Fallschirmspringer Jürgen Mühling:"Wie blöd bin ich eigentlich?"

Fallschirmspringer Jürgen Mühling ist süchtig nach Höhenrausch. Ein Gespräch über Risiko und Rationalität, Glücksgefühle und die Angst vor dem Absturz.

C. Hoffmann

Er liebt atemberaubende Felsabstürze und majestätische Fernsichten. Mehr als 8500 Mal ist er schon aus dem Flugzeug gesprungen - mit dem Fallschirm im Gepäck. Dann musste eine neue Herausforderung her: Er hüpft von Hochhäusern oder Windrädern in die Tiefe und nennt sich Basejumper. Jürgen Mühling, 42, ist einer, der einfach nicht genug bekommt vom freien Fall. Er zählt zu den bekanntesten Objektspringern Deutschlands. Mühling betreibt eine eigene Sprungschule in Fehrbellin bei Berlin.

Fallschirmspringer Jürgen Mühling: Fallschirmspringer Jürgen Mühling beim Sprung: "Basejumping macht süchtig."

Fallschirmspringer Jürgen Mühling beim Sprung: "Basejumping macht süchtig."

(Foto: Foto: ddp)

Süddeutsche Zeitung: Herr Mühling, was fühlen Sie, wenn Sie von einer Felswand springen?

Jürgen Mühling: Es ist ein gigantischer Moment. Ich sehe die grandiose Landschaft und spüre, dass ich lebe. Zugleich habe ich Angst, es könnte schiefgehen und ich bin in sechs Sekunden tot. Ich frage mich: Wie blöd bin ich eigentlich, hier zu stehen und gleich zu springen? Dieses ganze Teufelchen-Engelchen-Spiel löst innerlich einen elektrischen Schlag aus.

SZ: Klingt nach einer harten Droge.

Mühling: Basejumping macht süchtig. Es ist unbeschreiblich. Spätestens wenn ich gelandet bin und merke, dass alles geklappt hat, steigt ein unvergleichliches Glücksgefühl in mir auf.

SZ: Andere Menschen joggen eine Runde im Stadtpark und sind danach auch glücklich. Muss es gleich der Sprung von der Eiger-Nordwand sein?

Mühling: Jeder Mensch sucht sich im Leben das, was ihn am meisten anmacht. Ich bin beim Fallschirmspringen gelandet, andere bauen ganz akribisch Modelleisenbahnen auf.

SZ: War der erste Sprung auch schon so lustvoll?

Mühling: Da stand ich im Zeichen der perfekten Reizüberflutung. Ich erinnere mich nur noch, dass es tierisch abwärts ging. Plötzlich hing ich mit einem Ruck am Schirm und kam heil unten an. Erst nach der Landung stellte sich das Gefühl ein: "Wow, war das geil!" Da wusste ich: Hier bin ich richtig. Ich kann gar nicht sagen, warum das so war. Es berührte mich nur ganz tief bis in mein Innerstes.

SZ: Der Tandemsprung mit dem Fallschirm ist das eine, der Basejump vom Hochhaus etwas ganz anderes. Suchen Sie von Mal zu Mal größere Gefahren?

Mühling: Wer viel wagt, der viel gewinnt. Das ist im Extremsport nicht anders als an der Börse. Wem beim Schiffschaukeln schon mulmig wird, der wird nie Fallschirmspringen. Es gehört natürlich ein gewisser Lebensmut dazu, das zu machen, was ich tue.

SZ: Ist es nicht eher Todesmut?

Mühling: Das unterstellen uns die Psychologen auch immer. Sie glauben, Extremsportler verhalten sich latent suizidal. Aber die wissen ja gar nicht, wovon sie reden. Es geht darum, das Leben zu spüren - nicht den Tod.

SZ: Um jeden Preis?

Mühling: Der Mensch kann Langeweile nicht lange standhalten, das ist meine Meinung. Er muss, wenn er etwas erreicht hat, den nächsten Level testen. Wenn er sich getraut hat, mit 120 Stundenkilometer über die Autobahn zu steuern, versucht er, das nächste Mal mit 140 zu fahren. Er steigert seine Risiko- und Reizschwelle, weil er dann wieder was erlebt. Es muss ja nicht gleich der Basesprung vom Hochhaus sein. Ich mache das nur, weil mich viel Erfahrung bis an diese Reizschwelle gebracht hat. Es ist ein knallhart kalkuliertes Risiko...

SZ: ...das auch tödlich enden kann.

Mühling: Die Gefahr, beim Fallschirmspringen tödlich zu verunglücken, liegt bei 0,00013 Prozent. Beim Fußballspielen passiert viel mehr - und auch beim Kegeln sterben die Leute öfter: an Herz-Kreislauf-Versagen. Aber ich will nichts beschönigen: Man kann bei jedem Sprung ums Leben kommen.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie die Angst beim Fallschirmspringen hilft - und warum zu viel Selbstgewissheit auch bei der Anlage zum Absturz führt.

"Wie blöd bin ich eigentlich?"

SZ: Was ist Ihre Lebensversicherung dagegen?

Mühling: Besonnenheit. Man muss schon ein Freak sein, um aus einem Flugzeug zu springen - nur aus Spaß an der Freude. Aber man muss auch besonnen sein. Denn ich weiß: Wer dem Tiger ungestraft auf den Schwanz treten will, muss atemlose Wachheit walten lassen. Der Sport übt einen großen Reiz aus: Mit jeder überwundenen Gefahr wächst die Persönlichkeit, das Selbstwertgefühl nimmt zu, die Anerkennung steigt. Da ist es wichtig, dass ein Springer weiß, wann er "nein" zu sagen hat.

SZ: Hilft ihm dabei die Angst?

Mühling: Angst muss dabei sein. Angst ist ein Warnsignal des Körpers, es sorgt dafür, dass die Springer hellwach sind.

SZ: Allzu furchtsam darf man wohl nicht sein, wenn man sich in die Tiefe stürzen will. Gibt es ein rechtes Maß der Angst?

Mühling: Angst hat viele Gesichter. Sie ist von Mensch zu Mensch verschieden. Respekt ist eine Facette, Panik eine andere - dazwischen gibt es Millionen Abstufungen. Wenn man springt, sollte man den Respekt vor der Sache nie verlieren, denn die Natur ist stärker als der Mensch. Wenn man aber panisch Angst davor hat rauszuspringen und merkt, dass man das gar nicht will, sollte man es lassen. Nicht jedes Nervenkostüm ist solchen Extrembelastungen gewachsen.

SZ: Wie gehen Sie mit der Angst um?

Mühling: Angst ist ein Spiegel. Wer Angst hat, stößt an seine Grenzen - und lernt sich dabei besser kennen. Wenn ich etwas riskiere, bewege ich mich in einem Grenzbereich. Die Frage ist, ob ich die Angst bewältigten kann oder ob sie mich übermannt. Es muss ja nicht immer die berühmte Reinhold-Messner-Grenze sein, die er am Berg erlebt. Es gibt Millionen Grenzen im täglichen Leben.

SZ: Menschen, die ständig ihre Grenzen testen, gelten als pubertär. Kümmert Sie das?

Mühling: Die Risikosuche hat nichts mit pubertären Spielchen zu tun. Es ist eine Sache der Evolution. Der Mensch will an seine Grenzen gehen. Wäre er nicht so gepolt, würde er heute noch in der Höhle sitzen und Tiere an die Wand malen.

SZ: Anleger, die mit ihrer ersten Spekulation Erfolg hatten, riskieren beim nächsten Mal gern mehr.

Mühling: Das ist normal.

SZ: Aber an der Börse ist der Absturz programmiert, wenn ich in großer Selbstgewissheit immer mehr wage.

Mühling: Ja, klar. Irgendwann kommt es immer zum Kollaps. Aber wann ist das Risiko zu viel? Der Mensch will das wissen. Er wird erst vorsichtig, wenn er sich die Finger verbrannt hat. Je schlimmer die Erfahrungen sind, desto vorsichtiger wird er in einer vergleichbaren Situation. Ein 15-Jähriger geht vielleicht noch mit einer gewissen Unbedarftheit ran. Wenn er sich bei Klippensprüngen in die Tiefe den Rücken blau gehauen hat, überlegt er das nächste Mal, ob er den Sprung riskieren soll.

SZ: Muss es immer wehtun?

Mühling: Die Frage ist doch: Wie betreibt man den Sport? Ich wäge die Risiken gegen das eigene Können ab. Ich kann schon fast garantieren, dass der Sprung von einer Brücke oder einem Windrad perfekt läuft, weil ich die nötige Erfahrung habe. Springe ich aber von einer Felswand, die wenig Überhang hat, dann weiß ich: Wenn ich das nicht sauber ausführe, wird mich der Berg treffen. Wenn ich bei Sturm starte und mit meinem Fallschirm zum Spielball der Naturgewalten werde, dann gehe ich ein sehr hohes Risiko ein. Dabei muss ich mich auf mein Glück verlassen.

SZ: Wo bewegt man sich auf der Skala zwischen Können und Glück?

Mühling: Schwierig zu sagen. Jeder Sprung muss genau berechnet und gut organisiert sein. Lediglich der Wind lässt sich nicht vorausplanen. Vielleicht rede ich mir ja die Bedingungen schön. Auch der Anleger sucht das Risiko, weil er sich einen hohen Profit verspricht, und redet sich die Dinge schön. Er investiert trotz des Sturms und vertraut auf sein Glück.

SZ: Und wenn es schief geht, war der Anlageberater schuld.

Mühling: Wenn die Spekulation misslungen ist, wollen die Leute nicht mit den Konsequenzen leben. Das ist auch beim Extremsport so. Einige Sportler sind bereit, alles zu riskieren - das behaupten sie zumindest. Aber eigentlich sind sie gar nicht willens, alle negativen Folgen hinzunehmen. Plötzlich ist das Erwachen groß, wenn sie nach einen Fallschirmsprung mit gebrochenem Bein in der Wiese liegen. Solche Menschen haben nie an das Versagen geglaubt.

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