Folgen des Kohlebergbaus:Löcher im Revier

Erkundungsbohrungen am Hauptbahnhof in Essen

Der Kohlebergbau an der Ruhr hat Folgen: Die durchlöcherte Erde sackt ab

(Foto: dpa)

Erst Mainz, dann die Flut: Die Bahn muss mal wieder Umwege fahren. Diesmal sind Essen und Bochum abgekoppelt, weil alte Kohlestollen nachgeben. Die Ruhrkonzerne befürchten in Zukunft noch sehr viel größere Bergschäden.

Von Bernd Dörries, Markus Balser und Karl-Heinz Büschemann

Sie bohren sich ganz tief hinein in die Geschichte, mit schwerem Gerät und mit Akten. Sie graben in den Archiven und im Erdreich. Um den Hauptbahnhof in Essen stehen zwei große Bohrer, die nach bisher unbekannten Stollen suchen. Dass hier früher nach Kohle gesucht wurde, wusste man in Essen. Doch eben nicht genau genug. Jetzt weiß man mehr.

Weil das neben dem Bahnhof stehende alte AEG-Hochhaus abgerissen wird, schauten die Planer, ehe dort eine neue Konzernzentrale der Bahnlogistik-Tochter DB-Schenker gebaut werden sollte, sicherheitshalber noch einmal im Untergrund nach. Und sie wurden fündig. Die Experten stießen auf gefährliche Hohlräume, die in 20 Metern Tiefe unter den Bahngleisen verlaufen. Ausgerechnet hier, an einem der Hauptknotenpunkte des Ruhrgebiets.

Nun wird mitten in der Stadt vermessen. Damit die Stollen nicht einstürzen, werden sie mit vielen Tonnen Beton gefüllt. Die Folgen aber sind im ganzen Land zu spüren. Denn Züge dürfen den Bahnhof nur noch im Schritttempo passieren - und alle ICE-Fernzüge, die auf dem Weg von Köln und Düsseldorf nach Berlin oder Norddeutschland das Ruhrgebiet durchqueren, werden von der Hauptverkehrsachse ab- und über Nebenwege durch Oberhausen und Gelsenkirchen umgeleitet. Die Bahn muss nach der Elbe-Flut im Juni und dem Desaster in Mainz mal wieder Umwege fahren. Die wichtigen Hauptbahnhöfe Essen und Bochum sind vom ICE-Verkehr abgeschnitten. Etwa 3000 Züge meldeten deshalb schon Verspätungen.

Durchlöchert wie Schweizer Käse

Doch diesmal ist nicht die Bahn schuld. Das Problem ist das Ruhrgebiet, genauer gesagt: die Erde unter dem Revier, die durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. Der Kohlebergbau hat in der Erde ein System von Schächten und Gängen geformt. Bei jüngeren Bergwerken liegt dies zum Teil tiefer als 1000 Meter, bei den älteren aber nur dicht unter der Oberfläche. Die Gänge und Stollen müssen ständig ausgepumpt werden. Die Folge: Der Boden gibt nach.

Manchen Bauern am Nordrand des Ruhrgebietes sind die Felder im Laufe der Jahrzehnte um bis zu 30 Meter abgesackt. Für Flüsse wie die Lippe müssten die Dämme erhöht werden, um Überschwemmungen zu verhindern. Das Ruhrgebiet ist nach mehr als hundert Jahren Kohlebergbau zwischen Dortmund und Duisburg inzwischen schon so weit abgesackt, dass ein großer See von der Größe der Niederlande entstünde, würde das Auspumpen der alten Schächte eingestellt.

Schon heute bilden sich häufig kleine Seen, wo früher Wiesen waren. Immer wieder stürzen Gebäude ein. Im Januar 2000 verschwanden in Wattenscheid zwei Garagen im Boden. Im Jahr 2011 versanken in Essen drei Autos in einem Erdloch, das sich urplötzlich über einem alten Stollen auftat. Die Kohlegesellschaft RAG, die den unrentablen deutschen Kohlebergbau beenden und die letzte ihrer drei Zechen 2018 schließen muss, hat vorsorglich mehr als vier Milliarden Euro in ihre Bilanz geschrieben, mit denen sie die Bergschäden an Gebäuden oder Straßen bezahlen will.

