Europa:Obergrenze gegen Stimmrecht

Nicht nur Europa, auch der Euro ist in der Existenzkrise. Ifo-Präsident Fuest fordert, den Briten bei der Freizügigkeit entgegenzukommen.

Von Cerstin Gammelin

Im Streit mit Großbritannien über die künftige Integration des Landes in den europäischen Binnenmarkt darf die Personenfreizügigkeit kein Tabu sein. Das fordert Clemens Fuest, Präsident des konservativen Münchner Ifo-Instituts, im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. "Wir sollten die Briten im Binnenmarkt lassen und ihnen das Recht einräumen, die Migration zu beschränken", sagte Fuest. Damit spricht sich zum ersten Mal ein führender Ökonom in Deutschland für die Begrenzung der innereuropäischen Zuwanderung aus, um die wirtschaftliche Stärke des Binnenmarktes zu erhalten. Er ist bisher mit 500 Millionen Einwohnern rein rechnerisch der größte Markt weltweit. Verabschiedet sich London aus dem Binnenmarkt, würde er deutlich an Einfluss verlieren.

Die Obergrenze soll nicht für umsonst zu haben sein. Als Gegenleistung dürften die Briten "Entscheidungen der EU nicht mehr mitbestimmen. Das ist der Preis, den sie zahlen", sagte Fuest. "Sie müssen alle Regulierungen übernehmen, bekommen aber dafür die Obergrenze für Migration."

Fuest plädierte in den künftigen Verhandlungen der 27 EU-Mitgliedstaaten mit London dafür, kühl die gesamteuropäischen Interessen durchzusetzen. "Meine Sorge ist, dass die Europäer sich über den britischen Austritt aus der Europäischen Union tief zerstreiten werden", sagte er. Es dürfe kein Abkommen zwischen der EU 27 und London geben, das die wirtschaftliche Integration im Binnenmarkt reduziere. Es sei besser, Obergrenzen für Migration einzuführen als etwa den britischen Finanzsektor vom gemeinsamen Markt abzuschneiden. "Wir haben in Europa die Wahl zwischen einem globalen Finanzplatz und keinem. Die Europäer entscheiden sich gerade dafür, keinen mehr zu haben. Es wird nur noch New York geben und Hongkong und einige Provinzfinanzplätze in Europa, neben einem beschädigten London Plätze wie Frankfurt und Paris."

Auch alle anderen EU-Staaten sollen nach Ansicht des Wirtschaftsprofessors das Recht erhalten, die Freizügigkeit zu beschränken. Allerdings nur zum Preis des Austritts aus der Europäischen Union. Die betreffenden Staaten blieben dann wie Großbritannien im Binnenmarkt, würden aber ihre Stimmrechte verlieren. Zwar rechnet Fuest nicht mit Nachahmern. Aber "wenn sehr viele Staaten diesen Weg gehen wollen, wäre zu überlegen, die Personenfreizügigkeit in der EU anders zu gestalten". Freizügigkeit könnte an die Voraussetzung geknüpft werden, "dass man seinen eigenen Lebensunterhalt bestreiten kann. Es könnte der Zugang zu Sozialleistungen im Zielland eingeschränkt werden."

Europa: Flüchtlinge in Calais: Migration ist eines der wichtigsten Themen bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen.

Flüchtlinge in Calais: Migration ist eines der wichtigsten Themen bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen.

(Foto: Philippe Huguen/AFP)

Ebenso wie EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sieht Fuest Europa in einer existenziellen Krise. Juncker hatte vergangene Woche vor dem Europäischen Parlament in Straßburg in einer Grundsatzrede viele ungelöste Probleme in Europa eingeräumt. Es stelle sich insgesamt eine existenzielle Frage über die Zukunft der Union. "Wird Europa aus der internationalen Szene verschwinden?"

Die größte Gefahr für die Euro-Zone gehe von Italien aus, glaubt Ifo-Chef Fuest

Die Krise in Europa wird Fuest zufolge von den Schwierigkeiten der Euro-Zone überlagert. "Der Euro ist schon länger in einer Existenzkrise." Er habe als Fehlkonstruktion begonnen, "mit der falschen Zusammensetzung und schlechten Regeln". Dass er während der Finanzturbulenzen 2009 akut in die Krise geraten sei, "war keine Überraschung". Fuest macht vor allem die politisch gewollte Aufnahme von Ländern wie Portugal, Italien und Griechenland in die Währungsmeinschaft für die Schwierigkeiten verantwortlich. "Wir sehen heute, dass die Aufnahme sowohl ökonomisch als auch politisch gewaltigen Schaden angerichtet hat." Man habe erst Kriterien aufgeschrieben und dann gleich wieder über Bord geworfen. Plötzlich sollte es ausreichen, sich auf die Kriterien zuzubewegen. "Das ist grotesk."

Die größte Gefahr für die Stabilität der Währungsgemeinschaft geht Fuest zufolge nicht von dem hoch verschuldeten Griechenland aus, sondern wegen der rein volkswirtschaftlichen Größe von Italien.

Es liegt im Interesse der gesamten Euro-Zone, Italien politisch stabil zu halten. Gleichzeitig muss die Regierung aber Reformen vorantreiben, um die Volkswirtschaft auch bei höheren Zinsen zum Wachsen zu bringen. Das ist umso schwieriger, weil gleichzeitig die Stabilitätsregeln eingehalten werden sollen. "Wir haben das Dilemma, dass ein Land wie Italien ein sehr hohes Erpressungspotenzial hat. Wenn Rom sich weigert, den weiteren Anstieg seiner Verschuldung zu begrenzen, steht der Rest Europas vor der Wahl, das entweder zu finanzieren oder eine große Wirtschafts- und Finanzkrise zu riskieren."

Clemens Fuest auf dem SZ Finanztag in Frankfurt, 2016

Clemens Fuest, 48, leitet seit April 2016 das Ifo Institut für Wirtschaftsforschung in München. Der Wirtschaftsprofessor hat in Mannheim studiert und sich in München habilitiert. Anschließend war er Forschungsdirektor in Oxford

(Foto: Stephan Rumpf)

Griechenland zeige nur das "fundamentale Dilemma der Rettungspolitik". Man sage, man könne ein Land nicht in die Pleite rutschen lassen, weil das eine Finanzkrise auslösen würde, die der Euro-Zone insgesamt sehr schade. Gleichzeitig drohe man, die Rettungspolitik zu beenden, wenn die Krisenländer sich nicht an die Auflagen halten. "Genau diese Drohung ist aber unglaubwürdig. Wenn wir die Rettungspolitik einfach abstellen könnten, hätten wir von Anfang an darauf verzichten können." Fuest warnt die Euro-Staaten davor, noch mehr Risiken zu vergemeinschaften. Die Europäische Zentralbank halte die Euro-Zone am Leben. "Sie signalisiert, dass sie immer mehr Anleihen kauft." Das sei zwar "noch keine allumfassende Solidarhaftung". Aber die Vergemeinschaftung der Risiken wachse stetig.

Fuest fordert eine umfassende Reform der Euro-Zone. Wenn keine Bereitschaft bestehe, einen europäischen Bundesstaat zu gründen, um dem Euro einen politischen Überbau zu geben, "liegt die einzige Chance, den Euro zu halten, in einer dezentral organisierten Euro-Zone". Dazu gehöre "eine starke Bankenunion mit einem soliden Finanzsektor, in dem die Banken deutlich mehr haftendes Kapital haben als heute. Außerdem müssen die Banken weniger Staatsanleihen halten. Erst wenn das erreicht ist, wird es möglich sein, die Gläubigerhaftung bei staatlichen Finanzkrisen umzusetzen."

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