Europäische Union:Familien­angelegenheiten

EU leaders take part in a group photo on the launching of PESCO

Zusammenrücken in Zeiten der Krise: Eigentlich war das Gruppenfoto abgeschafft worden. Mit dem gemeinsamen Posieren bekräftigten die Staats- und Regierungschefs im Dezember 2017 ihren Zusammenhalt.

(Foto: Yves Herman/Reuters)

Euro- und Flüchtlingskrise haben die EU tief gespalten. Wie schafft es die Gemeinschaft, die Ängste der Bürger ernst zu nehmen, ohne ihre Werte zu verraten?

Von Alexander Mühlauer, Brüssel

Das Familienfoto ist ein wenig aus der Mode gekommen. Doch beim letzten EU-Gipfel standen sie plötzlich alle wieder da und ließen sich ablichten: die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union vor der üblichen blauen Wand mit den Sternen. Nun haben solche Gruppenbilder nicht nur eine unfreiwillige Komik, sie kosten auch Zeit. Anstatt herumzustehen und gute Miene zum oft hässlichen Spiel zu machen, könnten die Heads, wie man sie in Brüssel nennt, die wirklich wichtigen Fragen besprechen. Kein Wunder, dass sie das Familienfoto eigentlich abgeschafft haben - zumindest bei allen Gipfeltreffen in Brüssel.

Macron ist das "role model" einer neuen Ereignis-Politik. Wer traut sich noch und handelt?

Es musste also etwas passiert sein an diesem Dezembertag, dass die Chefs der EU das Gefühl hatten, diesen Moment im Bild festhalten zu müssen. Als ein Dokument und klares Statement an die Welt da draußen: Wir sind eine Familie.

Das gab es in den vergangenen Jahren nicht oft. Nach Euro-Krise und Flüchtlingskrise ist Europa so tief gespalten wie lange nicht. An diesem Tag aber hatte die Gemeinschaft etwas wiedergefunden, was sie seit ihrer Gründung auszeichnet: den Mut aufzubrechen und Neues zu wagen. Die Staats- und Regierungschefs feierten ihre verstärkte Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik, der sie wie gewohnt ein umständliches Kürzel gaben: Pesco. Eine europäische Armee ist das noch lange nicht und natürlich auch kein Ersatz für die Nato. Das soll es auch nicht sein; es ist vielmehr ein Zeichen, dass Europa in einer Welt, in der sich die EU nicht mehr auf die Bündnispartner des guten alten Westens verlassen kann, handlungsfähig ist.

Die Europäische Union muss, wenn sie ihr Versprechen von Frieden und Wohlstand auch in Zukunft einlösen will, beweisen, dass sie genau das noch kann. Sie muss sich von der als technokratisch empfundenen Politik der Brüsseler Bürokratie lösen und all jene Ängste ansprechen, die die Bürger wirklich umtreiben - und die gerade auch der Brexit-Schock offenbart hat. "Ist das durch die Brüsseler Regeln eingeschnürte Europa in der Lage, auf überraschende Wendungen des Schicksals zu reagieren?", fragt der Historiker und Philosoph Luuk van Middelaar in seinem Buch "De nieuwe politiek van Europa". Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Aber der Niederländer, der als Berater des früheren EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy mit den Eigenheiten der Brüsseler Blase bestens vertraut ist, bietet zumindest einen Erklärungsversuch, der den fundamentalen Wandel europäischer Politik beschreibt.

Die Idee der Gründerstaaten, Europa nach zwei Weltkriegen in einem System von Regeln zu verankern, war grandios und visionär. Schließlich ging es darum, die Beziehung zwischen den Staaten zu zivilisieren und irgendwie in den Griff zu bekommen. Doch was soll man tun, wenn ein Mitgliedsstaat pleitegeht? Was, wenn Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa drängen? Dann stößt die alte Strategie der Regel-Politik an ihre Grenzen. "Kein Projekt, kein Vertrag kann die Kreativität der Geschichte antizipieren, geschweige denn eine adäquate Antwort bereithalten", schreibt Middelaar.

