Forum:Armut darf sich nicht vererben

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Heinrich Alt, 67, hat das Arbeitsamt Bad Kreuznach geleitet, war Staatssekretär im Sozialministerium in Rheinland-Pfalz. Von 2002 bis 2015 war er Mitglied im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit und zuständig für den Arbeitsmarkt. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Den Langzeitarbeitslosen fehlt oft eine Berufsausbildung, um bessere Jobchancen zu haben. Hier muss künftig etwas geschehen. Am deutschen Arbeitsmarkt sind Reformen dringend nötig.

Gastbeitrag von Heinrich Alt

Es gibt sicher viele Gründe für das schlechte Wahlergebnis der SPD im September 2017. Ein wesentlicher Grund ist nach wie vor das zwiespältige Verhältnis zur Grundsicherung, volkstümlich Hartz IV genannt. Die Agenda ist für relevante Teile der Partei immer noch ein Albtraum, Hartz IV klebte wie Kaugummi an den Schuhsohlen der Wahlkämpfer. Die SPD muss ihr Verhältnis zur Grundsicherung klären. Hätte sie von Beginn an geschlossen zur Agenda gestanden, gingen die Erfolge auch mit ihr nach Hause.

Für die Arbeitsmarktreformen braucht sich kein Genosse zu entschuldigen oder gar zu schämen, aber zweifellos gibt es bei einem Reformprozess dieser Größenordnung immer unvorhergesehene Mängel und Defizite, die korrigiert werden müssen. Eine Korrektur gab es bereits, die Einführung des Mindestlohns. In der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik gibt es jedoch noch viel zu tun.

Oberste Priorität hat zweifellos, Flüchtlinge in die Gesellschaft zu integrieren. Sie auszubilden, ihnen Arbeit zu vermitteln, ist eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe. Daneben sollten Union und SPD bei den Koalitionsverhandlungen drei Themen anpacken, deren Relevanz weit über eine Legislaturperiode hinausreicht.

So begrüßenswert es ist, dass wir ein Allzeithoch bei der Beschäftigung und ein Allzeittief bei der Arbeitslosigkeit verzeichnen und die Bundesagentur 17 Milliarden Euro auf der hohen Kante hat, umso dramatischer ist es, dass sich die Arbeitslosenversicherung schleichend vor allem im Osten Deutschlands marginalisiert. Hartz IV ist für 80 Prozent der Arbeitslosen dort der Normalfall, nicht die Versicherungsleistung. Weil die Hartz-IV-Empfänger aber von den Jobcentern betreut werden, fehlen den Arbeitsagenturen in vielen Regionen schlicht die Arbeitsuchenden, um die Stellenangebote der Arbeitgeber bedienen zu können. Zugleich stellt sich die Frage, ob bei weiter rückläufigem Kundenvolumen die Agenturen in der Fläche noch ihr Dienstleistungsangebot aufrechterhalten können.

Eine Lösung wäre, dass alle 600 000 sozialversicherungspflichtigen Aufstocker als Beitragszahler der Arbeitslosenversicherung in den Agenturen und nicht in den Jobcentern betreut würden. Die Bundesagentur hat derzeit die Infrastruktur, die Stellenangebote und die Mittel, um diesen Personenkreis zu beraten, zu fördern und existenzsichernd zu integrieren. Dies würde die Jobcenter mit ihren knappen personellen und finanziellen Ressourcen deutlich entlasten. Sie hätten mehr Zeit und Mittel, sich um die Integration Geflüchteter zu kümmern. Arbeitnehmer, deren Einkommen noch nicht zur Existenzsicherung reicht, könnte eine solche Statusverbesserung auch in ihrem Selbstwertgefühl bestärken.

Im Kern haben ein unzureichendes Einkommen, Langzeitarbeitslosigkeit und Altersarmut nur eine Wurzel: Den Betroffenen fehlt eine abgeschlossene Berufsausbildung. Bei Gelernten herrscht derzeit in weiten Bereichen Vollbeschäftigung, die Arbeitslosenquote der Ungelernten liegt immer noch jenseits der 20-Prozent-Marke. In der Perspektive wird die Digitalisierung der Arbeit die Risiken für Unqualifizierte eher erhöhen als verringern. Gut eine Million Ungelernter am deutschen Arbeitsmarkt unter 35 Jahren sind eine Million Langzeitrisiken für die Arbeitslosenversicherung und die Grundsicherung, spätere Altersarmut eingeschlossen. Deshalb sind erhebliche Anstrengungen nötig, zumindest allen geeigneten Jüngeren eine zweite Chance für eine Berufsausbildung zu geben, im Einzelfall natürlich auch Älteren. Bei der Vielzahl an nicht besetzten Ausbildungsplätzen darf kein Talent übersehen werden, um dem Bedarf an Fachkräften gerecht zu werden.

40 Prozent der Alleinerziehenden sind auf Hartz IV angewiesen. Das ist ein Skandal

Das wird aber nur gelingen, wenn auch die Rahmenbedingungen und die Anreize für die jungen Menschen stimmen. Das hieße: Im Einzelfall kann von der generellen Verkürzung der Ausbildungszeit um ein Drittel für Erwachsene abgesehen und den Menschen so mehr Zeit gegeben werden. Eine ausbildungsbegleitende Unterstützung jeder Art sollte es ohne Obergrenzen beim Alter geben. Und der Lebensunterhalt während der Zeit der Ausbildung sollte so hoch sein, dass er in etwa der Entlohnung für einen Helferjob entspricht, damit die Ausbildung nicht aus finanziellen Gründen abgebrochen wird. In der Grundsicherung lediglich den Regelsatz für die Dauer der Qualifizierung anzubieten, ist für Ungelernte, insbesondere auch in der Phase der Familiengründung, völlig unattraktiv. Dass eine anspruchsvolle Ausbildung schlechter honoriert wird als jede Arbeitsgelegenheit, ist schlicht nicht begründbar.

Armut darf sich nicht vererben. Für diesen Grundsatz gibt es sicher parteiübergreifend hohe Zustimmung. Was heißt das aber konkret für 1,5 Millionen Kinder, die von Sozialtransfers leben, davon die Hälfte in Haushalten von Alleinerziehenden ohne Bindung zur Arbeitsgesellschaft? Dass 40 Prozent von 1,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland Leistungen der Grundsicherung beziehen, ist ein - leider nicht wahrgenommener - gesellschaftspolitischer Skandal.

Der Handlungsbedarf ist offenkundig: So lobenswert der quantitative Ausbau der Kinderbetreuung durch die Kommunen ist, so unbestritten ist auch, dass er in erster Linie Familien im Normalarbeitsverhältnis hilft. Es fehlen bezahlbare, besser gebührenfreie Angebote der Kinderbetreuung in Randzeiten, besonders für Alleinerziehende. Dabei sollte man wissen, dass 60 von 100 Alleinerziehenden eine Beschäftigung im Bereich Pflege, Reinigung, Handel, Hotel und Gaststätten suchen, alles Tätigkeiten, die sich nicht mit den "normalen" Öffnungszeiten von Kitas und Kindergärten in Einklang bringen lassen.

Für getrennt lebende Eltern fehlt jeglicher materielle Anreiz, sich in einem gemeinsamen Haushalt um Einkommen und Erziehung zu kümmern. Im Gegenteil, Eltern verlieren im Normalfall 230 Euro, wenn sie eine Bedarfsgemeinschaft gründen. Beiden wird der Regelsatz gekürzt, und die Zulage für Alleinerziehende wird hinfällig. Und das in einem Land, das den Schutz von Ehe und Familie als Verpflichtung in sein Grundgesetz geschrieben hat.

Für ungelernte Alleinerziehende gibt es kein finanzielles Argument zur Aufnahme einer Ausbildung und Beschäftigung, erst recht dann nicht, wenn durch eine Tätigkeit im informellen Sektor der Transferbezug aufgebessert wird.

Auch hier ist die Beschäftigungspolitik in der Verantwortung, Rahmenbedingungen zu schaffen, die für Mütter und Väter Ausbildung und Beschäftigung attraktiver machen. Eltern müssen ein Vorbild für ihre Kinder sein können.

© SZ vom 29.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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