeutsche.de: Dann sind die Gewerkschaften selbst Schuld am schlechten Image?

Tomann: In der öffentlichen Debatte herrscht momentan wieder mehr der Konsens, dass man die Gewerkschaften als Interessenvertreter wirklich braucht. Die Tarifvereinbarungen über Lohnhöhe und Beschäftigung sind nicht obsolet geworden, dafür braucht man die Gewerkschaften.

sueddeutsche.de: Kleine Gewerkschaften wie etwa Cockpit, Marburger Bund oder auch die GDL haben zuletzt deutlich höhere Lohnabschlüsse erzielt als die Großgewerkschaften. Wie ist das zu erklären?

Tomann: Die kleinen Gewerkschaften haben den Vorteil, dass sie eine kleine Gruppe vertreten, die aber doch den Betrieb lahmlegen kann - sie haben eine große Hebelwirkung, und die wird heutzutage genutzt. Die Verluste für das Unternehmen wären sehr groß. Andererseits ist der Anteil der Beschäftigten im Unternehmen, der von dieser Gewerkschaft vertreten wird, klein. Man gibt ihnen eher nach, weil das Unternehmen diese Lohnerhöhung eher verkraftet.

sueddeutsche.de: Was genau haben die großen Gewerkschaften wie Verdi versäumt?

Tomann: Verdi hat es versäumt, besondere Interessen bestimmter Berufsgruppen zu berücksichtigen. Alle Berufsgruppen sollten die gleiche Lohnerhöhung bekommen. Es gibt aber den Bedarf einer Veränderung der Lohnstruktur: Besondere Aufgaben mit hoher Verantwortung müssen höher entlohnt werden. Das hat den kleinen Gewerkschaften dieses Oberwasser verschafft, sie haben ihr Verhandlungspotential genutzt und sich damit von den großen Gewerkschaften abgesetzt.

Lesen Sie weiter, was die großen Gewerkschaften von den kleinen lernen können.

Vorteil klein und schlagkräftig

sueddeutsche.de: Was können die großen von den kleinen Gewerkschaften lernen?

Gewerkschaften: Professor Horst Tomann

Professor Horst Tomann

(Foto: Foto: FU Berlin)

Tomann: Die großen Gewerkschaften haben eine gesamtwirtschaftliche Verantwortung, über die Verantwortung für das Unternehmen hinaus. Eine große Gewerkschaft kann sich so hohe Lohnforderungen, wie sie von den kleinen Gewerkschaften durchgesetzt wurden, nicht zum Ziel machen - man käme auf diese Weise in eine Inflation hinein. Momentan erleben wir hohe Preissteigerungen bei der Energie und bei Lebensmitteln. Für Gewerkschaften ist das eine große Versuchung, das mit deutlichen Lohnerhöhungen zu kompensieren.

sueddeutsche.de: In den siebziger Jahren hat es das bereits gegeben: Dem rasant steigenden Ölpreis folgten hohe Lohnabschlüsse, die wiederum heizten die Inflation weiter an.

Tomann: Der allgemeine Kostenanstieg breitet sich in so einer Situation über die gesamte Volkswirtschaft aus, dann kommen wir in die Inflation hinein. Die Europäische Zentralbank kann dann nicht untätig zusehen, sie muss dagegenhalten. Da bekommen wir entweder eine hohe Inflation oder - wenn die EZB erfolgreich eingreifen kann - eine höhere Arbeitslosigkeit. Im schlimmsten Fall haben wir beides.

sueddeutsche.de: Im Herbst nimmt die IG Metall ihre Tarifgespräche auf. Besteht die Gefahr, dass die Lohnforderungen zu hoch angesetzt werden?