Der Niederländer beobachtet insbesondere seit der Finanzkrise ein Umdenken der Staats- und Regierungschefs von einer Regel-Politik, die für den Aufbau eines gemeinsamen Marktes nötig war, hin zu einer Ereignis-Politik. Es geht, wie man in der Brüsseler Enklave sagt, um: taking action. Also handeln, machen, tun. Wenn die Chefs in Brüssel zusammenkommen, dann retten sie eine Währung, sie schließen Außengrenzen oder Flüchtlingsabkommen. Anders als in der Nachkriegszeit geht es nicht mehr vorrangig um Fragen der Regulierung; es geht darum, möglichst als Kollektiv den Herausforderungen dieser Welt zu begegnen.

Emmanuel Macron hat das verstanden. Der französische Präsident ist so etwas wie das Vorbild dieser Ereignis-Politik. Wenn Macron nach Brüssel kommt, will er beweisen, dass die EU handelt; dass so ein Gipfeltreffen eben keine abgehobene Veranstaltung ist, die sich mit den Sorgen der Bürger, wenn überhaupt, nur am Rande beschäftigt. Anders als so manche seiner Kollegen erklärt Macron am Ende eines jeden Gipfels, was die Staats- und Regierungschefs konkret für die Bürger dieser Gemeinschaft erreicht haben - und noch erreichen wollen. Das mag ein utilitaristischer Ansatz sein, aber er scheint zu wirken. In seiner Rede an der Sorbonne skizzierte Macron seine Vision von Europa. Vieles davon ist schlicht unrealistisch, aber hey: Immerhin gibt es noch einen Politiker, der sich hinstellt und ein Bild von Europa entwirft, das mehr ist als nur ein Kontinent, in dem wir gut und gerne leben.

Macron hat seine Vision auf eine einfache Formel gebracht: une Europe qui protège - ein Europa, das beschützt.

Er greift damit gezielt ein Gefühl auf, das viele Bürger haben. Es ist der Eindruck, dass sich die EU vor allem um die Freiheit und die Öffnung von Märkten kümmert und eben nicht um den Schutz der Bürger. Dabei gibt es ein wachsendes Bedürfnis nach Sicherheit in einer globalisierten Welt; dazu zählt die Angst vor Terroranschlägen ebenso wie die Angst, den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren, weil die Digitalisierung ihn bedroht. Es geht um das Gefühl des Ausgeliefertseins in einer Welt, die scheinbar unberechenbarer wird.

Es ist nicht leicht, politische Antworten darauf zu finden; es ist nicht leicht, diesen Ängsten gerecht werden. Zumal es innerhalb Europas gärt. Die Euro-Krise hat die Gemeinschaft in Nord und Süd gespalten; die Flüchtlingskrise offenbart einen tiefen Graben zwischen Ost und West. Bei beiden Themen geht es um das, was die EU im Innersten zusammenhält. Einerseits sind das ganz banale Interessen; es geht aber auch um den Wert von Solidarität und die Frage: Wie wollen wir leben?

In diesem Jahr wird sich entscheiden, ob es der Union gelingt, das zu finden, was sie seit jeher ausmacht: den Willen, einen Kompromiss zu finden. Dazu braucht es Mut. Die Voraussetzungen dafür sind günstig. Nach der Finanzkrise hat sich die Wirtschaft in der EU erholt, und politisch tut sich bis zu den Europawahlen 2019 ein selten ruhiges Zeitfenster auf, das die Staats- und Regierungschefs nutzen wollen. Mit Macron haben sie einen Heißsporn in ihrer Mitte, dessen Visionen in Realpolitik umgesetzt werden müssen. Es ist ein weites Feld. Vom Euro über gerechte Steuern für Internetkonzerne bis hin zu einer neuen Afrika-Politik.

Letztens war der bulgarische Politologe Ivan Krastev in Brüssel. Sein Heimatland hat nun den EU-Ratsvorsitz inne. Was seine Landsleute umtreibe, wollte einer wissen. Krastev lächelte und sagte: "Ach, immer dieselbe Frage: Kümmern die sich in Brüssel überhaupt um uns?" Vielleicht sollten die Staats- und Regierungschefs zum Familienfoto wieder öfters wo anders hinfahren. Nach Sofia, Dublin oder Warschau.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: