Geldpolitik:Warum die Inflation verschwindet

Europäische Zentralbank

Die Zentrale der Europäischen Zentralbank: Ihre lockere Geldpolitik müsste eigentlich für Inflation sorgen.

(Foto: dpa)
  • Der wirtschaftliche Boom müsste nach Lehrbuch eigentlich für steigende Preise sorgen. Tatsächlich stagnieren sie.
  • Für die Geldpolitiker der Notenbanken ist das ein Problem. Die Modelle, auf die sie sich verlassen, tragen in der Realität nicht.
  • Für diese Beobachtung kennt die Fachwelt verschiedene Erklärungsansätze.

Von Catherine Hoffmann

Die meisten Industrieländer haben ein Problem: nicht genug Inflation. Das klingt widersinnig, die Mehrzahl der Menschen mag keine Inflation. Sie würden es vorziehen, dass ein Euro morgen genauso viel wert ist wie heute. Doch Notenbanker fürchten die Null Prozent; sie glauben, dass ein wenig Inflation besser ist für die Wirtschaft, und tun alles dafür, dass endlich wieder eine Zwei vor dem Komma steht.

In Europa, den Vereinigten Staaten und Japan kleben die Leitzinsen an der Nulllinie, dazu kommen opulente Kaufprogramme für Anleihen - und das schon seit vielen Jahren. Der Erfolg? Kaum messbar. Gut, die Wirtschaft läuft in den meisten Industrieländern wieder einigermaßen rund, aber vom Preisauftrieb ist kaum etwas zu spüren. In der Eurozone gab es seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009 durchschnittlich 1,1 Prozent Inflation, in den USA waren es 1,4 Prozent und in Japan nur 0,3 Prozent.

Ist die Inflation tot? Die Frage wird immer öfter gestellt und, bis vor kurzem noch undenkbar, auch in Notenbanker-Kreisen ernsthaft diskutiert. Für die Geldpolitiker wäre es ein Albtraum: Seit fast drei Jahrzehnten verfolgen sie in vielen Ländern ein Inflationsziel von zwei Prozent. Doch in den USA und Europa erreichen sie diese Marke seit Jahren nicht. Der amerikanische Ökonom Nouriel Roubini spricht angesichts der fehlenden Inflation von einem "Mysterium". Und der Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), eine Art Denkfabrik der Zentralbanken, bekennt, dass es "immer schwieriger wird, das Verhalten der Inflation zu verstehen". Er fragt sich und seine Zentralbank-Kollegen: "Könnte es sein, dass wir weniger wissen als wir denken?"

Aber warum müssen es überhaupt zwei Prozent Inflation sein, wären null nicht besser? Ganz einfach: Ein bisschen Preisauftrieb kann die Stimmung in der Wirtschaft aufhellen, denn der höhere Preis, den einer bezahlt, ist das Einkommen eines anderen. So macht die Inflation es möglich, dass Löhne und Unternehmensgewinne schneller steigen. Ein bisschen Inflation hilft der Wirtschaft, sich von einer Rezession zu erholen. Sie lässt der Notenbank mehr Spielraum, die Zinsen und damit die Kreditkosten zu senken. Betriebe können die Kosten senken, indem sie Lohnerhöhungen unterhalb der Inflationsrate halten. Nicht zuletzt hält ein wenig Inflation die Wirtschaft auch von der Deflation fern. Wenn die Preise fallen, neigt das Wachstum zum Stillstand, da die Menschen auf noch niedrigere Preise in Zukunft hoffen. Eine moderate Inflation ist also ein Schmiermittel für die Wirtschaft.

Fern des Lehrbuchs

Ökonomen weisen allerdings darauf hin, dass dies eine Illusion sei. Wenn jeder dank Inflation mehr Geld verdient, kann niemand mehr Sachen kaufen. Nur die Preise steigen. In der Realität zeigt sich aber, dass die Menschen gern der Illusion erliegen, mehr Geld in der Tasche zu haben, tatsächlich also mehr Geld ausgeben und so das Wirtschaftswachstum beschleunigen.

Theoretisch müsste die Inflation seit Jahren schon hoch sein, weil die Geldpolitik extrem locker ist und die Arbeitslosigkeit zurückgeht, seit sich die Industrienationen von der Finanz- und Wirtschaftskrise erholen: In den USA dürfte das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 2,2 Prozent zulegen, in der Euro-Zone um 2,1 Prozent, weltweit rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem Zuwachs der Wirtschaftsleistung um 3,6 Prozent. Und so wächst das Unbehagen über diesen inflationsfreien Aufschwung, der nicht allen geheuer ist, bewegt er sich doch fern aller Lehrbuchvernunft in ökonomischen Zonen, die wissenschaftlich kaum erforscht sind. Ökonomen rätseln über die Gründe für diesen überraschenden Trend, der übrigens so neu gar nicht ist, sondern seit Mitte der 80er-Jahre zu beobachten ist.

Zahlreiche Erklärungsversuche

Roger Bootle, der 1999 das private Wirtschaftsforschungsinstitut Capital Economics gegründet hat, erkannte den Trend früh. Vor zehn Jahren schon verkündete er "Das Ende der Inflation". Im gleichnamigen Buch fasst er auf populäre Weise zusammen, was bis heute plausibel erscheint: Die Globalisierung, so die These, hat der Inflation den Garaus gemacht. Lohn- und Preissteigerungen lassen sich im oft brutalen internationalen Wettbewerb immer seltener durchsetzen. Auch andere Wissenschaftler sehen im Aufstieg der Entwicklungsländer die wahrscheinlichste Erklärung für das Verschwinden der Inflation. Die stete Gefahr, dass noch mehr Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden, trägt dazu bei, die Löhne niedrig zu halten, während die Flut billiger Waren aus Asien und Osteuropa die Preise in den Industrieländern drückt.