Tomann: Die IG Metall hat aus den Erfahrungen gelernt. Außerdem muss man beachten, dass die IG Metall im Vergleich zu Verdi international in einem ganz anderen Wettbewerb steht. Die Globalisierung, der europäische Binnenmarkt und die Währungsunion geben dem produzierenden Gewerbe die Möglichkeit, den Produktionsort problemlos zu verlagern. Das hat den Unternehmen eine sehr viel stärkere Verhandlungsmacht verschafft, und die IG Metall spürt das. Die aggressiven Lohnforderungen finden sich eher in den Dienstleistungsbereichen, die nicht so stark im internationalen Wettbewerb stehen.

sueddeutsche.de: Die hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften werden häufig dann öffentlich, wenn es mit der Konjunktur schon wieder bergab geht. Brauchen Gewerkschaften neue Strategien inklusive kürzerer Tarifvertragslaufzeiten, um der Konjunktur nicht ständig hinterherzuhecheln?

Tomann: In dieser Debatte treten neue Lohnformen wie eine Gewinnbeteiligung oder ein Investivlohn wieder in den Vordergrund. Aus Sicht der Unternehmen ist das eine durchaus sinnvolle Strategie - sinnvoller als kurze Laufzeiten. Unternehmen drängen immer auf lange Laufzeiten, weil sie Planungssicherheit über die kommenden Jahre haben wollen, denn die Löhne stellen einen festen Ausgabenblock dar.

sueddeutsche.de: Ist die Verhandlungsposition der Arbeitgeber im Rückblick auf die vergangenen Jahre stärker geworden?

Tomann: Die Lohnquote und damit der Anteil der Lohneinkommen am gesamten Einkommen in der Volkswirtschaft ist deutlich zurückgegangen, das signalisiert die veränderte Verhandlungsmacht - und die verringerte Verhandlungsmacht der Gewerkschaften.

Lesen Sie weiter, warum Bsirskes Lufthansa-Flug in die Südsee ein Fehler war

Vorteil klein und schlagkräftig

Gewerkschaften: Pfeifkonzert: Vier Tage lang streikten die Lufthansa-Angestellten, dann wurde zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein Kompromiss erzielt.

Pfeifkonzert: Vier Tage lang streikten die Lufthansa-Angestellten, dann wurde zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein Kompromiss erzielt.

(Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: 2001 haben sich bis dato fünf selbstständige Gewerkschaften zur Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft, kurz Verdi, zusammengeschlossen. Ein gelungenes Modell?

Tomann: Verdi ist anders als der DGB kein Bund, sondern eine große Einzelgewerkschaft. Verdi verhandelt für alle Einzelmitglieder - sei es bei der Lufthansa, im öffentlichen Dienst oder im Einzelhandel. Das ist eine Reaktion auf die Verminderung der Verhandlungsstärke. Verdi hat in der öffentlichen Wahrnehmung Gewicht.

sueddeutsche.de: Verdi-Chef Bsirske fliegt mit der Lufthansa in die Südsee, seine Mitglieder bestreiken die Fluggesellschaft. Ist der Bezug zur Basis völlig abhandengekommen?

Tomann: Durchaus. Das, was Verdi-Chef Bsirske sich da geleistet hat, ist wirklich ein Fehler. Das wird ihm auch schaden. Er hat versucht, einem Konflikt zu entgehen, indem er einfach in Urlaub geht - aber in diesem Konflikt steckt er, weil er sowohl stellvertretender Aufsichtsratschef der Lufthansa als auch Verdi-Führer und damit für den Abschluss verantwortlich ist.

sueddeutsche.de: Welche Konsequenzen müsste Bsirske nach diesem Fiasko ziehen?

Tomann: Er müsste eines der Ämter aufgeben, denn er verfügt über Insiderinformationen. Diesen Konflikt kann er auf Dauer nicht aushalten, den muss er lösen.

sueddeutsche.de: Auch DGB-Chef Michael Sommer nimmt mehrere Aufsichtsratsmandate wahr.

Tomann: Bei ihm ist das unbedenklich. Michael Sommer ist nicht Führer einer Gewerkschaft, der Vorsitz im DGB ist eine sehr schwache Position, seine Machtfülle ist auch innerhalb des Gewerkschaftslagers sehr gering. Seine Funktion ist lediglich, die Gewerkschaftsposition in der Öffentlichkeit darzustellen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: