Europas Airlines:Doppelter Blindflug

Unternehmen befürchten einen Nachfrageeinbruch und eingeschränkte Verkehrsrechte.

Von  Jens Flottau, Frankfurt

Carolin McCall wusste sofort, was zu tun ist. Die Chefin der britischen Fluggesellschaft Easyjet schickte, kurz nachdem das Ergebnis des Brexit-Referendums feststand, Briefe an die Europäische Kommission und die britische Regierung und drängte die beiden, sich möglichst schnell darauf zu einigen, unter welchen Regeln künftig britische Airlines in Europa fliegen dürften. Für Easyjet geht es um die Existenzgrundlage.

Kein Wunder, dass Unsicherheit und nahezu Panik bei den Anlegern herrschen: Am Wochenanfang stürzten die Aktien praktisch aller europäischer Fluggesellschaften ab. Die Papiere der Lufthansa verloren um knapp neun Prozent, doch das war vergleichsweise harmlos. Die Aktie von Easyjet hatte schon am Freitag um 14 Prozent nachgegeben, am Montag waren es weitere 23 Prozent. International Airlines Group (IAG), die Muttergesellschaft von British Airways, verlor am Freitag schon 23 Prozent und am Montag noch einmal 13 Prozent. Die Marktkapitalisierung von Ryanair und Norwegian (mit Firmensitzen in Dublin und Oslo) sank am Montag um 12 respektive 13 Prozent, beide fliegen zahlreiche Strecken von und nach London.

Und selbst die eigentlich weit entfernten US-Airlines Delta und American verloren 14 beziehungsweise 16 Prozent an Wert: Die Flüge nach London gehören zu den profitabelsten Strecken und dürften nun unter besonders großem Druck stehen. Delta hält zudem einen 49-Prozent-Anteil an der Londoner Fluggesellschaft Virgin Atlantic.

Europas Luftverkehrssektor ist durch den Brexit doppelt getroffen. Kurzfristig sorgt die Entscheidung wohl für einen Rückgang der Nachfrage zumindest im britischen Markt. Denn wenn die Prognosen wahr werden und die britische Wirtschaft in eine Rezession stürzt, ist der Luftverkehr direkt betroffen. Schlimmer noch, die Abwertung des britischen Pfund macht Reisen ins Ausland viel teurer, und das dürfte die Nachfrage speziell nach Flugreisen weiter dämpfen. Hinzu kommt aber, dass die Europäische Union und Großbritannien nun erst einmal neue Regeln in Sachen Marktzugang verhandeln müssen. Ein Scheitern solcher Verhandlungen hätte für viele Airlines negative Folgen.

Im Extremfall könnte England gezwungen sein, mit jedem einzelnen Staat neu zu verhandeln

Noch weiß keiner genau, wie sehr sich das Brexit-Votum wirklich auf den Luftverkehr auswirkt. Der Branchenverband International Air Transport Association (IATA) schätzt in einer ersten Analyse, dass die Nachfrage im Jahr 2020 im Flugverkehr nach Großbritannien drei bis fünf Prozent geringer sein könnte als ohne Brexit, das Land würde also pro Jahr rund ein Prozent an Wachstum verlieren. Die Bank Goldman Sachs geht sogar davon aus, dass der Luftverkehr in ganz Europa bis 2018 jährlich nur noch um drei Prozent statt wie bislang erwartet um durchschnittlich 4,5 Prozent wachsen wird.

Die Entwicklung des Luftverkehrs ist in der Regel an Veränderungen des Bruttoinlandsproduktes gebunden, und zwar erfahrungsgemäß mit einem Faktor von 1,5 bis zwei: Wächst die allgemeine Wirtschaft um zwei Prozent, kann der Luftverkehr in der Regel um drei bis vier Prozent zulegen. In Rezessionen schrumpft er ebenfalls schneller.

Sowohl Easyjet als auch IAG veröffentlichten nach der Brexit-Entscheidung Gewinnwarnungen, weil schon jetzt die Nachfrage hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Und das Pfund macht Ausgaben in US-Dollar wie Leasingraten und Treibstoff teurer. Prognosen sind unter anderem auch deswegen so schwierig, weil manche Faktoren in beide Richtungen wirken können: Würde das Pfund dauerhaft schwach bleiben, hätte dies negative Folgen für die Nachfrage in Großbritannien, doch Reisen dorthin würden für Ausländer deutlich billiger werden.

Zu den rein wirtschaftlichen Folgen kommt die Unsicherheit der Verkehrsrechte. Bislang dürfen alle britischen Airlines jede Strecke innerhalb Europas unbegrenzt fliegen, und zwar auch zwischen Drittstaaten. Easyjet etwa betreibt eine große Basis in Berlin und lässt dort jede Menge Maschinen Richtung Spanien oder Italien starten. Sobald Großbritannien die EU verlässt, erlöschen diese Rechte, es sei denn, die beiden Seiten einigen sich auf neue Regeln. So könnte Großbritannien wie Norwegen und die Schweiz Teil der European Common Aviation Area (ECAA) werden, zu der die EU-Mitglieder automatisch gehören. Dann würden Easyjet und die anderen Airlines ihre Rechte behalten, die britische Regierung hätte aber in der Luftverkehrspolitik kaum Mitsprachemöglichkeiten.

In einem anderen Szenario würde das Land mit der EU ein eigenes Luftverkehrsabkommen abschließen, das Fragen wie den Marktzugang regelt. Die Frage ist, ob England dabei ähnlich gute Bedingungen verhandeln könnte, wie sie heute existieren, denn die eigene Verhandlungsposition ist denkbar schwach, auch weil der möglichst unbegrenzte Zugang zum EU-Binnenmarkt für britische Airlines viel wichtiger ist als die England-Strecken für die europäischen Konkurrenten. Im Extremfall könnte England auch gezwungen sein, mit jedem einzelnen Staat neue Verträge zu verhandeln. Easyjet-Chef McCall hat also gute Gründe, die eigene Regierung auf die prekäre Lage hinzuweisen.

Für British Airways sind die Europa-Strecken nicht ganz so bedeutend, jedoch sind die eigenen Transatlantikrouten in einem Luftverkehrsabkommen zwischen der EU und den USA geregelt. Wenn England die EU verlässt und auch nicht Mitglied der ECAA bleibt, dann müsste ein neuer Vertrag mit den USA verhandelt werden.

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