Forum:Einfach abschalten

In der Ruhe liegt die Kraft: Es wird Zeit für eine Neudefinition der Zeiten, die gesellschaftlich, kulturell und persönlich wichtig sind. Denn Belastungen nehmen zu, aber das Leben kann man nicht verschieben.

Von Erwin Helmer

Die Zeitnot in Deutschland nimmt zu. Immer mehr Arbeitnehmer - und Arbeitgeber - sind krank wegen hoher psychischer Belastungen, Wettbewerbsdruck und Hektik. Depression, Burn-out und Erkrankungen mit psychischen Ursachen gefährden Gesellschaft und Wirtschaft. Viele fordern deshalb ein neues Recht, das "Recht auf Unerreichbarkeit", das "Recht auf den Feierabend". Recht haben sie.

Die IG Metall bereitet sich auf die Themen "Arbeitszeit ist Lebenszeit" und "Wem gehört die Zeit?" vor und will die Tarifverhandlungen in den nächsten Jahren dazu gestalten. Auch die Arbeitgeberseite hat das Thema entdeckt, allerdings mit etwas anderen Schwerpunkten. Sie will die Arbeitszeiten noch mehr flexibilisieren und weg vom 8-Stunden-Tag. Höchste Zeit für neue Zeiten also?

Ein Fall aus dem Arbeitsleben: Er war immer erreichbar, aber plötzlich war er nicht mehr da. Bei Terminen hieß es, er sei krank und man könne ihn gerade nicht sprechen. Dann hörte man, er habe Burn-out und brauche absolute Ruhe. Nach Monaten wurde klar, was los war: "Ich war total fertig. Die Ärzte haben mir empfohlen, aus allem raus zu gehen. Kein Handy, kein Internet, kein Fernsehen, keine Kontakte nach außen. Ich musste erst mal runterkommen. Dann, langsam, ganz langsam, bewegte sich was." So erzählte er mir. Der junge Mann hatte in dieser brenzligen Phase sozusagen sein "Recht auf Unerreichbarkeit" wahrgenommen, weil er nicht mehr konnte. Er hätte es früher tun müssen, bremsen, einen Halt einlegen, früher auf sich und seine Gesundheit schauen müssen. Denn man kann das Leben nicht verschieben.

Als Betriebsseelsorger greife ich gern bei Betriebsversammlungen dieses Thema auf. Sehr aufmerksame Gesichter sehe ich immer bei diesen Worten: "Man kann das Leben nicht verschieben. Man kann nicht auf Dauer und ohne Schaden zu viel arbeiten. Man kann nicht arbeiten wie ein Kranker, um dann gesund in Rente zu gehen." Meine Konsequenz lautet dann: "Es gilt, jetzt zu leben, hier zu leben, heute zu leben, sinnvoll und ganz zu leben. Und nicht erst morgen - womöglich in einem unerfüllten Traum von der Karibik, in der ewigen Sonne unter Palmen am Sandstrand des tiefblauen Meeres."

Wer immer erreichbar ist, lebt gefährlich. Krankenkassen schlagen Alarm, weil die Krankheitstage wegen psychischer Probleme ständig zunehmen. "Burn-out-Kurse" boomen, "Gesundheitstage" zu den Themen Depression und Burn-out sind hoch frequentiert. Sonntagsschützer protestieren gegen unnötige Arbeit am Sonntag. Immerhin haben einige Großkonzerne inzwischen begonnen, ihren Mitarbeitern mehr Schutz vor "zeitlichen Übergriffen" zu sichern. Der VW-Konzern setzte hier schon Ende 2011 als einer der ersten klare Regeln um: keine E-Mails nach Dienstschluss, Tarifbeschäftigten mit einem Dienst-Smartphone wurden die E-Mails in Randzeiten, am Wochenende oder an Feiertagen abgeschaltet. Konzerne wie die Telekom oder BMW haben nachgezogen. Bei BMW wurde 2013 die "Mobilarbeitszeit" in einer Betriebsvereinbarung geregelt. Hier können auch die Arbeitszeiten, die auf dem Laptop unterwegs oder zu Hause abgeleistet werden, in das Arbeitszeitkonto einfließen. Gelobt wird diese Regelung vor allem wegen der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Denn Homeoffice, um für ein krankes Kind da sein zu können, stellt dann kein Problem mehr dar. Allerdings ist der Haken dabei die Gefahr der Selbstausbeutung. Es gehört viel Selbstdisziplin dazu, um sich selbst einen guten, sinnvollen und gesunden Zeitrahmen zu geben.

Jeder Mensch braucht Zeit für sich ganz persönlich. Zeit, in der der Mensch Ruhe hat, sich entspannen kann und zu sich selbst findet. Zeit, in der mir bewusst werden kann, wer ich eigentlich bin. Was gut für mich ist. Was meine Verantwortung im Leben ausmacht. Das hat mit Identität zu tun. Wer bin ich eigentlich?

Im Tunnelblick durch die Arbeitswelt? Das kann nicht gut gehen

Von dem österreichischen Dichter Ödön von Horváth stammt das Wort: "Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu." Die Mühe und Anstrengung, der Stress und der tägliche Kampf in der Arbeitswelt hinterlassen Spuren. Der Mensch wird ein anderer, wenn er überfordert wird, wenn er zu viel arbeitet. Es geht um die eigene Identität. So mancher Mensch in der heutigen Arbeitswelt kommt mir da vor wie "ferngesteuert". Im Tunnelblick durch die Arbeitswelt? Das kann nicht gut gehen. Die besten Kräfte in uns, in den Menschen müssen geweckt werden. Und das - immer wieder neu. Das hat mit Würde zu tun. Dafür aber brauchen wir ganz persönliche Ruhezeiten, die wir in aller Freiheit genießen können. Der heilige Bernhard von Clairvaux schreibt in einem Brief: "Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein? Denk also daran: Gönne dich dir selbst. Sei wie für alle anderen auch für dich selbst da. Oder jedenfalls nach allen anderen."

Neben diesen individuellen Aspekten wird ein sozialer Aspekt der Zeitfrage immer wichtiger - der Umgang mit den "gemeinsamen freien Zeiten". Gemeint sind die Zeiten, in denen die Familien, die Freunde, die Menschen im Wohnviertel in der Regel arbeitsfrei haben. Das Beispiel der Schichtarbeit rund um die Uhr zeigt: Wenn der Vater am Montag und Dienstag frei hat, die Mutter am Mittwoch und die Kinder am Wochenende, dann hat die Familie ein Problem. Nicht umsonst leben Schicht-Arbeitende mit einem erhöhten Scheidungsrisiko und deutlich gesteigertem Gesundheitsrisiko. Sie vereinsamen leichter, und manche isolieren sich regelrecht. Gemeinsame Feiern, Feste und Unternehmungen, gemeinsames Essen mit der ganzen Familie, also all das, was Gemeinschaft, Familie und Kultur erst ausmacht, kann seltener vorkommen. Familie, Gemeinschaft, Vereinsleben, "Kultur" braucht Verlässlichkeit, Stabilität und Sicherheit. Deshalb sind die gemeinsamen freien Zeiten außerordentlich wichtig.

In unserem Kulturkreis ist dies vor allem der Sonntag. Sie hat schon ihren Sinn, die Vision von Juden und Christen: "Am siebten Tag ruhte Gott von all seinen Werken und so vollendete er sein Werk." In der Ruhe liegt die Kraft. In der Ruhe vollendete sich die Schöpfung, in der Ruhe liegt die Lösung für so manches moderne Problem.

Es wird also Zeit, höchste Zeit für eine neue Zeitinitiative, Zeit für eine Neudefinition der Zeiten, die gesellschaftlich, kulturell und persönlich wichtig sind. Das Recht auf Unerreichbarkeit kann so jedenfalls zum "Eckstein" einer neuen Zeitkultur werden. Vielleicht ein wichtiger Vorsatz für das Jahr 2016: regelmäßig unerreichbar sein!

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