Mehr Schächte als vermutet

Und niemand weiß, was noch alles passiert. Denn nach Schätzungen von Experten sind an der Ruhr 20.000 Schächte und Stollen vom Einsturz gefährdet. Schon heute bekommt die RAG in jedem Jahr 35.000 Meldungen von Schadensfällen. Die Probleme im Zugverkehr, heißt es in beteiligten Unternehmen, dürften wohl nur der Anfang sein. Für die Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, könnte die Altlast zum Milliardenproblem werden.

Für fast 2000 Schächte ist allein Deutschlands zweitgrößter Energiekonzern RWE aus Essen verantwortlich - darunter für Secretarius Aak, jenen Flöz in unmittelbarer Nähe des Essener Hauptbahnhofs, der nun den Zugverkehr bremst. Betrieben wurde er einst vom Essener Bergwerk Victoria Mathias, dessen Erbe heute zu RWE gehört.

Die alten Stollen unter den Bahngleisen lösen Ratlosigkeit aus. Denn die Probleme sind, wie am Montag bekannt wurde, größer sind als anfangs gedacht. Es gibt mehr Schächte als vermutet. Der Verlauf wurde erst von 1870 an systematisch in Karten festgehalten. In der Gegend in der Nähe des Essener Bahnhofs wurde aber schon um 1840 nach Kohle gegraben.

Verspätungen bis Jahresende

Für Bahnreisende im Ruhrgebiet werden die unterirdischen Hohlräume zum wochenlangen Hindernis. "Wir müssen davon ausgehen, dass die Sicherungs- und Verfüllarbeiten noch den ganzen Dezember andauern werden", sagte Peter Hogrebe, Dezernent für Altbergbau der zuständigen Bezirksregierung Arnsberg. Die Deutsche Bahn teilte am Montag mit, die Fahrgäste müssten sich "voraussichtlich bis Ende Dezember auf Verspätungen einstellen." Die Bezirksregierung in Arnsberg empfiehlt zusätzliche Erkundungs- und Sanierungsarbeiten. Welche Kosten entstehen, ist noch gar nicht abzusehen.

Offen ist auch, ob am Ende der Stromkonzern RWE für Schäden haften muss. Zunächst müsse die Situation unter Kontrolle gebracht werden, sagte eine Sprecherin des Unternehmens. Dann werde das Bergbauamt die Haftung prüfen. Noch sei offen, ob illegale Stollen den Stillstand ausgelöst hätten. In jedem Fall hat auch RWE vorgesorgt und in seiner Bilanz 2,9 Milliarden Euro an "bergbaubedingten Rückstellungen" gebildet. Auch der Rivale Eon aus Düsseldorf und der Thyssen-Krupp-Konzern, ebenfalls aus Essen, haften für zusammen mehrere tausend Schächte und Stollen. Sie betrieben einst eigene Kohlezechen, die sie im Jahr 1968 an die deutsche Kohleeinheitsgesellschaft Ruhrkohle abgaben.

Der Kohlebergbau, der das Ruhrgebiet schon im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Industriezentrum machte, hat unübersehbare Folgen hinterlassen. Nicht nur war die Luft über der Ruhr jahrzehntelang verrußt. Es blieb auch das zurück, was den verräterischen Namen "Ewigkeitslasten" trägt. Das sind die Kosten, die bis heute aufgebracht werden müssen, um Tausende von Kilometern alter Stollen tief in der Erde auf Dauer auszupumpen. Dafür sind Milliarden nötig.

Um diese Kosten zu stemmen, haben die Bundesregierung und die NRW-Landesregierung 2007 die Kohlestiftung gegründet. Sie soll das notwendige Geld mit ihren Aktienbeteiligungen vor allem am Chemieunternehmen Evonik verdienen. Die Ewigkeitskosten des Steinkohlebergbaus wurden vor sechs Jahren noch auf eine Milliarde Euro pro Jahr geschätzt. Heute liegt diese Schätzung um ein Vielfaches niedriger: Das Abpumpen von Grundwasser und die Beseitigung von Bergschäden soll etwa 220 Millionen Euro kosten.

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