Freakonomics (IV):Spiel mit der Empörung

Man hört Ihnen nicht zu? Vielleicht argumentieren Sie zu ausgewogen. Erziehungsexperten machen vor, wie es besser geht.

Steven D. Levitt und Stephen J. Dubner*)

Im Folgenden geben wir einen vierten und letzten Auszug aus dem Buch "Freakonomics" wieder. Es ist jetzt in deutscher Sprache erschienen und hat in den USA bereits für Furore gesorgt hat, denn es kratzt an der Oberfläche dessen, was wir täglich sehen.

Freakonomics (IV): Steven D. Levitt, Stephen J. Dubner Freakonomics -  Überraschende Antworten auf alltägliche Lebensfragen Übersetzt von Gisela Kretzschmar, Riemann Verlag, 2006, 304 Seiten, 18,95 Euro, ISBN: 3-570-50064-0

Steven D. Levitt, Stephen J. Dubner Freakonomics - Überraschende Antworten auf alltägliche Lebensfragen Übersetzt von Gisela Kretzschmar, Riemann Verlag, 2006, 304 Seiten, 18,95 Euro, ISBN: 3-570-50064-0

Die Autoren weisen nach, dass konventionelles Wissen einer genaueren Prüfung häufig nicht standhält. Und: Dass mit Hilfe einfacher Anreize viele Rätsel des Lebens gelöst werden können. Das Rüstzeug dafür liefert die Ökonomie.

Ist je eine andere Kunst so inbrünstig in eine Wissenschaft verwandelt worden wie die Kunst der Erziehung?

Während der letzten Jahrzehnte ist die Zahl der Erziehungsexperten ins Unermessliche gestiegen.

Wer versucht, ihren Rat auch nur gelegentlich zu befolgen, wird alsbald matt gesetzt, denn das konventionelle Erziehungswissen scheint sich fast stündlich zu verändern.

Manchmal sind sich die Experten völlig uneins. Dann wieder scheinen die am häufigsten zitierten Autoritäten einstimmig der Meinung zu sein, dass das alte Wissen falsch war und das neue Wissen, zumindest für eine Weile, unwiderlegbar richtig ist.

So gilt Stillen beispielsweise als der einzige Weg zu einem gesunden, intellektuell überdurchschnittlich entwickelten Baby - sofern Flaschenkost nicht besser ist. Ein Baby sollte zum Schlafen stets auf den Rücken gelegt werden - bis verordnet wird, dass man es immer auf den Bauch legen sollte.

Der Verzehr von Leber ist entweder a) toxisch oder b) unbedingt erforderlich für die Entwicklung des Gehirns. Verzichte auf Prügel und verwöhne das Kind; gib deinem Kind einen Klaps und geh dafür ins Gefängnis.

In ihrem Buch Raising America: Experts, Parents, and a Century of Avice about Children hat Ann Hulbert dokumentiert, wie Erziehungsexperten einander und sogar sich selbst widersprechen.

Ihre Fopperei könnte amüsant sein, wäre sie nicht so verwirrend und oft sogar furchterregend.

Gary Ezzo empfiehlt in seiner Buchreihe Babywise eine "Säuglings-Management-Strategie" für Mütter und Väter, die hervorragende Eltern werden wollen, und betont, wie wichtig es ist, einem Baby von Anfang an beizubringen, dass es nachts allein durchschlafen muss.

Anderenfalls, so warnt Ezzo, könnte Schlafmangel "eine negative Auswirkung auf die Entwicklung des kindlichen Zentralnervensystems" haben und zu Lernbehinderungen führen.

Befürworter des "gemeinschaftlichen Schlafens" warnen unterdessen, dass es schädlich für die Psyche des Babys ist, wenn es allein schläft, und empfehlen deshalb, den Nachwuchs ins "Familienbett" zu holen.

Und was ist mit der Stimulation? 1983 schrieb T. Berry Brazelton, dass ein Baby bei seiner Geburt "wunderbar darauf vorbereitet ist, alles über sich selbst und seine Umwelt zu lernen".

Brazelton favorisierte eine frühe und intensive Stimulierung - ein "interaktives" Kind.

Einhundert Jahre zuvor hatte L. Emmett Holt jedoch gewarnt, ein Baby sei kein "Spielzeug". Es sollte während der ersten zwei Lebensjahre eines Kindes "keinen Zwang, keinen Druck, keine unangemessene Stimulierung" geben, glaubte Holt; das Gehirn wachse während dieser Zeit so stark, dass jede Überstimulation "beträchtlichen Schaden" anrichten könne.

Er war auch davon überzeugt, dass man ein schreiendes Baby niemals aufnehmen sollte, sofern es keine Schmerzen hatte. Wie Holt erklärte, sollte man ein Baby 15 bis 30 Minuten täglich schreien lassen: "Das dient der körperlichen Übung."

Spiel mit der Empörung

Wie andere Fachleute auch, klingt ein typischer Erziehungsexperte meist überaus selbstsicher. Ein Profi diskutiert nicht so sehr die verschiedenen Aspekte eines Themas, sondern bezieht eine klare Position.

Deshalb schenkt man einem Experten, der seine Argumente abwägend oder differenziert vorträgt, oft nicht besonders viel Aufmerksamkeit.

Ein Fachmann muss eine Meinung geradeheraus sagen, wenn er seine hausgemachte Theorie in konventionelles Wissen ummünzen will.

Seine beste Chance besteht darin, öffentliche Emotionen zu schüren, denn Emotionen sind der Feind rationaler Argumente. Und eine Emotion - die Furcht - ist wirksamer als alle anderen zusammen.

Der Superkriminelle, irakische Massenvernichtungswaffen, Rinderwahnsinn, plötzlicher Kindstod: Wie können wir es wagen, den Rat des Experten angesichts solcher Horrorszenarien in den Wind zu schlagen, nachdem er uns doch wie der gemeine Onkel, der kleinen Kindern Schauergeschichten erzählt, in zitternde Angstbündel verwandelt hat?

Niemand ist empfänglicher für die von Experten verbreiteten Schreckensszenarios als junge Eltern. Furcht ist in der Tat ein wesentlicher Bestandteil der Erziehung.

Immerhin tragen die Eltern Verantwortung für das Leben eines Geschöpfes, das zunächst einmal hilfloser ist als die Neugeborenen fast jeder anderen Art. Das führt bei vielen Eltern dazu, dass sie einen großen Teil ihrer Energie einfach dafür verbrauchen, Furcht zu empfinden.

Das Problem ist, dass sie sich oft vor den falschen Dingen fürchten. Das ist wirklich nicht ihre Schuld. Tatsachen von Gerüchten zu unterscheiden, ist immer harte Arbeit, besonders für viel beschäftigte Eltern.

Und der von Experten erzeugte Schall und Rauch - ganz zu schweigen von dem Druck, den andere Eltern ausüben - ist so überwältigend, dass sie kaum noch selbstständig denken können.

Die Fakten, die sie zusammentragen, sind gewöhnlich auf Hochglanz poliert oder übertrieben oder anderweitig aus dem Zusammenhang gerissen, um Interessen zu dienen, die nicht ihre eigenen sind.

Stellen Sie sich die Eltern eines achtjährigen Mädchens vor, das wir "Molly" nennen wollen. Mollys beste Freundinnen, Amy und Imani, wohnen in der Nähe. Mollys Eltern wissen, dass Amys Eltern einen Revolver im Haus haben, und deshalb haben sie Molly verboten, dort zu spielen.

Molly verbringt stattdessen viel Zeit im Haus von Imani, wo es im Garten einen Swimmingpool gibt. Mollys Eltern sind froh, dass sie eine so kluge Entscheidung getroffen haben, um ihre Tochter zu schützen.

Aber in Anbetracht der Daten ist ihre Entscheidung überhaupt nicht klug.111 Pro 11 000 Swimmingpools in den Vereinigten Staaten ertrinkt jährlich ein Kind. (In einem Land mit sechs Millionen Pools bedeutet dies, dass ungefähr 550 Kinder unter zehn Jahren jedes Jahr ertrinken.)

Unterdessen wird pro eine Million Schusswaffen jährlich ein Kind getötet. (In einem Land mit schätzungsweise zweihundert Millionen Schusswaffen bedeutet dies, dass ungefähr 175 Kinder unter zehn Jahren jedes Jahr durch Schusswaffen umkommen.)

