Gesundheitsindustrie:Heilen mit Big Data

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Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)

Jedem Patienten seine individuelle Therapie: Mithilfe von DNA-Tests wollen Softwarefirmen das möglich machen. Aber es gibt große ethische und finanzielle Hindernisse.

Von Kim Björn Becker

Die Sofas sind aus Leder, knallrot, wie im Fernsehen. Der Stehtisch daneben kommt aus einer Turnhalle, brauner Sprungkasten, Erinnerungen an den Sportunterricht werden wach. Und ganz vorne steht Pablo Mentzinis, Anzug, keine Krawatte, er sagt: Schön, dass Sie da sind.

So start-up-mäßig sieht es aus, wenn das Softwareunternehmen SAP den Bundesgesundheitsminister empfängt. Draußen ist es regnerisch und vergleichsweise kühl, obwohl der Kalender Mitte August anzeigt, drinnen besucht Hermann Gröhe (CDU) das "Apphaus", wie SAP sein Heidelberger Denklabor nennt. In den unkonventionell eingerichteten Räumen arbeiten Informatiker und andere Fachleute an den Zukunftsprojekten des Konzerns, und einige dieser Projekte haben mit Gesundheit zu tun - darum auch der Besuch des Ministers. Die Vision der Ingenieure: Daten und Algorithmen sollen in Zukunft bewirken, dass Gesunde nicht zu Kranken werden und dass es Kranken bessergeht.

Big Data ist ein großes Thema, nicht nur, aber auch im Gesundheitswesen. Und SAP ist eine von vielen Firmen, die in dem lukrativen Zukunftsmarkt mitmischen. "Die Puzzleteile fügen sich zusammen", so beschreibt Hermann Gröhe, was Big Data in der Medizin leisten kann. In anderen Industrien ist die Analyse großer Datenmengen längst etabliert. Internetkonzerne werten das Surfverhalten der Nutzer aus und blenden diesem dann passgenaue Anzeigen ein; Kommunikationsprofis untersuchen in Echtzeit Debatten in sozialen Netzwerken und leiten daraus Handlungsempfehlungen für Politiker oder Firmen ab; Analysten ziehen Schlüsse aus Verkehrsdaten und empfehlen dem Autofahrer eine Route ohne Stau. Die Liste der Big-Data-Anwendungen ließe sich noch lange fortsetzen.

Im Gesundheitswesen sind die Hürden jedoch höher als andernorts. Denn anders als bei Einkäufen, Netzkommentaren und Stauinfos wird hier mit Gesundheitsdaten gearbeitet. Diagnosen, Blutwerte, DNA - es sind Informationen, die als ungleich sensibler wahrgenommen werden als etwa das Konsum- und Mobilitätsverhalten. Deshalb sind Gesundheitsdaten auch nur eingeschränkt verfügbar. Jeder behandelnde Arzt ist gesetzlich zur Verschwiegenheit verpflichtet, sofern ihn der Patient davon nicht ausdrücklich entbindet.

Pro Patient werden in Heidelberg drei Milliarden Geninformationen ausgewertet

Und doch sind die Erwartungen an eine moderne Medizin, die sich auf verfügbare Daten stützt, riesig. Von einzelnen "Datensilos", die man zusammenführen müsse, spricht Pablo Mentzinis, der bei SAP für Regierungsbeziehungen zuständig ist. Zusammen mit einigen Partnern arbeitet das Softwareunternehmen daran, Krebstherapien mittels Big Data zu optimieren. Denn noch immer kommt es vor, dass Patienten mit derselben Tumorerkrankung auf dieselbe Standardtherapie unterschiedlich ansprechen. Eine Genanalyse soll nicht nur die Frage beantworten, warum das so ist, sondern auch alternative Therapiemöglichkeiten aufzeigen. "Präzisionsmedizin" nennt das der Bioinformatiker Roland Eils vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg.

