Europäische Zentralbank:Mit kühlem Herzen

Die EZB ist größer und mächtiger, als es die Gründer planten. 2019 könnte Jens Weidmann ihr Chef werden. Wie geht es der Institution, die der Deutsche dann führen müsste?

Von Markus Zydra

Die schwierigste Epoche der EZB beginnt in den Abendstunden des 6. Mai 2010. Ein Bus transportiert die Führungsriege der Notenbank nach einer Ratssitzung in Lissabon in den Palacio da Bacalhoa. Der mächtige Palast aus dem 15. Jahrhundert liegt südlich der portugiesischen Hauptstadt. Es ist angenehm warm. Die Währungshüter, einige kommen mit Ehefrau, essen in einem Gewölbekeller zu Abend. Da vibrieren die Handys: Eilmeldung aus New York. Die Börsenkurse fallen. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet ist nervös. Hat die Notenbank den Crash mit ausgelöst, weil sie sich weigert, Staatsanleihen zu kaufen? Die Eurozone steht in diesen Tagen vor dem Kollaps, die Spekulanten wetten auf die Pleite Griechenlands.

Deshalb bittet Trichet die Kollegen nach dem Essen um 22 Uhr in einem anderen Saal zum Gespräch. Er möchte ausloten, was die EZB tun kann. Eine Notenbank, so meint Trichet, dürfe niemals Schwäche zeigen. So reift in dieser angespannten Stimmung der Plan, Staatsanleihen zu kaufen. Die Idee bleibt vertraulich, erst vier Tage später folgt der offizielle Beschluss.

Diese Entscheidung ist der Tabubruch für die junge Institution, gleichzeitig ebnet sie den Weg für die Rettung der Eurozone. Die EZB erfährt Lob im Ausland und harte Kritik hierzulande. Deutsche Juristen zerren die Notenbank später sogar vor Gericht. Die europäischen Währungshüter müssen sich damals in Deutschland, wo die Institution 1998 ihre Arbeit aufnahm, zum Teil wie Geächtete fühlen.

Da ist es eine Ironie des Schicksals, dass im nächsten Jahr erstmals ein Deutscher den Chefposten bei der EZB übernehmen könnte. Bundesbankpräsident Jens Weidmann gilt als aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge von Mario Draghi. Wie sind der Notenbank die harten Kämpfe um ihre umstrittene Rettungspolitik bekommen? Was würde Weidmann bei der Institution, die wie eine Festung wirkt, erwarten?

Die EZB erfährt Lob im Ausland, doch in Deutschland fühlen sich die Mitarbeiter wie Geächtete

Ein Ortsbesuch: Der Stararchitekt Wolf Prix hat für die EZB einen Koloss aus Glas gebaut. In den beiden 185 und 165 Meter hohen Doppeltürmen, Preis 1,2 Milliarden Euro, spiegelt sich die Umgebung. Manche Besucher im Frankfurter Osten, die nach strengen Kontrollen den Vorplatz der früheren Großmarkthalle erreichen, empfinden Ehrfurcht, wenn sie aufblicken. Anderen schwillt der Kamm. Bei der Eröffnung der neuen Zentrale im März 2015 randalierten Globalisierungsgegner. Brandwolken verdunkelten die Stadt. Die Ehrengäste der EZB mussten den Hintereingang nehmen, die Straßen waren mit brennenden Autoreifen verbarrikadiert. EZB-Präsident Draghi sagte einmal, das Gebäude sei ein "Statement". Aber wofür? Für Demut wohl nicht. Für Macht, auf jeden Fall.

Im 41. Stock treffen sich die Notenbankchefs im großen Saal zu ihren Sitzungen. Im Vorraum mit den Stehtischen sieht man eine Büste von Wim Duisenberg. Sie ist eine Reminiszenz an vergangene Zeiten. Die EZB als geschlossene Gesellschaft, von der die europäischen Bürger nur selten Notiz nehmen. Der Niederländer leitet am 2. Juni 1998 als erster EZB-Präsident die Premierensitzung des Rats. Damals steht die Verteilung der Zuständigkeiten der Direktoren auf dem Programm. Welch undramatische Ouvertüre zum Euro. Die Ära Duisenberg wirkt rückblickend wie eine heile Welt. Der Niederländer schafft es, den Euro als globale Reservewährung zu etablieren. Ein großer Erfolg.

Europäische Zentralbank in Frankfurt

Erbaut von einem Stararchitekten, für 1,2 Milliarden Euro: Der Neubau der EZB sei ein Statement, sagte EZB Präsident Mario Draghi einmal. Für Demut? Vermutlich nicht. Für Macht, auf jeden Fall.

(Foto: dpa)

Sein Nachfolger, der Franzose Trichet, erlebt 2008 den Ausbruch der Finanzkrise und macht zwei Jahre später, an jenem Abend auf dem Weingut Bacalhoa, den Weg frei für eine neue, epochale Geldpolitik. Mario Draghi, der das Spitzenamt 2011 übernimmt, wirft rigoros die Notenpresse an, und die Menschen merken, dass der Italiener ihr Leben verändert: Die Nullzinspolitik raubt Sparern die Erträge. Gleichzeitig profitieren Aktionäre und Immobilienbesitzer von steigenden Preisen. Die Geldpolitik der EZB, so lautet ein Vorwurf ihrer Kritiker, mache die Reichen reicher.

Die Notenbank steht seither sehr zu ihrem Leidwesen im Rampenlicht. Die Geldpolitiker empfinden sich als Technokraten, keinesfalls als Popstars, und sie erzählen sich Witze wie diesen: "Ein Zentralbanker braucht ein neues Herz und wählt aus der Spenderliste das Herz eines verblichenen Kollegen. Warum? Weil es unbenutzt ist." Conclusio: Notenbanker reagieren auf Daten, nicht auf Gefühle. Sie arbeiten im Maschinenraum der globalen Finanzwirtschaft, in dem ein Rädchen ins nächste greift, nach festen Regeln.

Ein Abendessen im Haupthaus der 500 Jahre alten Klosteranlage Penha Longa. Dort, in der von Burgen und Schlössern geprägten Hügellandschaft im portugiesischen Sintra, treffen sich auf Einladung des EZB-Präsidenten jedes Jahr im Frühsommer prominente Notenbanker und Wissenschaftler. Die Tische für das festliche Abendessen an diesem Junitag 2017 sind weiß gedeckt. Damit sich die Gäste auf der Suche nach ihren Plätzen orientieren können, trägt jeder Tisch einen Namen. Dort, wo Draghi mit neun ausgewählten Gästen sitzt, thront in der Mitte des Tischs ein kleines Kärtchen mit der Namensaufschrift "Albert Einstein".

Nun sollte man daraus nicht zu viel ableiten, aber auch nicht zu wenig. In Sintra, wo regelmäßig auch prominente Gäste wie der frühere amerikanische Finanzminister Lawrence Summers und der ehemalige US-Zentralbankchef Ben Bernanke auftauchen, sind sich die meisten Gäste ihrer Genialität sicher. Sie lehren an den großen amerikanischen Universitäten und sind gleichermaßen ehrgeizig wie gut erzogen. Ihre Diskussionen sind auch dieses Mal hochakademisch, als Laie kann man nicht immer folgen. Hochserös, keine Frage. Aber es menschelt auch zwischendurch. Beim Aperitif mit Sangria und Bier im Klosterhof von Penha Longa wird im feinen Zwirn gelacht und getratscht. "Eine skurrile Truppe" sei das, meint ein ehemaliger Minister. Notenbanker wirken auf ihn verschworen wie eine schlagende Verbindung. "Ich glaube, sie rümpfen über uns Politiker die Nase, wenn sie allein sind." Kann gut sein.

Die Mitarbeiter wären gern unauffällige Technokraten, sind aber im Fadenkreuz der Politik

Die EZB und die Politik. Vor allen aus Deutschland muss sich Draghi immer wieder anhören, er zerstöre die gemeinsame Währung. Der CSU-Politiker Alexander Dobrindt beleidigt den Italiener als "Falschmünzer". Auch Bundesbankpräsident Jens Wiedmann steigt gegen Draghi in den Ring und rügt Rettungsmaßnahmen, wenn auch im Ton sehr viel moderater. Es gibt einige Mitarbeiter in der EZB, die Weidmann das bis heute übel nehmen. Die Leute in den Frankfurter Doppeltürmen fühlen sich in Deutschland unverstanden. Manchmal lassen die Führungskräfte ihrem Frust freien Lauf. "Ich höre in Deutschland immer, das Geld werde durch die EZB-Politik wertlos", schimpft der Chefvolkswirt der Notenbank, Peter Praet, bei einer Veranstaltung in Frankfurt vor zwei Jahren. Dann hält er zum Publikum hin die Hände auf. "Ach so, wertlos. Dann gebt mir doch euer Geld, wenn es wertlos ist." Die Kritik aus der Bundesrepublik, so poltert der in Deutschland geborene Belgier, sei mitunter kaum zu ertragen. Dann führt er seine Hand an die Kehle und deutet einen Schnitt an. Praet wirkt danach ein wenig erschrocken über seinen Wutausbruch.

Zwischenfall bei EZB-PK in Frankfurt am Main

Auf den Tisch: Eine Frau protestiert 2015 bei einer Pressekonferenz von Mario Draghi gegen die Politik der EZB.

(Foto: dpa)

Johannes Priesemann, 59, ist manchmal auch richtig wütend, und zwar über die Einstellungs- und Beförderungsregeln der EZB. Der Gewerkschafter arbeitet seit ihrer Gründung bei der Bank. Er mag sie, und doch kann er die Art, wie sie mit ihren Mitarbeitern und deren Vertretern umgeht, nicht akzeptieren. Die Ergebnisse der jüngsten Mitarbeiterumfrage bestärken ihn in seiner Kritik an der Vetternwirtschaft, die in den letzten zehn Jahren enorm zugenommen haben soll. 67 Prozent der befragten Teilnehmer sagen, entscheidend für eine Beförderung in der EZB sei es, die richtigen Leute zu kennen. Auch der Umgang mit Fehlern sei verbesserungswürdig, meinen 45 Prozent der Befragten. "Viel zu viele in der Belegschaft trauen sich nicht, Dinge, die falsch laufen, bei ihren Vorgesetzten direkt anzusprechen. Das gefährdet die Qualität der Arbeit", sagt Priesemann.

Der Jurist mit dem grauen Haar ist keiner, der schnell Alarm schlägt, sondern jemand, der zusammen mit dem Personalrat immer den Dialog mit der EZB-Führung gesucht hat. "Es gibt Leute, die arbeiten viel und gern bei der EZB, die machen auch Karriere und sind auch zufrieden", sagt Priesemann. Doch häufig handele es sich da um Mitglieder sogenannter "in-groups". Zu oft erlaubten es Regeln und auch unbewusste Präferenzen, dass Vorgesetzte ihnen genehme Zuarbeiter oder gar schwache Kandidaten rekrutierten. Man befördere oft nur seinesgleichen, viele andere in der EZB blieben außen vor. Die Vielfalt der Meinungen werde dadurch unterdrückt.

Aber auch das ist wahr: "Die Mitarbeiterumfrage zeigt, dass 90 Prozent der Befragten stolz darauf sind, für die EZB zu arbeiten. Mehr als drei Viertel sagen, dass die Arbeitsbedingungen ihnen genügend Flexibilität geben, um auch persönlichen und familiären Bedürfnissen nachzukommen", sagt eine Sprecherin der EZB. "Natürlich hat die Umfrage auch Stellen aufgezeigt, an denen wir arbeiten müssen. Diese Themen schauen wir uns nun genau an."

Die Bekämpfung der Euro-Schuldenkrise hat einen Keil zwischen die 19 Euro-Staaten getrieben. Davon blieb auch die multinationale EZB nicht verschont. Es gebe vereinzelt nationale Seilschaften, deren Mitglieder sich fördern, berichten Mitarbeiter, die anonym bleiben wollen. Der Vorwurf lässt sich schwer belegen, es geht da häufig auch um verletzte Gefühle Einzelner. Doch er liegt in der Luft, weil es schwierig ist, bei der Institution Karriere zu machen. Ein Grund ist, dass kaum jemand die EZB verlässt. Leute sitzen lange auf ihren Posten, es fehlt die Durchlässigkeit.

Natürlich gibt es viele EZB-Mitarbeiter, die sehr zufrieden sind mit ihrem Arbeitsplatz und auch gute Gründe dafür haben. Nach Einschätzung von Priesemann gibt es aber zu viele, die innerlich gekündigt hätten. Die Anschuldigungen von Vetternwirtschaft gibt es seit Jahren. Man weiß, dass der Vorwurf schnell gemacht aber schwer beweisbar ist. Allerdings haben die Gewerkschaft und der Betriebsrat in einigen Fällen Fehler bei Besetzungen geltend gemacht. Diese Stellen mussten dann neu ausgeschrieben werden.

Euro-Skulptur wird saniert

Sanierung der Euro-Skulptur vor der ehemaligen Zentrale der Europäischen Zentralbank.

(Foto: dpa)

Es mag überraschen, dass solche Dinge passieren, aber sie geschehen auch in Firmen und anderen öffentlichen Institutionen. Doch was macht eine solche Erfahrung mit den Betroffenen?

"Menschen, die bei internationalen Organisationen arbeiten, suchen einen sicheren Arbeitsplatz. Irgendwann merken sie, dass der Preis der Stabilität immer eine gewisse Unbeweglichkeit der Institution ist", sagt Eberhard Hauser, Geschäftsführer von Hauser Consulting, der sich seit Jahrzehnten mit Personalentwicklung beschäftigt. In diesen Organisationen gebe es Beständigkeitsexperten, die es als ihre Aufgabe ansähen, dort für Stabilität zu sorgen, so dass Konflikte nicht ausgetragen würden. Irgendwann, so Hauser, trete der Mitarbeiter schließlich in die innere Verhandlung. "Wäre man schlecht bezahlt, dann würde man gehen. Bei der EZB ist man gut bezahlt. Deshalb bleibt man, und es folgen Resignation, Aggressivität und Passivität."

Die EZB ist enorm gewachsen. Bei ihrer Gründung 1998 arbeiteten dort 344 Personen, mittlerweile sind es 3048. "Früher, zum Start, kannte jeder jeden, wir haben an einem Strang gezogen", berichtet eine Mitarbeiterin, die damals dabei war. Sie möchte anonym bleiben. "Das hat man zum Beispiel bei den Weihnachtsfeiern gemerkt. Da haben sich die Kollegen in ihrer Freizeit getroffen, um Parodien und Sketche vorzubereiten", erinnert sie sich. Nun sei das "Start-up zu einer großen EU-Institution" geworden. Ein anderer Mitarbeiter beklagt, dass die EZB nicht zuletzt durch die Übernahme der Bankenaufsicht in Europa zu viel Macht habe. "Früher waren wir klein mit einem klaren Ziel, das war mir lieber. Die EZB hat ein Gewicht erhalten, das ihr nicht guttut."

Nun muss die Notenbank mit ihrer historischen Leistung klarkommen: als Retterin der Währungsunion. Die Gründer haben ihr 1998 diese Rolle nicht zugeteilt. Europas Notenbank sollte die Wirtschaft mit dem Leitzins steuern - und nicht, indem sie Geld druckt. Das 2,6 Billionen Euro teure Anleihekaufprogramm läuft noch bis mindestens September. An den Börsen und Immobilienmärkten drohen Preisblasen durch das billige Geld. Doch sobald die Notenbank den Leitzins erhöht, könnte Italien in Finanzierungsnöte kommen und die Stabilität der Eurozone gefährden.

"Die unkonventionelle Geldpolitik ist ein wichtiges Werkzeug", sagt einer der Notenbanker

Der Maiabend 2010 im Weinkeller des Palacio de Bacalhoa hat die Leitplanken der EZB verschoben. Jürgen Stark, in jener Zeit der mächtige Chefvolkswirt der Notenbank, resümiert: "Die Ereignisse an diesem Abend waren der Sündenfall. Die Notenbank ließ sich von der Politik verleiten, einen Weg einzuschlagen, der nicht mehr viel mit Geldpolitik zu tun hat. Es ging nur noch um die Rettung einzelner Euro-Staaten." Der finnische Notenbankchef Erkki Liikanen war damals auch in Portugal dabei. Er zieht eine andere Schlussfolgerung: "Die unkonventionelle Geldpolitik ist ein wichtiges Werkzeug."

Die EZB hat in großer Not wichtige Entscheidungen getroffen. Man möge sich ausmalen, wie es um die Eurozone stünde, wenn Draghi 2012 in London die "What-ever it takes-Rede" nicht gehalten hätte. Nun bringt ihre lockere Geldpolitik Europa endlich wieder Wirtschaftswachstum.

Doch gleichzeitig ist Europas vielleicht machtvollste Institution gerade ob ihrer Rettungspolitik zwischen die Fronten geraten. Ihre Mitarbeiter wären gern unauffällige Technokraten, doch sie stehen im Fadenkreuz der Öffentlichkeit. Viele Deutsche misstrauen den Währungshütern. Könnte Jens Weidmann als neuer Präsident die Gegner und Unzufriedenen in Deutschland mit der EZB versöhnen? Vielleicht. In jedem Fall stünde ihm eine riesige Aufgabe bevor - ein, wenn man so will, Himmelfahrtskommando. Ein Notenbanker formuliert es so: "Die Rettung der Eurozone war wie die Landung auf dem Mond. Nun müssen wir auch zurückkommen."

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