Flüchtlinge in der EU:Was Grenzkontrollen für die Wirtschaft bedeuten

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Kontrolle an der deutsch-österreichischen Grenze.

(Foto: imago/Roland Mühlanger)
  • Die deutsche Wirtschaft sieht große Probleme für den Export des Landes, falls in Europa dauerhafte Grenzkontrollen eingeführt werden.
  • Auch die Produktion in vielen Branchen hängt an schnellen internationalen Lieferungen.
  • Zudem könnten Waren aus dem europäischen Ausland durch den längeren Transport teurer werden.

Von Karl-Heinz Büschemann, Alexander Hagelüken, Michael Kuntz und Thomas Öchsner

Ingo Kramer weiß, dass er als Verbandspräsident viele Interessen vereinen muss und deshalb besser jedes Wort abwägt. An diesem Mittwochabend aber, beim Neujahrsessen der Arbeitgeberverbände in Berlin, wollte und konnte der Familienunternehmer aus Bremerhaven nicht an sich halten. So leidenschaftlich wie selten sprach der BDA-Präsident über offene Grenzen, über das gemeinsame Europa, den freien Handel. Über das große Ganze.

Dass das jetzt womöglich durch Flüchtlings-Limits und Grenzkontrollen aufs Spiel gesetzt wird, bringt Kramer in Rage. "Das Schließen von Grenzen", sagt er, "ist das Gegenteil dessen, was unsere Nation groß gemacht hat. Was da an Kollateralschäden akzeptiert wird, um den Stammtisch zu befriedigen, ist abenteuerlich." Kramer ist mit seiner Wut nicht alleine. Quer durch die Wirtschaft wächst die Sorge, was eine dauerhafte Rückkehr zu Grenzkontrollen in Europa und andere Hindernisse anrichten könnten.

Stehen die Laster, sinken die Kurse

Große Firmen reden darüber ungern öffentlich, weil ihr Aktienkurs sinken könnte, wenn in der Zeitung steht, dass ihre Laster an den Grenzen stecken bleiben. Es geht um gigantische Dimensionen. Die deutsche Wirtschaft transportiert jedes Jahr Waren für 1200 Milliarden Euro in andere Staaten. Sie kauft die Hälfte aller Produkte und Vorprodukte im Ausland ein. "Unser Geschäftsmodell ist auf offene Grenzen angewiesen", warnt Außenhandelspräsident Anton Börner.

Die Unternehmen profitieren enorm davon, dass das Schengen-Abkommen seit 1995 in immer mehr EU-Staaten Reisen ohne Pass und Exporte ohne Probleme ermöglicht. Bisher. Doch seit immer mehr Flüchtlinge auf den Kontinent strömen, kontrollieren seit vergangenem Herbst verschiedene Länder fallweise wieder an den Grenzen. Auch die Bundesrepublik. An den deutsch-österreichischen Übergängen, über die allein ein Siebtel des deutschen Handels abgewickelt wird, melden Radiosender inzwischen an vielen Tagen kilometerlange Staus.

Wenn Grenzkontrollen dauerhaft wiedereingeführt werden, stehen die Unternehmen vor großen Problemen. Und diese Gefahr ist real. Die Bundesregierung scheitert bisher mit allen Versuchen, eine Verteilung der Flüchtlinge in Europa zu erreichen. Damit nimmt der Druck zu, die Schotten dicht zu machen. Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) sprach diese Woche bereits davon, man müsse sich auf Grenzschließungen vorbereiten. Andere Staaten könnten das Gleiche tun.

Grenzkollen könnten die Logistikbranche um Jahrzehnte zurückwerfen

"Grenzkontrollen würden der Logistikbranche Kosten in einer Größenordnung von mehreren Hundert Millionen Euro aufbürden und sie um Jahrzehnte zurückwerfen", kritisiert Bernhard Simon, Vorstandschef des Großspediteurs Dachser. "Die Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber anderen Weltwirtschaftsregionen würde massiv leiden." Wirtschaftsverbände schätzen die direkten Kosten durch die Kontrollen insgesamt auf drei bis zehn Milliarden Euro. Aber es geht nicht nur um direkte Kosten. "Zunehmende Grenzkontrollen könnten zu einer Schwächung der volkswirtschaftlichen Effizienz und damit zu Wachstumsverlusten führen", heißt es bei BASF. Eine Rückkehr zu den Zuständen vor Schengen bedeutet einen Rückfall auf die Wirtschaftsleistung der 80er-Jahre, fürchtet Außenhandelspräsident Börner.

Der Schaden dichter Grenzen besteht nicht nur darin, dass Waren durch längeren Transport teurer werden und durch die spätere Ankunft für Konsumenten weniger attraktiv. Die gesamte deutsche Industrie ist inzwischen aus Kostengründen auf Lieferungen ausgelegt, die genau im passenden Moment (just in time) ankommen und weiterverwendet werden. Lagerhaltung: möglichst null. Aber "wenn die Grenzen zu sind, fangen die Schlangen wieder an", weiß der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammern, Martin Wansleben. "Die Älteren von uns erinnern sich noch, wie es war, wenn man in die Nachbarstaaten fuhr. Da gab es nicht nur bei Urlaubsreisen lange Schlangen. Da standen die Lkw in langen Schlangen".

Ein ganzes Geschäftsmodell droht zusammenzubrechen

Beim Kölner Chemiekonzern Lanxess etwa geht die Befürchtung um, dass die Belieferung mit Rohstoffen beeinträchtigt wird. "Das würde uns über unsere Spediteure treffen", so ein Sprecher. Ein Problem für die ganze Industrie, sagt Außenhandelspräsident Börner: "Wenn der Laster von Italien stundenlang an der Grenze nach Österreich steht und noch mal nach Deutschland, bricht das ganze Geschäftsmodell zusammen."

Die Fertigung von Autos und anderen Produkten mit weltweiter Konkurrenz ist im Hochlohnland Bundesrepublik auch deshalb möglich, weil schnell und günstig Teile und Halbfabrikrate von überallher importiert werden können. Das steht nun infrage. Die meisten Güter kommen auf Lastern ins Land.

Vorschläge, an neuralgischen Punkten Personen wie Flüchtlinge extra zu kontrollieren und Lkw aus wirtschaftlichen Gründen zu bevorzugen, hält Börner für Unsinn: "Extra Spuren für Lkw nützen nichts." Bei Grenzkontrollen staue sich der gesamte Verkehr kilometerlang zurück. Dann seien auch Laster gefangen.

Nicht zu reisen ist auch keine Alternative

Ein Rückschritt wären die Kontrollen auch für die Reiseindustrie, heißt es beim Branchenverband DRV. Vor allem Kurzreisen in Skigebiete oder zu Zielen wie Salzburg und Meran wären betroffen. Einfach nicht zu verreisen, sei keine Alternative. Bereits heute seien die touristischen Kapazitäten in Deutschland zu den Hauptreisezeiten weitgehend ausgelastet.

Wichtiger als die Probleme einzelner Branchen dürfte aber sein, ob Grenzkontrollen nur der Anfang einer Entwicklung sind, die insgesamt zu abgeschotteten Volkswirtschaften führt - also eine Gegenbewegung zu dem Internationalisierungstrend, der Europa seit Jahrzehnten prägt. "Das ist ein Prozess, der sich selbst verstärkt und zum Protektionismus wird. Dann gehen in Europa die Lichter aus", warnt Börner. "Deutschland drohen auf Jahre Instabilität, weniger Wachstum und weniger Jobs."

Und die Hoffnung? Besteht darin, dass die EU-Staaten gemeinsam einen Weg finden, den Flüchtlingsstrom zu bewältigen. Wie wahrscheinlich das ist, schätzte Arbeitgeberpräsident Kramer beim Neujahrsessen so ein: "Gemeinsame europäische Lösungen zu finden, ist schwer. Nationalismus ist leicht."

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