Die Wahrscheinlichkeit, im Swimmingpool zu ertrinken (eins zu elftausend), ist sehr viel größer als die Wahrscheinlichkeit, beim Spiel mit einer Schusswaffe zu sterben (eins zu etwa einer Million).

Mollys Risiko, bei Imani im Swimmingpool zu sterben, ist etwa hundertmal größer, als bei Amy durch einen Unfall mit dem Revolver zu sterben.

Spiel mit der Empörung

Aber wie Mollys Eltern können die meisten von uns Risiken sehr schlecht einschätzen.

Peter Sandman aus Princeton, New Jersey, der sich selbst als "Risiko-Kommunikations-Berater" bezeichnet, hat das Anfang 2004 hervorgehoben, als ein einziger Fall von Rinderwahnsinn in den USA eine Rindfleischpanik auslöste.

"Die Wirklichkeit sieht so aus", sagte Sandman der New York Times, "dass die Risiken, vor denen sich die Menschen fürchten, ganz andere sind als die Risiken, welche die Menschen töten."

Sandman führte einen Vergleich zwischen dem Rinderwahnsinn (eine extrem furchterregende, aber sehr seltene Bedrohung) und der Ausbreitung von Krankheitserregern in der Durchschnittsküche (zunehmend verbreitet, aber irgendwie nicht besonders furchterregend) an.

"Risiken, die wir kontrollieren können, führen sehr viel seltener zu Panikreaktionen als solche, die wir nicht kontrollieren können", erklärte Sandman.

"Beim Rinderwahnsinn haben wir das Gefühl, dass er sich unserer Kontrolle entzieht. Ich weiß nicht, ob sich in meinem Fleisch Prionen befinden oder nicht. Ich kann sie nicht sehen oder riechen. Den Schmutz in meiner Küche habe ich dagegen unter Kontrolle. Ich kann den Boden, die Arbeitsflächen und die Schwämme sauber halten."

Sandmans Prinzip der "Kontrolle" erklärt vielleicht auch, warum die meisten Leute mehr Angst vor dem Fliegen als vor dem Autofahren haben. Sie denken dabei: Da ich die Kontrolle über das Auto habe, sorge ich selbst für meine Sicherheit; da ich keine Kontrolle über das Flugzeug habe, bin ich zahllosen externen Faktoren ausgeliefert.

Und was sollten wir nun wirklich mehr fürchten, das Fliegen oder das Autofahren?

Es könnte uns weiterhelfen, eine etwas grundlegendere Frage zu stellen: Wovor genau fürchten wir uns? Wahrscheinlich vor dem Tod. Aber die Furcht vor dem Tod muss konkretisiert werden: Natürlich wissen wir alle, dass wir irgendwann sterben müssen, und vielleicht machen wir uns darüber gelegentlich Sorgen.

Aber wenn man uns sagt, dass wir eine 10-prozentige Chance haben, innerhalb des nächsten Jahres zu sterben, machen wir uns wahrscheinlich sehr viel mehr Sorgen und beschließen vielleicht sogar, unser Leben zu ändern.

Und wenn man uns sagt, dass wir eine 10-prozentige Chance haben, in der nächsten Minute zu sterben, reagieren wir vermutlich mit Panik.

Es ist also die unmittelbar drohende Möglichkeit des Todes, die unsere Furcht beflügelt - und das bedeutet, dass der vernünftigste Weg, die Furcht vor dem Tod in Zahlen auszudrücken, darin besteht, sie auf einer Stundenbasis zu berechnen.

Wenn Sie eine Reise unternehmen und die Wahl haben, ob Sie mit dem Auto fahren oder fliegen wollen, dann könnten Sie die stündliche Todesrate beim Autofahren und beim Fliegen miteinander vergleichen. Es stimmt, dass in den USA jedes Jahr sehr viel mehr Menschen bei Autounfällen (rund vierzigtausend) als bei Flugzeugunfällen (weniger als tausend) ums Leben kommen.

Aber es stimmt auch, dass die meisten Menschen sehr viel mehr Zeit im Auto als im Flugzeug verbringen. (Es sterben sogar jedes Jahr mehr Menschen bei Schiffsunfällen als bei Flugzeugabstürzen; wie wir schon beim Vergleich von Swimmingpools und Schusswaffen gesehen haben, ist das Wasser sehr viel gefährlicher, als die meisten Leute denken.)

Auf die Stunde umgerechnet, ist die Todesrate beim Autofahren und beim Fliegen jedoch ungefähr gleich. Flugzeug und Auto führen beide mit gleicher Wahrscheinlichkeit (oder in Wirklichkeit Unwahrscheinlichkeit) zum Tod.

Aber Furcht gedeiht am besten in der Gegenwart. Deshalb verlassen sich die Experten darauf; in einer Welt, die bei langfristigen Prozessen immer ungeduldiger wird, ist die Furcht ein wirksames Kurzzeitspiel.

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Regierungsbeamter, dessen Auftrag darin besteht, Geld für den Kampf gegen einen von zwei erwiesenen Killern aufzutreiben: Terroranschläge und Herzkrankheiten.

Wofür, glauben Sie, wird man eher Mittel bewilligen? Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand bei einem Terroranschlag getötet wird, ist unvergleichlich geringer als die Wahrscheinlichkeit, dass dieselbe Person ihre Blutgefäße durch zu fette Nahrung verstopft und an einer Herzkrankheit stirbt.

Aber ein Terroranschlag passiert jetzt; der Tod durch Herzversagen ist eine stille Katastrophe in ferner Zukunft. Terroranschläge liegen jenseits unserer Kontrolle, Pommes frites nicht.

Genauso wichtig wie der Kontrollfaktor ist das, was Peter Sandman als "Schreckensfaktor" bezeichnet. Der Tod durch einen Terroranschlag (oder Rinderwahnsinn) wird als absolut entsetzlich empfunden; für den Tod durch Herzversagen gilt das aus irgendwelchen Gründen nicht.

Sandman ist ein Experte, der mit beiden Seiten der Medaille arbeitet. An einem Tag hilft er vielleicht einer Umweltorganisation, eine Bedrohung für die öffentliche Gesundheit bekannt zu machen.

Am nächsten Tag könnte sein Klient der Chef einer Fastfoodkette sein, der es mit einem E.-coli-Ausbruch zu tun hat. Sandman hat seine Sachkenntnis auf eine saubere Gleichung reduziert: Risiko = Gefahr + Empörung. Für den Chef der Fastfoodkette mit dem verseuchten Hackfleisch bemüht sich Sandman um eine "Verringerung der Empörung", für die Umweltorganisation um eine "Steigerung der Empörung".

Bemerkenswert ist, dass Sandman auf die Empörung Einfluss nimmt, nicht auf die Gefahr als solche. Er räumt ein, dass Empörung und Gefahr bei seiner Risikogleichung unterschiedlich gewichtet sind. "Wenn die Gefahr groß und die Empörung gering ist, reagieren die Leute zu schwach", sagt er.

"Wenn die Gefahr gering und die Empörung groß ist, reagieren sie zu stark."

Warum ist denn nun ein Swimmingpool weniger furchterregend als ein Revolver? Der Gedanke, dass ein Kind von einer Kugel aus dem Revolver des Nachbarn in die Brust getroffen wird, ist grausig, dramatisch, entsetzlich - mit einem Wort: empörend.

Swimmingpools lösen keine Empörung aus. Das hat zum Teil damit zu tun, dass sie uns so vertraut sind. So wie die meisten Leute mehr Zeit im Auto als im Flugzeug verbringen, haben die meisten von uns mehr Erfahrungen mit Swimmingpools als mit Schusswaffen. Aber ein Kind kann innerhalb von dreißig Sekunden ertrinken, und das geschieht oft ganz geräuschlos.

© * Steven Levitt ist seit 1999 Wirtschaftsprofessor an der University of Chicago und Herausgeber des Journal of Political Economy. Stephen Dubner hat von 1994 bis 1999 als Herausgeber und Journalist für das New York Times Magazine gearbeitet. Heute schreibt er u.a. für den New Yorker, die Washington Post und Time. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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