Familienunternehmerin:"Das ist tief traurig"

Lesezeit: 5 min

Renate Pilz über die Abgasaffäre bei VW, den richtigen Umgang mit Fehlern und darüber, warum sie nichts von Verschwörungstheorien hält.

Interview von Elisabeth Dostert

Renate Pilz ist 74 und geht jeden Tag ins Büro. Sie wirkt nicht wie eine Frau, die nicht loslassen kann, sondern wie eine, die immer noch Freude an ihrer Firma hat. Gemeinsam mit ihren Kindern Thomas und Susanne ist sie geschäftsführende Gesellschafterin des auf Automatisierung spezialisierten Familienunternehmens Pilz. Mit weltweit mehr als 1900 Mitarbeitern, rund die Hälfte von ihnen in Ostfildern bei Stuttgart, setzte es vergangenes Jahr knapp 260 Millionen Euro um. Werte sind ihr wichtig, sie ist Mitglied im Bund katholischer Unternehmer.

SZ: Ihre Firma hat gerade für 20 Millionen den Stammsitz in Ostfildern erweitert. Was hält Sie in Deutschland? Wachstum findet woanders statt . . .

Renate Pilz: Deutschland ist für uns nach wie vor auch ein sehr guter Markt. Was mich aber vor allem hält, sind unsere Mitarbeiter hier. Sie sind ein Schatz. Unsere Familie steht in der Verantwortung. Manche Mitarbeiter arbeiten seit 30, 35 Jahren für uns. Die Fluktuation ist sehr niedrig. In kaum einem anderen Land finden wir so gut ausgebildete junge Leute wie hier. Es ist ja auch nicht so, dass wir gar nicht im Ausland investieren. Wir haben gerade in Jintan die Produktion aufgenommen, auch aus Gründen der Nachhaltigkeit. Wir vermeiden so lange und die Umwelt belastende Transportwege. Die Produkte aus Jintan sind ausschließlich für den chinesischen Markt bestimmt. Dort wird nach denselben Standards wie in Ostfildern gearbeitet und produziert.

Gelten dort in China auch die gleichen Werte wie in Ostfildern?

Schon Konfuzius lehrte Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Anstand, Aufrichtigkeit und Loyalität, das sind doch auch unsere Werte. Solche Werte setzen sich durch, wenn der Hunger erst einmal gestillt ist und die Menschen sich sicher fühlen. Das war in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht anders. Alle Menschen auf der Welt haben im Grunde genommen die gleichen Bedürfnisse. Sie wünschen sich Frieden und Liebe. Jeder Mensch will respektiert und angenommen werden.

Finden Sie denn genügend Mitarbeiter für Ostfildern? In den Rankings der attraktivsten Arbeitgeber tauchen Mittelständler wie Pilz gar nicht auf, sondern Firmen wie Bosch, Mercedes, VW, BMW, McKinsey, die Lufthansa oder gleich Google und Facebook.

Pilz hat auch etwas zu bieten.

Was bieten Sie, was andere nicht haben?

Wir haben attraktive Aufgaben . . .

. . . das sagen alle!

Ja. Aber wir waren die Ersten, die für die Sicherheit der Menschen am Arbeitsplatz, für die Sicherheit der Maschinen und Anlagen sorgten. Ich will jetzt nicht angeben, aber da haben wir, Pilz, die Standards gesetzt. Diese Aufgabe reizt unsere Mitarbeiter, ich spüre die Innovationsfreude.

Was für Leute suchen Sie?

Unsere Führungskräfte legen Wert auf gemischte Teams. Wenn sich dann das neue, "junge" Wissen von den Hochschulen mit dem angesammelten, "alten" Wissen unserer Mitarbeiter verbindet, passiert etwas ganz Tolles. So entstehen Innovationen. Ich mische mich grundsätzlich nicht ein, Bewerbungsgespräche sind Aufgabe der Führungskräfte. Aber wir reden viel. Wenn ich merke, es hakt irgendwo, dann spreche ich das an. Auch direkt: Wenn mir jemand mit gesenktem Blick im Treppenhaus begegnet, dann frage ich, was ihn oder sie bedrückt. Führen ist eine schwere Aufgabe.

"Ohne Werte zu führen führt zu nichts", sagt Unternehmerin Renate Pilz. In ihrem Hause herrschten Offenheit und Klarheit. (Foto: oh)

Was ist denn so schwer?

Den Menschen gerecht zu werden, das ist schwer.

Hatten Sie schon einmal das Gefühl, dass Sie jemanden ziemlich ungerecht behandelt haben und sich dafür entschuldigen sollten?

Nein. Aber wenn ich jemanden ungerecht behandelt hätte, hätte ich die Kraft, mich zu entschuldigen. Das ist doch selbstverständlich. Ich entschuldige mich ja auch bei meinen Kindern, wenn ich ungerecht war. Das hat aber wenig mit Führung zu tun, sondern damit, dass ich meinen Nächsten respektiere.

In anderen Unternehmen scheint das nicht der Fall zu sein. Ist VW nach der Abgas-Affäre noch ein attraktives Unternehmen ?

Ich glaube schon. Das schmerzt jeden, dass hier manipuliert wurde. Das ist tief traurig. Mir tut es leid um die Tausenden Mitarbeiter, die bei VW jeden Tag eine gute Arbeit abliefern und nun in den Sog der Affäre geraten. Allgemein gilt: Ohne Werte zu führen führt zu nichts. Gier und Machtstreben führen zu nichts.

