Führungskrise bei Siemens:Die Tage der stürzenden Titanen

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Bei den Chefs des affärengebeutelten Weltkonzerns folgte Rücktritt auf Rücktritt - wie aus dem Chaos ein geordneter Neuanfang wird, ist noch offen. Die Chronik eines Machtkampfes.

Markus Balser, Karl-Heinz Büschemann, Hans Werner Kilz, Klaus Ott und Ulrich Schäfer

Man darf sich die Stimmung wahrscheinlich so vorstellen, als wäre ein mittleres Erdbeben über den Wittelsbacher Platz in München gerollt, das auf sämtlichen Chefetagen der Siemens-Hauptverwaltung den Boden wanken lässt. Festgefügt scheint derzeit nichts mehr zu sein beim größten deutschen Technologiekonzern, der sich stets so stolz gestützt hat auf seine 160 Jahre solider Vergangenheit. Monatelang schon haben die Enthüllungen über die Korruptionsaffären immer tiefere Kratzer und Risse ins Image und Selbstbewusstsein des Unternehmens gefurcht.

Der starke Mann: Siemens-Aufsichtsratschef Gerhard Cromme. (Foto: Foto: dpa)

Dann hat eine Woche im April genügt, um das Gefüge der Führung zum Einsturz zu bringen: Am vergangenen Donnerstag erklärte der Vorstandsvorsitzende Klaus Kleinfeld, 49, seinen Rückzug, er steht nur noch bis 30. September als Konzernchef zur Verfügung. Sein Schritt folgte dem Donnerschlag knapp eine Woche zuvor, als einer der mächtigsten Männer der deutschen Wirtschaftsgeschichte, der Siemens-

Aufsichtsratsvorsitzende Heinrich von Pierer, dem Druck weichend von seinem Amt zurückgetreten war. Eine solche Führungskrise hat es in der Unternehmensgeschichte noch nie gegegen. Sie ist die Konsequenz zweier bislang ebenso beispielloser Korruptionsaffären: Bis jetzt hat der Konzern eingeräumt, bis zu 420 Millionen Euro Schmiergelder bezahlt zu haben, um Aufträge zu erlangen. Zudem soll er eine Arbeitenehmerorganisation gegen die IG Metall mit unerlaubten Mitteln unterstützt haben.

Die Rücktritte Kleinfelds und Pierers sind nicht nur Folge krimineller Machenschaften. Sie sind auch Resultat heftiger Machtkämpfe. Bei Siemens agierten nicht nur Kleinfeld und Pierer gegeneinander, auch der neue Aufsichtsratsvorsitzende Gerhard Cromme nimmt Einfluss auf das Geschehen. Kleinfeld und Pierer kämpften verbissen um ihre Posten. Doch wie es scheint, brachte Cromme sie zu Fall. Der Aufsichtsratsvorsitzende von Thyssen-Krupp ist im Aufsichtsrat von Siemens für die Aufklärung der Affären zuständig. Schon vor Monaten sagte er: "Ich glaube nichts mehr bei Siemens. Ich will es jetzt wissen." Die Süddeutsche Zeitung zeichnet nach, was sich in den vergangenen zwei Wochen zutrug, und wie sich die Schlinge für die Mächtigen zugezogen hat.

Montag, 16. April

Heinrich von Pierer kommt aus dem Osterurlaub im Engadin zurück. Eigentlich wollte er bis zur Hauptversammlung 2008 im Amt bleiben, um dann "in Ehren" (so ein Aufsichtsrat) abzutreten. Ein frühzeitiger Rückzug, musste er befürchten, würde ihm als Schuldeingeständnis ausgelegt. Doch die Tage in den Bergen haben den 66-Jährigen offenbar nachdenklich werden lassen. Vieles von dem, was die Dutzenden amerikanischen Prüfer der Kanzlei Debevoise&Plimpton, die von Siemens mit der internen Prüfung beauftragt sind, tagtäglich an belastenden Fakten zusammentragen, fällt in die Zeit, in der Pierer Vorstandsvorsitzender war. Die US-Börsenbehörde SEC und das Washingtoner Justizministerium kündigen überdies verschärfte Untersuchungen gegen Siemens an. Dem Konzern drohen Milliardenstrafen, wenn er sich dem Vorwurf aussetzt, die Korruptionsfälle und die Verantwortlichkeiten nicht rigoros genug aufzuklären. Erste Gerüchte machen die Runde, Siemens-Aufsichtsrat Gerhard Cromme, 64, einstiger Thyssen-Krupp-Verflechter, halte sich für Pierers Nachfolge bereit.

Dienstag 17. April

Machte Druck: Aufsichtsrat und Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann. (Foto: Foto: ap)

Pierer berät sich mit Vertrauten und wichtigen Aufsichtsräten, unter ihnen auch Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann. Der Banker schätzt Pierer, hält auch solidarisch zu ihm, weil Pierer seinerseits während der Mannesmann-Prozesse immer treu an seiner Seite stand. Aber Ackermann berichtet sinngemäß von dem großen Druck, den die US-Behörden ausüben, und empfiehlt den Rückzug. Pierer berät sich auch mit Cromme. Der hochaufgeschossene Stahl-Manager leitet bei Siemens den Prüfungsausschuss. Er erklärt sich bereit, Pierers Posten zu übernehmen.

Donnerstag, 26. April

Cromme und Ackermann bekommen von der internationalen Presse eine saftige Rüge. Die Financial Times spricht von einem "amateurhaften Führungswechsel" bei Siemens. Klaus Kleinfeld wirkt am Tag nach seiner Rücktrittserklärung wie befreit. Morgens um neun Uhr präsentiert er im Dorint-Hotel am Münchner Hauptbahnhof jene Zahlen, die schon bekannt sind. Er beantwortet Fragen nach seiner Zukunft ("da ist noch nichts in Stein gemeißelt") oder ob es doch der Druck der SEC gewesen sei, der zu seinem Rückzug geführt habe. Kleinfeld weicht aus. In dieser Allgemeingültigkeit könne man das nicht sagen.

Gerhard Cromme, der sich immer mehr als Kleinfelds hartnäckigster Gegenspieler entpuppt, sieht das offenbar anders. Er verfasst eine Erklärung, in der er rechtfertigt, warum der Aufsichtsrat den Vertrag von Kleinfeld frühestens in drei Monaten verlängern wollte - und nicht schon jetzt. Das Unternehmen Siemens braucht ein paar Stunden, bis die Erklärung an die Medien gegeben wird: Die amerikanischen Behörden verfolgten aufmerksam' wie Vorstand und Aufsichtsrat mit den Vorwürfen gegen das Unternehmen umgehen.

Freitag, 27.April

In Unternehmenskreisen verlautet, der neue Aufsichtsratschef bei Siemens könne sich größere Veränderungen im Konzern vorstellen. Er wolle eine völlig neue Struktur an der Spitze. Aus dem Unternehmen wird berichtet, Cromme habe gesagt: "Es kann doch nicht sein, dass da Heerscharen von Vorständen herumlaufen und keiner für irgendetwas veranwortlich ist."

In der Führungsetage wird vermutet, dass Kleinfeld und Cromme in den nächsten Wochen darüber sprechen, wie sich die Holding deutlich verkleinern lasse. Aufsichtsräte versuchen, die Angst der Mitarbeiter vor einer Zerschlagung zu dämpfen: Das Konglomerat habe sich bewährt, heißt es aus dem Gremium.

Der Korruptionsskandal fordert weitere Opfer: Die Vorstandsmitglieder Johannes Feldmayer und Jürgen Radomski müssen gehen. Ihre Verträge, die 2007 auslaufen, sollen nicht verlängert werden. Radomski soll wenig Elan bei der Aufklärung gezeigt haben, heißt es aus dem Aufsichtsrat. Als nächstes solle die Rolle jener Vorstände geprüft werden, deren Verträge 2008 auslaufen.

Dazu zählen laut Geschäftsbericht von Siemens der für die Energiesparten zuständige Uriel Sharef sowie der für die Industriebereiche und die Verkehrstechnik verantwortliche Klaus Wucherer. "Die SEC hat signalisiert", berichtet ein Aufsichtsrat, "zeigt uns, dass ihr die Fehler der Vergangenheit aufarbeitet." Und er fügt hinzu: "Damit meint die SEC auch Köpfe."

Mittwoch 18. April

Heinrich von Pierer fliegt nach Hamburg, um an der Aufsichtsratssitzung von VW sowie am nächsten Tag an der Hauptversammlung des Autoherstellers teilzunehmen.

Donnerstag 19. April

Schon morgens zwischen neun und zehn Uhr erscheint Pierer in der Kongresshalle des Hamburger Messegeländes. Immer wieder verschwindet er hinter der Bühne, um per Handy zu telefonieren. Am Nachmittag fliegt er mit dem Siemens-Firmenjet zurück nach München. Der Mann, der seit 38 Jahren bei Siemens ist, der 15 Jahre an der Spitze stand und als die Identifikationsfigur des Konzerns mit seinen 475.000 Mitarbeitern gilt, lässt sich in der Firmenzentrale am Wittelsbacher Platz gleichzeitig mit allen Vorständen verbinden. Pierer kündigt seinen Rücktritt an. Bei Siemens deutet sich das Ende einer Ära an.

Um 20.30 Uhr meldet Bild den Rücktritt. Eine PR-Agentur, die auch Kleinfeld berät, wird hinter der Indiskretion vermutet. Auch die Süddeutsche Zeitung erscheint am Abend mit der Schlagzeile: "Siemens-Aufsichtsratschef Pierer tritt zurück". Als sich die Anfragen häufen, verfasst Pierer eine kurze Erklärung, die auch Cromme gegenliest: "Alleiniger Anlass und Beweggrund für meine heutige Entscheidung", schreibt Pierer, "ist das Interessse von Siemens". Er wolle das Unternehmen "allmählich wieder aus den Schlagzeilen und in ruhigeres Fahrwasser" bringen.

Freitag, 20. April

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlicht überraschend vorläufige Zahlen über den Siemens-Geschäftsverlauf. Die Zahlen sind sehr gut. "Kleinfeld am Ziel", lautet die Überschrift. Einige wichtige Aufsichtsräte sind empört. Sie vermuten wieder die Agentur hinter der Veröffentlichung, die Kleinfelds Stellung gegenüber dem Aufsichtsrat stärken soll. "Wir können uns nicht unter Druck setzen lassen", schimpft einer im Aufsichtsrat. Kleinfeld würdigt Stunden später die Verdienste Pierers.

Die Aufsichtsräte Cromme und Ackermann sind jetzt entschlossen, auch Kleinfeld abzulösen. In Berlin treffen sie auf einem Kongress deutscher Vorstandschefs und Aufsichtsratsvorsitzender, zu dem Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner ins Verlagshaus an der Kochstraße eingeladen hat, auch Linde-Chef Wolfgang Reitzle, 58. Sie bieten ihm den Siemens-Posten an. Reitzle sagt nach Aussagen von Aufsichtsratskreisen weder ja noch nein.

Samstag 21. April

Bei einem Abendessen in Berlin, zu dem sich die Herren tags zuvor verabredet haben, beknien Cromme und Ackermann den Linde-Manager, zu Siemens zu wechseln. Reitzle bittet um Bedenkzeit.

Sonntag, 22. April

Gerüchte machen die Runde, Siemens wolle, aufgeschreckt von aggressiven Staatsanwälten, den Firmensitz ins Ausland verlagern. Cromme und Ackermann treffen sich in München mit Kleinfeld. Sie berichten ihm von dem Gespräch mit Reitzle, das rein vorsorglicher Art gewesen sei und eher zufällig zustande gekommen sei.

Sie konfrontieren den verdutzten Kleinfeld mit den Bedenken der US-Anwaltskanzlei Debevoise&Plimpton, die "Risiken" darin sieht, dem Siemens-Vorstandsvorsitzenden in dieser Ermittlungsphase den Vertrag zu verlängern, der Ende September ausläuft. Cromme und Ackermann schlagen vor, die Verlängerung, die schon für Ende 2006 geplant war, noch einmal um drei Monate zu verschieben.

Ein Zeuge berichtet, Kleinfeld habe gefragt: "Habe ich noch eine faire Chance?" Die Antwort von Cromme und Ackermann sei "ja"gewesen. Doch Kleinfeld sieht das Ansinnen als Affront. Am Abend sickert aus dem Konzern durch, die US-Prüfer hätten nichts Belastendes gegen Kleinfeld gefunden. Wieder sind die Aufsichtsräte irritiert, weil sie Kleinfelds Spin-Doktoren am Werk sehen, die Stimmung für den Konzernchef machen wollen. Doch auch seine Gegner erhöhen den Druck, auch sie mit versteckten Helfern. Das Ziel der Kleinfeld-Widersacher ist klar: Sie wollen ihn zum freiwilligen Verzicht auf sein Amt bewegen.

Montag, 23. April

Das Wall Street Journal schreibt, Kleinfelds Vergangenheit sei dazu angetan, die Aufklärung bei Siemens zu erschweren. Einzelne Mitglieder des Aufsichtsrates melden ernste Bedenken gegen die bevorstehende Vertragsverlängerung an. "Es wird immer wahrscheinlicher, dass die US-Behörden die Rolle des Vorstands in der Affäre beleuchten könnten", warnt ein Kontrolleur.

Auch wenn Kleinfeld sich nichts habe zu Schulden kommen lassen, müsse er sich fragen lassen: "Was hat er vor der Razzia im November getan, um das illegale System abzustellen?", so ein Kontrolleur. Viel werde er da nicht vorweisen können. Man müsse Kleinfeld allerdings zugutehalten, dass er 2006 mit dem Umbau des Konzerns sehr beschäftigt gewesen sei. Aber um Compliance, also die Korruptionsbekämpfung, habe er sich zu wenig gekümmert.

Dienstag, 24. April

Die Financial Times Deutschland erscheint mit der Schlagzeile: "Aufsichtsrat sucht neuen Siemens-Chef". Ackermann zeigt sich wütend über die Indiskretion. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung vermuten Aufsichtsräte das Leck in der Münchner Staatskanzlei. Ein Berater Reitzles habe demnach nicht dichtgehalten. Die Leute von Ministerpräsident Edmund Stoiber wussten angeblich schon am Sonntag, was bei Siemens geplant war. Ein Sprecher der Staatskanzlei bestreitet eine solche Indiskretion aber.

Am Nachmittag erhält der Siemens-Prüfungsausschuss von den US-Anwälten in einem abhörsicheren Raum am Wittelsbacher Platz den ersten Zwischenbericht über die Korruptionsermittlungen. Zwei Dolmetscherinnen übersetzen mehrere Stunden lang für die vier Ausschussmitglieder simultan. Die Damen müssen sich schriftlich verpflichten, kein Sterbenswörtchen nach außen zu tragen.

Unternehmenskreise berichten, die Amerikaner hätten die heikle Empfehlung gegeben, den Vertrag mit Kleinfeld zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu verlängern. Aufsichtsratschef Cromme berät sich mit den US-Anwälten über das weitere Vorgehen. Gleichzeitig geht Kleinfeld in die Offensive: Vertraute berichten von Andeutungen, er werde das Unternehmen verlassen, wenn er am Mittwoch keine Vertragsverlängerung erhalte.

Schon am Abend zuvor hat Kleinfeld gegenüber einem Aufsichtsrat erstmals seinen Abschied aus dem Unternehmen angekündigt. Gleichzeitig zieht Siemens überraschend die erst für Donnerstag geplante Veröffentlichung der guten Geschäftszahlen um zwei Tage vor.

Will Kleinfeld doch noch einmal um seinen Verbleib kämpfen? Das Vorpreschen des Konzernchefs im Aufsichtsrat bringt Ärger. Die Kontrolleure fühlen sich unter Druck gesetzt. "So etwas tut man nicht", heißt es aus dem Gremium. Die Siemens-Pressestelle bemüht sich, das Vorpreschen mit juristischen Gründen zu erklären. Wieder empfinden es Ackermann, Cromme und andere Aufsichtsräte als Affront, dass Kleinfeld erst die Medien informiert und dann sie.

Die Anwälte von Debevoise haben offenbar nichts Belastendes gegen Kleinfeld gefunden, doch die Aufsichtsräte kennen das Risiko, sie wissen, dass dem Konzern nach US-Recht drastische Strafen in Milliardenhöhe drohen. Eine Vertragsverlängerung zum jetzigen Zeitpunkt könnte von der US-Börsenaufsicht als voreilig empfunden werden und Siemens bei den späteren Verhandlungen über das Strafmaß zur Last gelegt werden.

Die vier Mitglieder des Prüfungsausschusses sind entsetzt und schockiert über das, was ihnen vorgetragen wird. Das ist ihnen an den Gesichtern abzulesen, als sie anschließend mit anderen Aufsichtsräten über das weitere Vorgehen beraten. Bis tief in die Nacht zum Mittwoch diskutiert der Aufsichtsrat in der Münchner Innenstadt die prekäre Lage. In mehreren Hotels und Restaurants wird im kleinen Kreis über eine Lösung des Konflikts beraten. Mit dabei sind der designierte Aufsichtsratschef Cromme, Deutsche-Bank-Chef Ackermann, der Vize der IG Metall, Berthold Huber, und Ralf Heckmann, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrates und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender.

Auch Kleinfeld berät bis spät in die Nacht in seinem Büro im vierten Stock der Firmenzentrale am Wittelsbacher Platz mit engen Vertrauten. Was die Aufsichtsräte mit ihm zu besprechen haben, wird am Telefon erörtert. Alle Versuche, Kleinfeld zu einer späteren Vertragsverlängerung zu überreden, schlagen fehl. Der Konzernchef erklärt definitiv, er stehe dafür nicht zur Verfügung.

Mittwoch, 25. April

Gegen 9.30Uhr beginnen in der Konzernzentrale die Vorgespräche des Aufsichtsrats. Die Vertreter der Aktionäre und der Arbeitnehmerflügel tagen jeweils für sich. Wer beim Frühstück noch nicht erfahren hat, was vergangene Nacht geschehen ist, erfährt jetzt, dass Kleinfeld sich zurückziehen will. Das ist die Hauptbotschaft an diesem Morgen.

Aber es gibt Streit, der einen Einblick liefert in den Aufsichtsrat. Der Arbeitnehmerflügel ist seit langem uneinig. IG-Metall-Vize Berthold Huber hatte ein paar Tage zuvor den Rücktritt von Aufsichtsratschef Pierer als "überfällig" bezeichnet. Doch der Chef des Gesamtbetriebsrats denkt anders: Ralf Heckmann erwidert am Mittwoch, hier werde ein "Idol zerstört". Pierer sei in der Belegschaft und bei den Betriebsräten sehr beliebt.

Auch der Einfluss der amerikanischen Anwälte und Behörden gefällt dem Belegschaftsvertreter nicht. "Jetzt bestimmen Amerikaner, was in unserem Unternehmen passiert, welche Vorstände weg müssen. Da bricht für viele eine Welt zusammen." Und noch etwas wird in diesem Kreis deutlich: Viele Betriebsräte wünschen sich als Ersatz für Pierer und Kleinfeld geeignete Nachfolger aus dem eigenen Haus. Dass nun Außenstehende die Macht bei Siemens übernehmen, wird als Kulturschock empfunden.

Kurz nach zwölf Uhr, die Vorbesprechungen sind beendet, bis zur Aufsichtsratssitzung um 12.30 Uhr bleibt gerade Zeit für einen Stehimbiss. Es gibt Fisch, Spargel und Fleischpflanzerl.

Die Anwälte von Debevoise&Plimpton tragen knapp zwei Stunden lang in geraffter Form vor, was der Prüfungsausschuss schon kennt: zum Beispiel, dass die Höhe der Korruptionszahlungen die bisher eingeräumten 420 Millionen Euro wahrscheinlich noch weit übersteigen wird. Auch im Aufsichtsrat macht sich die Erkenntnis breit, dass mit drastischen Strafen der US-Behörden in Höhe von mindestens etlichen hundert Millionen Euro zu rechnen ist.

Und was beinahe schlimmer ist: In der Konzernzentrale, lautet der Vorwurf, werde weiter versucht, vieles zu vertuschen. Sogar Führungskräfte unterhalb der Vorstandsebene seien beteiligt und versuchten, sich gegenseitig zu decken. Die US-Anwälte nennen Namen und Vorgänge. Der Aufsichtsrat bekommt erstmals eine Ahnung davon, wie tief der Sumpf bei Siemens ist. Im Konzern gebe es große Beharrungskräfte, die eine lückenlose Aufklärung verhindern wollen. "Bei Siemens gibt es eine solidarische Gemeinschaft von Alten, die sich gegenseitig schützen", klagt ein Kontrolleur.

Doch jetzt geht die Affäre in die nächste Runde. Die US-Anwälte schlagen zudem vor, die in diesem Jahr auslaufenden Verträge mit den Zentralvorstandsmitgliedern Johannes Feldmayer und Jürgen Radomski nicht zu verlängern. Der bisherige Europachef Feldmayer ist in die Affäre um die verdeckte Finanzierung der Arbeitnehmer-Organisation AUB verwickelt, die Siemens mit 50 Millionen Euro zur Kampftruppe gegen die IG Metall hochgepäppelt hatte.

Feldmayer saß Ende März in Untersuchungshaft und ist seither beurlaubt. Der Personalvorstand Radomski war bei Siemens auch für die Anti-Korruptionsabteilung ("Compliance") zuständig. "Compliance hat versagt", stellt ein Aufsichtsrat vorwurfsvoll fest. Manager, die nicht eindeutig nachweisen können, unschuldig zu sein, gelten als zu hohes Risiko bei den amerikanischen Behörden.

Nachdem die US-Anwälte mit ihrem Bericht durch sind, wird Gerhard Cromme zum neuen Aufsichtsratschef gewählt. Anschließend wird es gespenstisch. Die Vorstandsmitglieder werden hereingebeten. Konzernchef Kleinfeld und Finanzchef Joe Kaeser tragen die neuesten Zahlen vor: mehr Umsatz, mehr Gewinn, Siemens steht finanziell glänzend da.

Doch das spielt jetzt keine Rolle. Kleinfeld wirkt angespannt. Jeder im Raum weiß, dass er hinwirft, aber keiner verliert ein Wort darüber. Es wird über Finanzen geredet und die Auslagerung des Autozulieferers VDO. Kurz nach 17 Uhr, die Aufsichtsratssitzung läuft noch, gibt Siemens das Ausscheiden des Vorstandschefs bekannt.Um 17.18 Uhr melden die Agenturen schließlich: Kleinfeld wirft hin.

Anschließend gibt Kleinfeld im konzerneigenen Studio eine Fernseh-Erklärung ab. "Ich habe mich entschieden, für die Verlängerung meines Vertrages nicht mehr zur Verfügung zu stehen. Ein Schwebezustand ist unakzeptabel." Dem Unternehmen, sagt er, gehe es hervorragend. Die Aufklärung der Korruptionsaffäre komme "ausgesprochen gut voran". Es sei ihm ein Anliegen, dass nichts gegen ihn vorliege. "Ich habe mir nichts zu Lasten gelegt bekommen", holpert er nervös vor den Fernsehkameras.

Cromme ist zunächst erleichtert, dass Kleinfeld von sich aus geht. Aber einen Nachfolger hat er nicht. Der neue Oberkontrolleur und vermeintliche Retter gerät selbst in Zugzwang. Wolfgang Reitzle ziert sich, ein Linde-Sprecher wiederholt, was er schon tags zuvor gesagt hat: Dass Reitzle nicht zu Siemens wechseln werde. Wolfgang Bernhard, der einst die Autohersteller Chrysler und Volkswagen sanierte, dürfte den Gewerkschaften nicht zu vermitteln sein.

© SZ vom 30.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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