Fahrerlose Züge:Wenn der Computer den Zug steuert

ICE 4 im Probebetrieb

Führerstand eines Zugs des Typs ICE 4 der Deutschen Bahn ohne Lokführer: Ingenieure arbeiten daran, mit mehr Automatisierung einen ganzen Beruf überflüssig zu machen.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)
  • Die Bahnbranche setzt große Hoffnungen in fahrerlose Züge. Überall in Europa liegen Pläne dafür bereit.
  • In U-Bahnen ist die Technik schon im Einsatz. Und auch die Deutsche Bahn will in wenigen Jahren Züge ohne Lokführer einsetzen.
  • Die Bedenken sind allerdings groß: Viele bezweifeln, ob die Technik reif für die Serie ist. Außerdem stehen Jobs auf dem Spiel.

Von Markus Balser

Dass durch die hügeligen Wälder zwischen Annaberg-Buchholz und Wolkenstein bald ein Hightech-Zug fährt, ahnt selbst im Erzgebirge bislang kaum jemand. Der rote Triebwagen der Baureihe VT 642 sieht allerdings auch eher nach Pendlerschreck aus als nach Vision. Trotzdem ist von ihm und seiner sächsischen Provinztrasse unter Konzernstrategen in der gläsernen Zentrale der Deutschen Bahn in Berlin derzeit ziemlich oft die Rede, wenn es um die Zukunft des Unternehmens Bahn geht. Von allen anderen Zügen in Deutschland, selbst den modernsten ICEs, unterscheidet ihn ein bemerkenswertes Detail: Er könnte am Ende der Tests als Erster Passagiere automatisch befördern - ganz ohne Lokführer.

Beschleunigt von einer Maschine, gesteuert von Algorithmen, gebremst von Sensoren und Computerchips: Die Deutsche Bahn baut gerade auf einem rund 25 Kilometer langen Streckenabschnitt bei Chemnitz ein Testfeld auf. Die DB-Tochter Regio hat in ihrer Chemnitzer Werkstatt dafür den unauffälligen Kurzzug mit Kameras und Sensortechnik hochgerüstet. Das System soll etwa Hindernisse erkennen und den Zug bei Problemen rechtzeitig stoppen. Spätestens im Herbst soll der Zug erst einmal teilautomatisch losfahren. Nur die Genehmigung des Eisenbahnbundesamtes fehlt noch. ATO - Automatic Train Operation - heißen die Systeme, die als künftiges Gehirn eines Zuges gelten. Der Konzern hat keine Zweifel mehr daran, dass die künstliche Intelligenz in einigen Jahren im größeren Stil Züge steuern wird. Die zunehmende Automatisierung sei nicht mehr aufzuhalten, sagt ein Sprecher. Spätestens 2023 werde die Deutsche Bahn so weit sein, Teile des Netzes vollautomatisch zu fahren, heißt es aus der Führung des Konzerns.

Die Hoffnungen der Bahnbranche sind groß. Überall in Europa liegen Pläne für fahrerlose Züge in der Schublade. Mit der französische Staatsbahn SNCF haben die Deutschen bereits eine gemeinsame Digitalisierungsstrategie vereinbart. Sie sieht vor, dass Deutsche und Franzosen gemeinsam den fahrerlosen Zug entwickeln. "Es geht darum, dass wir uns austauschen und Erfahrungen teilen. Dass wir gemeinsam Standards setzen", sagte Guillaume Pepy, Chef des französischen Bahnkonzerns SNCF. Und auch die Schweizer SBB kündigte gerade an, dass sie die Möglichkeiten "ferngesteuerter Züge" prüfe.

Wer wissen will, was technisch heute schon machbar ist, muss noch unter die Erde gehen: In 16 europäischen Städten von Kopenhagen bis Turin fahren U-Bahnen oder Flughafen-Züge komplett automatisiert. In London wird die U-Bahn in den nächsten Jahren umgestellt. Und auch in Deutschland gibt es erste Beispiele: Seit sieben Jahren verkehren in Nürnberg zwei U-Bahn-Linien fahrerlos. Der positive Effekt aus Sicht der Betreiber: Die Züge sind nach Angaben der Stadt fast zu 100 Prozent pünktlich, verbrauchen wegen optimierten Fahrstils weniger Energie. Und: fahrerlose Züge können in deutlich kürzerem Takt fahren. Der Mensch traut der Technik kürzere Sicherheitsabstände zu. Das alles soll dafür sorgen, dass sich die 600 Millionen Euro Investitionen in die weitgehend menschenfreie Fahrtechnik irgendwann auszahlen.

Konzerne wie die Bahn gehen davon aus, dass sich die teure Technik auch überirdisch rechnen kann. Wenigstens auf einem Teil der Strecken. Ein dichterer Takt könnte etwa auf den chronisch überlasteten europäischen Ferntrassen Abhilfe schaffen. Schließlich läuft heute bereits vieles in den Cockpits der Bahnen automatisch. "Lokführer haben kaum noch Entscheidungsspielraum", sagt Jürgen Siegmann, Professor für das Fachgebiet Schienenfahrwege und Bahnbetrieb an der Technischen Universität Berlin. Sie müssten vor allem ein System überwachen, das vieles schon automatisch meistert. Doch der letzte Schritt gilt als der schwierigste. Kann der Computer an Bord wirklich jede Entscheidung des Menschen übernehmen?

Forscher wissen: Die technischen Herausforderungen sind gewaltig. U-Bahnen gelten für Ingenieure als vergleichsweise einfache Teststrecken. An die oberirdische Revolution traute sich bislang niemand so recht heran. Tunnel unter dem Nürnberger Hauptbahnhof oder die Metro unter der Kopenhagener Altstadt sind abgeschlossene Räume und weit weg von all den Gefahren, die auf ICE-Trassen bei Höchstgeschwindigkeiten lauern: Tiere, Menschen oder Gegenstände auf den Gleisen, Unwetter und umgestürzte Bäume. Auch im internationalen Vergleich gilt der Einsatz von fahrerlosen Zügen in Deutschland als besonders kompliziert. Denn anders als in Frankreich oder Japan verfügt Deutschland über ein Schienennetz mit Mischbetrieb: ICEs, Güterzüge und Regionalbahnen sind oft auf denselben Trassen unterwegs. Der gleichzeitige Einsatz von Zügen mit und ohne Lokführer wäre jedoch technisch eine gewaltige Herausforderung. Fachleuten zufolge könnten Computer als Erstes dort übernehmen, wo nur eine Zugart verkehrt. Zu denen gehören Hochgeschwindigkeitstrassen der ICE-Züge zwischen Frankfurt und Köln etwa oder auf der Neubautrasse München - Berlin.

Nur die Hälfte der Kunden will in ferngesteuerte Züge einsteigen

Experten hinterfragen allerdings, ob die Technik überhaupt schon reif ist für den Fernverkehr. Lokführer lösen bei Tempo 250 angesichts einer Kuh oder eines Rehes auf dem Gleis oft keinen Bremsbefehl aus. Denn der könnte im schlimmsten Fall Fahrgäste in Gefahr bringen, ganz abgesehen von den Störungen auf den eng getakteten Hochgeschwindigkeitstrassen. Die heutige Sensortechnik aber hat schon Mühe, Metallteile von Lebewesen zu unterscheiden. Und was ist, wenn es brennt: Muss der Zug sofort anhalten oder reicht es im nächsten Bahnhof? "Wir können auf das Auge und die Erfahrung eines Lokführers im Cockpit heute noch nicht verzichten", ist sich Professor Siegmann sicher. Er traut Menschen zu, in heiklen Situationen die bessere Entscheidung zu treffen, als die Technik. Noch.

Denn die technischen Systeme werden immer raffinierter. In Österreich ist eines bereits im Einsatz. Auf der eingleisigen, rund 15 Kilometer langen Traunseebahn übernimmt immer wieder ein autonomes System aus Laserscannern, Kameras, Radar-, Infrarot- und Ultraschallsensoren die Aufgaben des Lokführers. Der Computer erkennt, wenn Autos oder Personen auf der Schiene sind. Bei Nebel, Schneefall und nachts sei die Sensorik dem menschliche Auge sogar überlegen, sagt Josef Berger vom Betreiber Hafferl Verkehrsgesellschaft. "Die Genehmigungsverfahren für den Übergang vom Test- zum Dauerbetrieb aber werden kompliziert."

Bei den Gewerkschaften sorgen die Zukunftspläne der Bahn bereits für Unruhe. Arbeitnehmervertreter ahnen, was da auf die etwa 20 000 Lokführer in Deutschland zukommt. "Er kriege die "kalte Wut", wetterte etwa Claus Weselsky, Bundesvorsitzender Lokführergewerkschaft GDL, als die Pläne bei einer Messe erstmals die Runde machten. Auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG, die größte bei der Bahn, meldet Bedenken an. "Die rechtlichen und die Haftungsfragen sind noch völlig ungeklärt", sagt EVG-Chef Alexander Kirchner. "Noch ist beispielsweise völlig unklar was passiert, wenn ein Zug ohne Lokführer auf freier Strecke liegen bleibt, sei es durch einen technischen Defekt oder Schlimmeres." Personalvorstand Ulrich Weber hat reagiert und einen runden Tisch mit Arbeitnehmern zu digitalen Fragen einberufen. "Veränderungen wird es geben", sagt EVG-Chef Kirchner. "Aber die müssen sozialverträglich mit den Mitarbeitern und nicht gegen sie erfolgen."

Hinter vorgehaltener Hand sprechen Bahn-Manager durchaus vom Sparpotential

Kein Lokführer müsse befürchten, morgen arbeitslos zu sein, sagt ein Bahn-Sprecher. Eine Umrüstung auf automatischen Betrieb sei nur bei einem Teil der Züge denkbar und selbst da müsse qualifiziertes Personal an Bord sein. Doch hinter vorgehaltener Hand sprechen Bahn-Manager durchaus vom Sparpotenzial durch digitale Technik. Vor allem im kriselnden Güterverkehr hofft man darauf. Das Ziel: Internationale Züge etwa von Hamburg nach Neapel, die ohne Stopp auskommen.

Die Bundesregierung wünscht sich bei der Automatisierung noch mehr Engagement der Bahn. Das Bundesverkehrsministerium plant eine Studie, die "Potenziale und Auswirkungen des automatisierten Fahrens auf der Schiene" analysiert. So sollten "erforderliche Maßnahmen für die Gewährleistung der Betriebssicherheit ermittelt werden". Die Bahn müsse Projekte initiieren, mit dem die Potenziale - mehr Effizienz und Schnelligkeit auf der Schiene - gehoben werden könnten.

In einem gemeinsamen Papier haben Verkehrsminister Alexander Dobrindt und die Bahnindustrie aufgeschrieben, wie die Parole für die nächsten Jahre heißt: "Wir haben das Ziel, internationaler Technologieführer bei der künftigen Automatisierung zu sein." Kunden wurden auch gefragt - von der IT-Branche. Das Ergebnis einer repräsentativen Studie des IT-Verbands Bitkom dürfte aber auch die Bahn interessieren: Nur jeder zweite Deutsche hätte Lust, einen Zug ohne Fahrer nutzen.

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