Sind Werte eine Frage der Größe? Ist das in einem Konzern überhaupt noch möglich, Werte wie Respekt und Aufrichtigkeit zu pflegen?

Das glaube ich schon. Auch ein Konzern wird von Menschen geführt. Menschen, die in einem Unternehmen Verantwortung tragen und andere führen, müssen sich bewusst sein, dass sie Vorbild sind und hinterfragt werden. Man kann Dinge anders sehen, man darf auch Fehler machen, betrügen darf man nicht. Es sind ja viele Verschwörungstheorien im Umlauf, wer bei VW was wusste und wer wem schaden wollte. Die lösen aber das Problem nicht.

Was denn?

Fehler muss man eingestehen, dann kann der Heilungsprozess beginnen und Vertrauen wieder hergestellt werden. Lieferanten, Kunden, Mitarbeiter - das ist eine Kette von Vertrauen, auf die muss ich mich verlassen können.

Finden Sie es richtig, dass Martin Winterkorn als Vorstandschef abgetreten ist?

Er musste die Verantwortung übernehmen.

Sie sagen, die Abgas-Affäre schade der deutschen Wirtschaft. Spüren Sie denn schon in Ihrem Kundenkreis?

Eine gewisse Skepsis spüren wir schon. Vielleicht ist es noch nicht einmal Skepsis, sondern eher ein Erstaunen. So etwas hätte man der deutschen Industrie und ganz konkret VW nicht zugetraut. Ich auch nicht.

Sind Sie sich denn sicher, dass Pilz vor so einem Betrug gefeit ist?

Bei uns im Haus herrscht so viel Offenheit und Klarheit, dass so etwas nicht passiert. Das ist jetzt etwas despektierlich, aber der alte Bosch hat schon sinngemäß gesagt: Geld kann man verlieren, aber den Ruf darf man nicht verlieren. Es kann schon sein, dass sich der eine oder andere Mitarbeiter mal fehl verhält, aber dann muss doch so viel Transparenz in einer Firma herrschen, dass das auffällt.

Fürchten Sie, dass unter der Affäre Ihr Geschäft leidet?

Nein. Unsere Kunden wissen, dass Pilz ein fairer und verlässlicher Partner ist. Das heißt nicht, dass wir keine Fehler machen. Menschen sind fehlbar. Aber dann geht man unverzüglich zum Kunden, redet und räumt die Fehler aus. Wenn wir ein Problem erkennen, dann handeln wir sofort. Denn von der Sicherheit unserer Produkte hängen Menschenleben ab.

Pilz ist in den vergangenen Jahren kräftig gewachsen. Macht Ihnen das manchmal Angst?

Nein. Wir wachsen nur so stark, dass wir nicht in Abhängigkeit geraten. Ehe wir abhängig werden, würden wir lieber das Wachstum drosseln.

Abhängig von wem?

Von Banken. Wir finanzieren Investitionen aus eigenen Mitteln. Alles, was das Unternehmen verdient, reinvestieren wir. Wir wollen frei entscheiden. Es gibt Entscheidungen, da gehört viel Mut dazu. Da soll uns keiner reinreden.

Welche denn?

Innovationen, zum Beispiel, wie Safety Eye, das weltweit erste sichere Kamerasystem zur dreidimensionalen Raumüberwachung, das Gefahrenräume über seine Software abbilden kann. Es erkennt, wenn sich Menschen in einem Gefahrenbereich aufhalten, in dem sie beispielsweise durch den Schwenk eines Roboterarms zu Schaden kommen können. Bei Gefahr verlangsamt oder stoppt Safety Eye die Bewegung des Roboters. Oder unsere Industrie-4.0-fähigen Steuerungssysteme. Eine Innovation ist ja nur dann eine Innovation, wenn der Markt sie annimmt, das weiß man aber vorher nicht. Die Kunden müssen die Vorteile ja auch erkennen.

Sie haben 1975 nach dem Unfalltod Ihres Mannes Peter unerwartet und unvorbereitet die Verantwortung für das Familienunternehmen übernommen, erst mit fremden Geschäftsführern, dann Mitte der 90er-Jahre auch operativ. Wann traten Routine und Gelassenheit ein?

Das habe ich im Laufe der Jahre gelernt. Mit jedem Erfolg und jedem Misserfolg wurde ich sicherer. Aber eine gewisse Anspannung ist immer da, weil auch die Verantwortung da ist.

Dachten Sie 1975 daran, die Firma zu verkaufen?

Keinen Augenblick. Ich wollte, dass das, was mein Mann aufgebaut hat, weitergeht. Ich konnte nicht anders. Ich wollte sein Lebenswerk fortsetzen. Mir war schon bange, als ich zum ersten Mal zur Hannover Messe ging. Ich ging die große Freitreppe hinunter. Da dachte ich, das packe ich nicht. Ich wollte umdrehen.

Was hat Sie davon abgehalten?

Mir kam ein Schwarm junger Männer entgegen. Die kannten mich nicht, mich kannte ja keiner. Ich war bis dahin Hausfrau und Mutter. Auf meiner Höhe drehte sich dann einer der Männer um und sagte zu den anderen: Oh, wir müssen zurückgehen und schauen, was der Pilz Neues hat. Da dachte ich, so muss es bleiben! Das Unternehmen lebt nach wie vor von ihm. Er hat die Weichen gestellt. Die Elektronik war sein Leben. Er hat sehr weit vorausgedacht. Ich fand das wunderbar, dass ein Mensch so für seine Sache lebt.

© SZ vom 29.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: