Gesundheitsbranche:Daten statt Pillen

Gesundheitsbranche: Fünf Millionen Frauen auf der ganzen Welt überwachen mit der App Clue ihren Zyklus.

Fünf Millionen Frauen auf der ganzen Welt überwachen mit der App Clue ihren Zyklus.

(Foto: Jessy Asmus/SZ.de)

Seit Erfindung der Anti-Baby-Pille vor 80 Jahren hat sich auf dem Gebiet der Frauenmedizin kaum etwas getan. Das wollen Femtechs nun ändern - Start-ups, die sich mit Frauengesundheit befassen.

Von Sophie Burfeind und Andrea Rexer

Die dunklen Apothekerschränke an den Wänden erwartet man nicht hier. Nicht im obersten Stockwerk eines Berliner Hinterhof-Büros, das nur über einen Lastenaufzug erreichbar ist. Die Mitarbeiter, die hier an den langen Schreibtischen hinter ihren aufgeklappten Laptops sitzen, haben vermutlich noch nie eine der unzähligen kleinen Holzschubladen aufgezogen - und doch beschäftigen sie sich mit einem Gesundheitsprodukt. Allerdings einem rein digitalen: Sie arbeiten an der Frauengesundheits-App Clue, mit der fünf Millionen Frauen auf der ganzen Welt ihren Zyklus überwachen.

Anstatt Pillen und Hustensäften sind in einem der Schränke hinter Glasschiebetüren kleine Figuren ausgestellt: Es sind Abbilder der Mitarbeiter, aus dem 3-D-Drucker. Auch Gründerin Ida Tin blickt einem in Miniaturform entgegen. Dabei ist das, was sie vorhat, alles andere als klein - die in Berlin lebende Dänin will die globale Gesundheitsbranche verändern, genauer gesagt: die Gesundheitsversorgung für Frauen. Denn der weibliche Körper spielt noch immer kaum eine Rolle - egal, ob in der Medizinforschung oder bei konkreten Angeboten von Gesundheitsunternehmen. Und das, obwohl Frauen, also potenzielle Kundinnen, die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen. Frauen wie Ida Tin haben darin eine gigantische Marktlücke erkannt.

Tin, die Pionierin auf diesem Gebiet, hat dafür einen Begriff geprägt, der inzwischen weltweit gebräuchlich ist: Femtech. Eine Kombination aus den Wörtern "female" und "technology". Er meint Start-ups, die sich mit technischen Innovationen rund um die Frauengesundheit befassen. Nach einer Schätzung des US-Analysehauses CB Insights steckten Investoren in die 45 größten Femtech-Start-ups seit Anfang 2014 mehr als eine Milliarde US-Dollar.

Der Boom dieser Femtechs hat mehrere Gründe: Zum einen berücksichtigen sowohl die Medizin- als auch die Pharmabranche seit etwa 20 Jahren stärker, dass Arzneimittel und Therapien bei Männern und Frauen sehr unterschiedlich wirken können. Einer der Auslöser für das Umdenken vieler Forscher war eine Studie, die feststellte, dass die Behandlung chronischer Herzinsuffizienz bei Frauen ganz anders - in dem Fall deutlich schlechter - wirkte als bei Männern.

Gesundheitsbranche: Sie wollen die Gesundheitsbranche für Frauen revolutionieren: Ida Tin (links) hat die App Clue entwickelt, die den weiblichen Zyklus überwacht, Katrin Reuter den Sensor Trackle. Er ermittelt die fruchtbaren Tage.

Sie wollen die Gesundheitsbranche für Frauen revolutionieren: Ida Tin (links) hat die App Clue entwickelt, die den weiblichen Zyklus überwacht, Katrin Reuter den Sensor Trackle. Er ermittelt die fruchtbaren Tage.

Andererseits verändert die Digitalisierung den gesamten Gesundheitsbereich. Die Möglichkeit, große Datenmengen schnell zu verarbeiten, Prozesse zu digitalisieren und Geräte miteinander zu verbinden, werden von allen genutzt. Von der Biotechnologie- und Pharmaforschung, im Arzneimittelgroßhandel, von Apothekern, Klinikbetreibern und Krankenkassen - sie alle wandeln sich.

Als Ida Tin Clue im Jahre 2012 gründete, war sie eine Vorreiterin. Inzwischen ist der Wettbewerb unter den Gesundheits-Apps groß geworden. Zudem hat sich der Bereich, in dem die Femtechs arbeiten, deutlich vergrößert. Es geht nicht mehr nur um Software, viele Gründer experimentieren auch mit Hardware wie Pulsmessern oder Thermometern, um den weiblichen Körper zu vermessen. Viele der Start-ups, die sich mit dem Thema Frauengesundheit befassen, werden auch von Frauen geführt. Ihre Motivation, zu gründen, ähnelt sich häufig: Sie sind in ihrem Alltag auf ein Problem gestoßen, das sie lösen wollen.

Es ist nicht leicht, vor Investoren über Themen wie Familienplanung zu reden

Katrin Reuter erinnert sich noch gut an den Moment, als es endgültig zu kompliziert wurde. Es war morgens, sie saß auf ihrem Bett, in der einen Hand das Handy, in der anderen das Thermometer, sie tippte Daten ein und rechnete. Sie wollte ihre fruchtbaren Tage bestimmen, symptothermale Methode nennt man das. Weil sie gerade ein kleines Kind hatte und wenig schlief, konnte sie die Messungen nicht ohne Probleme machen. Sie musste nachmessen und neu eintippen, sie vertippte und verrechnete sich. Wieso können Thermometer und Handy nicht einfach miteinander kommunizieren?, fragte sie sich entnervt. Sie beschloss, ein Gerät zu entwickeln, das genau das kann.

Vor zweieinhalb Jahren war das, als Reuter, heute 41 Jahre alt, begann, den Temperatursensor Trackle zu entwickeln. Trackle ist ein kleiner Sensor, den sich die Frau nachts wie ein Tampon einführt. Er soll dabei helfen, ihre fruchtbaren Tage zu bestimmen - um schwanger zu werden oder um zu verhüten. Der Sensor misst die Körperkerntemperatur, die beim Eisprung steigt, die Daten sendet er an eine App. "Man braucht immer den tiefsten Wert pro Nacht, den Basalwert", sagt Reuter. "Nur wenn man die ganze Nacht misst, hat man ihn sicher." Weil der Sensor die Daten direkt an das Handy schickt, könne man sich nicht mehr vertippen oder verrechnen.

Am Anfang entwickelte Reuter den Sensor nebenher, sie arbeitete als Projektmanagerin in der IT-Branche, ihr Mann und ein befreundeter IT-Spezialist halfen ihr dabei. In einem Bastelkeller löteten sie Platinen zusammen, steckten den Sensor in Tofu-Stücke und warfen ihn in Schwimmbecken, um zu testen, ob er funktioniert. "Im Spätherbst des vergangenen Jahres haben wir angefangen, das hauptberuflich zu machen, weil wir gemerkt haben, dass ein großes Interesse da ist an dem Thema." Anfang dieses Jahres haben die drei Gründer, die in Bonn leben, eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Im Herbst soll Trackle auf dem Markt sein. Auch Start-ups wie Ava, Ovy oder OvulaRing wollen Frauen bei der Familienplanung unterstützen.

Gesundheitsbranche: An welchen Tagen kann ich schwanger werden und an welchen nicht? Es gibt immer mehr Apps, die Frauen dieses Wissen ermöglichen.

An welchen Tagen kann ich schwanger werden und an welchen nicht? Es gibt immer mehr Apps, die Frauen dieses Wissen ermöglichen.

(Foto: Astrakan Images/mauritius images)

Katrin Reuter ist überzeugt, dass Frauen davon profitieren, wenn sie wissen, wie ihr Körper funktioniert - und auf hormonelle Verhütungspräparate verzichten können. Sie hat aber auch die Erfahrung gemacht, dass es alles andere als einfach ist, männliche Investoren davon zu überzeugen. "Mit diesem Thema an Investorengelder zu kommen, ist wirklich schwierig. Das stößt auf wenig Interesse bei Männern."

Auch Ida Tin erinnert sich an holprige Gespräche mit Investoren, vor allem in der Anfangsphase. Dass sie trotzdem nicht aufgegeben hat, hat sich gelohnt. In der jüngsten Finanzierungsrunde Ende vergangenen Jahres sammelte Clue 20 Millionen Dollar von Investoren ein. Geld mit dem Tin die App weiterentwickeln kann - auch über den Verhütungs- und Schwangerschaftsaspekt hinaus. Ihr Traum ist es, dass ihre App eines Tages nicht nur die Pille verlässlich ersetzen kann, sondern zu einem Gradmesser für die Gesundheit von Frauen wird.

In dieser Serie beleuchtet die SZ in den kommenden Wochen, wie Frauen die Gesundheitsbranche verändern. Auch die nächste Ausgabe des Frauenwirtschaftsmagazins PlanW beschäftigt sich mit diesem Thema. Es liegt am 23. September der Süddeutschen Zeitung bei.

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