Wenn sich genug Patienten zu einem DNA-Test bereit erklären, können Datenanalysten vielleicht Muster finden. Unter Umständen führt eine Veränderung an einem einzelnen Gen dazu, dass jemand auf eine Chemotherapie, die der Mehrheit der Betroffenen gut hilft, kaum anspricht. Diesen Erkenntnisgewinn können derzeit nur Big-Data-Analysen liefern. Sie setzen aber voraus, dass nicht nur hinreichend viele Daten vorhanden sind, sondern die verfügbaren Informationen auch entsprechend tief gehen. In Heidelberg zum Beispiel werden pro Patient etwa drei Milliarden Geninformationen ausgewertet und jede einzelne Information wird 120 Mal ausgelesen, damit Fehler im Datensatz ausgeschlossen werden können. Etwa vier Stunden braucht der Computer, um die neue Daten zu erzeugen und sie mit der bestehenden Datenbank abzugleichen.

Denkt man die Entwicklung noch einen Schritt weiter, dann besteht die Therapie der Zukunft aus individuellen Medikamenten, die auf der Grundlage einer Gen-Analyse und von entsprechenden Big-Data-Berechnungen zusammengestellt werden. Die Zeit, in der es lediglich ein Präparat für unterschiedlichste Patientengruppen gab, die an derselben Krankheit litten, wäre vorüber. Molekulare Medizin ist so einzigartig wie jeder Patient, das ist die Vision. SAP-Mitarbeiter vergleichen die bisherigen Therapiewege gern mit dem Schwarz-Weiß-Fernsehen der Fünfzigerjahre. "Was wir wollen, ist ein hochauflösendes Retina-Display", sagt einer von ihnen.

Doch die schöne neue Welt hat ihren Preis, und das ist für das Fortkommen von Big Data in der Medizin noch immer ein großes Problem. Solange ein neues Verfahren nicht von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen wird, ist es für Firmen und Patienten meist gleichermaßen uninteressant. Für die Firmen, weil sie sich nicht sicher sein können, ob ihre Innovation auch in ausreichendem Maße nachgefragt wird und Geld einbringt; für die Patienten, weil der medizinische Fortschritt ihnen nicht auf breiter Front zugute kommt.

Etwa 328 Milliarden Euro wurden 2014 in Deutschland für Gesundheit ausgegeben, hat das Statistische Bundesamt berechnet. Fast zwei Drittel davon entfielen auf die gesetzlichen Krankenkassen. Der Markt ist riesig, und viele wollen von ihm profitieren. Doch um in diesen Genuss zu kommen, müssen Unternehmen wissenschaftlich nachweisen, dass ihre Lösung einen Zusatznutzen bringt - es ist ein Nachweis, der nicht immer leicht zu führen ist. Die Prüfer sind aus guten Gründen äußerst streng.

Schon heute finden sich aber auch Menschen, die bereit sind, viel eigenes Geld für ihre Gesundheit auszugeben. Anbieter von Big-Data-Verfahren setzen im Moment vor allem auf sie. Eine Gen-Analyse in der Krebstherapie, um im Heidelberger Beispiel zu bleiben, kostet derzeit etwas unter 1000 Euro. Wer zudem einen Datenabgleich samt Therapieempfehlung haben will, zahlt das fünffache, alles aus eigener Tasche, versteht sich.

Mitarbeiter von SAP und dem Krebsforschungszentrum gehen davon aus, dass bis zum Jahresende etwa 2500 schwer kranke Patienten dieses Geld investiert haben werden. Sie erhoffen sich davon eine bessere Prognose, ein um ein paar Wochen verlängertes Leben. Im kommenden Jahr werden 3500 Patienten erwartet. Bei etwa 65 Prozent von ihnen zeige sich auch eine genetische Auffälligkeit, hat die Erfahrung der Heidelberger Analysten ergeben. Die Betroffenen erhielten dann eine Empfehlung für ein anderes Medikament.

© SZ vom 15.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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