Hinzu kommt der Einsatz neuer Technologien - vom Computer bis zum Internet -, der die Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert hat und weiter revolutionieren wird. In den 90er-Jahren milderte steigende Produktivität den Druck auf die Preise und machte niedrige Zinsen möglich. Heute dürfte es eher die Sharing Economy sein, die mit ihren vielen günstigen Angeboten wie den Taxi-Diensten von Uber, den Übernachtungen von Airbnb und dem Shoppingangebot von Amazon für sinkende Preise sorgt. Und morgen sind es Roboter und künstliche Intelligenz, die den Beschäftigten Konkurrenz machen und es den Unternehmen ermöglichen, günstige Produkte anzubieten. Was die Globalisierung in den 90er-Jahren und danach war, könnte die Technologie in Zukunft sein: ein Schock für die Wirtschaft, der die Preise drückt.

Die Welt steht Kopf

Denkbar ist auch, dass die Notenbanken selbst dafür gesorgt haben, dass heute kaum mehr jemand die Inflation fürchtet: Mit ihrer harten Anti-Inflationspolitik haben sich die Währungshüter in den 70er-Jahren Glaubwürdigkeit und Ansehen erkämpft, die später nicht enttäuscht wurden, weil die Teuerung im Rahmen blieb. Nun rechnet eben kaum noch jemand damit, dass die Inflation gefährlich werden könnte. Das schlägt sich dann auch in mäßigen Lohnforderungen nieder. Zugleich erodiert die Macht der Gewerkschaften, Lohn-Preis-Spiralen wie früher werden unwahrscheinlich.

Naheliegender aber ist, dass die Inflation vor allem das Ergebnis realwirtschaftlicher Phänomene (Globalisierung, technologischer Fortschritt) ist, auf die eine Notenbank nur begrenzten Einfluss hat. Das würde die These des Nobelpreisökonomen Milton Friedman auf den Kopf stellen, der überzeugt war, dass Inflation stets das Ergebnis schlechter Geldpolitik ist. "Inflation", lautet einer seiner berühmtesten Sätze, "ist immer und überall ein rein monetäres Phänomen." Das war im Jahr 1970. Heute weiß man: Auch ohne lockere Geldpolitik wird es keine Inflation geben. Und wenn es Inflation gibt, kann die Notenbank sie eindämmen. Wenn es aber wie heute keine Inflation gibt, dann wird es schwierig.

"Die Zentralbanken müssen sich fühlen, als wären sie durch einen Spiegel getreten", glaubt BIZ-Denker Borio. "Früher haben sie die Inflation bekämpft, heute mühen sie sich, die Preise anzutreiben." Früher fürchteten sie höhere Löhne, jetzt werben sie dafür. Früher hassten sie es, wenn Staaten auf Pump konsumierten, heute rufen sie nach Konjunkturprogrammen. Die Welt steht Kopf. Und die Notenbanker müssen sich sorgen, ob ihr Kompass kaputt ist. Wenn es nämlich stimmt, dass die Inflation dauerhaft besiegt ist, dann passt ein Inflationsziel von zwei Prozent nicht mehr in diese verrückte neue Welt.

Letzte Option: null Prozent

Der Präsident der Notenbank von San Francisco, John Williams, beispielsweise glaubt, dass die unkonventionelle Geldpolitik noch viele Jahre, wenn nicht über ein Jahrzehnt gebraucht wird - aus einem einfachen Grund: Früher, als Inflation und Leitzinsen höher waren, konnte die Fed im Abschwung die Zinsen kräftig senken - zuletzt in den Jahren 2007 bis 2009 von 5,25 Prozent auf null. Im nächsten Abschwung dürfte der Spielraum viel kleiner sein, also bleiben wieder nur der massenhafte Kauf von Anleihen oder negative Zinsen. Oder ein höheres Inflationsziel von vier Prozent. Die Fed und andere Zentralbanken haben das schon diskutiert, allerdings kontrovers. Wenn die Notenbank es schon nicht schafft, zwei Prozent Inflation zu erzeugen, wie soll sie dann auf vier Prozent kommen?

Bleibt als letzte Option ein Ziel von null Prozent Inflation, wie es die BIZ schon vorgeschlagen hat. Damit wären die Währungshüter die schwierige Aufgabe los, zwei Prozent Teuerung anzustreben, und sie könnten aus ihrer ultralockeren Geldpolitik aussteigen, die vor allem die Preise von Anleihen und Aktien nach oben treibt und die Gefahr von Spekulationsblasen birgt. Dieser Logik zufolge sollte die Geldpolitik lieber früher als später normalisiert werden, um die nächste Finanzkrise zu verhindern. Bei den Zentralbankern stößt die BIZ damit auf taube Ohren - wohl auch aus einem ganz einfachen Grund: Wie jede spannende Debatte in der Wirtschaftstheorie enthält die Diskussion um den Tod der Inflation ein gehöriges Maß an Spekulation. Auch wenn die Erklärungen für das Ausbleiben hoher Preissprünge vernünftig klingen, sind sie empirisch kaum belegt.

Ob die Inflation wirklich besiegt ist, vermag heute niemand zu sagen. Erinnert sei an das Jahr 1968, als die Preissteigerung in Deutschland knapp über Null lag. Damals hatte der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller erklärt, die Inflation sei tot, "so tot wie ein rostiger Nagel". Kurze Zeit später kehrte die Inflation zurück und steigerte sich in den 70er-Jahren nach der ersten Ölkrise in ein Desaster für alle, die auf stabile Preise gesetzt hatten.

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