Europa:Das große Bangen

Rund eine Million Polen leben und arbeiten in Großbritannien. Mit dem Brexit-Referendum wurde auch über ihr Schicksal entschieden. Nun schwanken sie zwischen Verunsicherung und Trotz.

Von Lea Hampel

Unabhängiges polnisches Gebiet also. "Mein Territorium", fasst Andrzej Makulski es zusammen. Er meint das lustig. Aber die wenigen Linien um die Augen des 70-Jährigen werden nur kurz zu Lachfalten. Dann schaut er ernst, zeigt mit der Hand mit Siegelring - bis zum polnischen König reichen seine Ahnen angeblich - vom hinteren Ende des Raumes bis zur Überwachungskamera neben der Tür und sagt: "Hier kommt nicht mal die Polizei rein, wenn ich es nicht will." Der Chef des Posklub sagt das routiniert, den Spruch hat er schon oft gebracht. Lustig war er nur früher. Seit dem 24. Juni ist Sicherheit für Polen in Großbritannien kein Thema mehr für Witze. Viele der 52 Prozent der Briten, die sich für einen Austritt aus der EU entschieden haben, hoffen, dass weniger Menschen wie Makulski nach England kommen. In Menschen wie ihm und den Männern und Frauen, die heute Abend hier Fußball schauen, sehen so manche Brexit-Fans die Schuldigen für den Niedergang der Weltmacht, für ökonomische Ungerechtigkeiten, für individuelle Probleme. Polen und andere Migranten sind für sie nicht einfach Mitbürger, sondern Sündenböcke der Moderne. Auch deshalb geht es an diesem Abend vor dem Spiel, in der Halbzeitpause und nach Abpfiff wenig um Fußball. Und viel um den Brek-"shit", wie ihn einer der Männer nennt. Immer wieder hört Klubchef Malkuski dieselben Fragen. "Wie geht es weiter?" "Müssen wir alle gehen?" "Wohin sollen wir?"

Rund eine Million Polen leben in Großbritannien. Polnisch ist die zweithäufigste Sprache nach Englisch. Und während viele anfangs nur zum Arbeiten herkamen, sind die meisten Teil der Gesellschaft geworden. Ob und wie lange sie das bleiben, ist durch das Referendum infrage gestellt. Ganz gleich, in welcher Form Großbritannien aus der EU aussteigt - für die polnische Bevölkerung ist all das bedroht, was sie bisher als ihre Zukunft sahen.

Der funktionale Koloss an der King Street nahe der U-Bahnhaltestelle Hammersmith wirkt, als wäre er für die Ewigkeit gebaut - harte Kanten aus grauem Beton außen, Holzvertäfelung innen. Die Wände erzählen von Jahrzehnten polnisch-britischer Geschichte. Seit 49 Jahren gibt es das Kultur- und Sozialzentrum, es beherbergt die größte polnische Bibliothek außerhalb Polens, ein Theater, ein Restaurant und, ganz oben, den Posklub, das Territorium von Andrzej Makulski. Der kam vor 42 Jahren für ein Praktikum her. Sein Auto ging kaputt, er blieb länger, lernte eine Britin mit polnischen Wurzeln kennen, studierte, bekam Kinder, baute ein Leben auf. Seit 20 Jahren leitet er den Klub - einen Raum mit dunkelrotem Teppich und Vorhängen in der gleichen Farbe, polnischen Fußballschals an der Wand und vielen Veranstaltungen pro Woche, 15 Pence kostet die Jahresmitgliedschaft, symbolisch. Bisher hat sich Makulski vor allem um einsame Ältere gekümmert. Dass er eines Tages Seelenklempner sein würde, damit hat er nicht gerechnet. "Die Brexit-Entscheidung war ein Schock", sagt er. Tagein, tagaus beruhigt er derzeit Landsmänner und -frauen.

Und von denen gibt es viele: Junge, Alte, Arbeiter, Akademiker. Die polnische Einwanderung in England hat eine lange Geschichte, die viel mit Politik, vor allem aber der Wirtschaft des Landes zu tun hat. Im Zweiten Weltkrieg waren teils jüdische Flüchtlinge, vor allem aber Oppositionelle gekommen, die mit den britischen Streitkräften kämpften. Danach galt die Einwanderungspolitik als relativ lax, erst 1973 griff, zeitgleich mit dem EU-Beitritt Großbritanniens, eine klarere, striktere Regelung. Fortan gab es zwar Freizügigkeit für andere Europäer, doch massiv stieg die Zahl der Zuwanderer erst mit der EU-Osterweiterung 2004. Großbritannien legte damals, im Gegensatz zu anderen EU-Ländern, keine Beschränkungen für die ersten Jahre fest. Und während 2001 noch 58 000 Polen hier lebten, waren es 2011 knapp 580 000. Vor allem in den vergangenen Jahren wurden jährlich Rekorde verkündet, die die Antieinwanderungsstimmung anheizten. Der damalige Premier David Cameron versprach, die Zahl unter 100 000 pro Jahr zu senken, und riskierte Dauerstreit mit EU-Kollegen. Die britische Wirtschaft dagegen betonte, auf die Ankommenden angewiesen zu sein: Viele von ihnen waren bereit, einen hohen Preis zu zahlen für die Hoffnung auf ein besseres Leben. Bis heute werden viele harte, unbeliebte Jobs in der Pflege, der Fleisch verarbeitenden Industrie, in einfachen Handwerksberufen von ihnen erledigt.

Wie sehr diese Menschen längst Teil des britischen Alltags sind, ist überall zu sehen. Zum Beispiel in der Londoner Uxbridge Road, nahe Shepherd's Bush im Westen. 1996 hat hier ein Supermarkt eröffnet, Mleczko. Der kleine Laden existiert noch heute, darin Importware - vom Babybrei über Würste bis zu Piroggen. Mittlerweile ist Mleczko Delikatesy ein Imperium mit elf Läden, einer eigenen Bäckerei und Verkäufern, die Polnisch und Englisch sprechen. Gründer Wladyslaw Mleczko hat längst an seine Söhne übergeben. Wie sie gehören polnische Lehrer, Putzfrauen und Busfahrer zum Königreich. Und selbst der polnische Klempner, einst hässliches Synonym für billige Konkurrenz, ist Qualitätssiegel geworden: Es gibt ein Unternehmen, das sich so nennt, und wer in London sicher sein möchte, dass sein Klo wieder funktioniert, ruft im Zweifelsfall einen Polen an.

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Wer in London einen Klempner braucht, holt oft einen Polen

Und doch: Nicht alle, die voller Hoffnung herkamen, haben es geschafft. "Es gibt viele, die zwar her-, aber nicht angekommen sind", sagt Barbara Drozdowicz, selbst Polin, die im East European Advice Center Migranten berät. 25 Prozent der osteuropäischen Migranten, schätzt sie, haben Probleme, ihr Leben selbst zu finanzieren. Sie sind es, die Diskriminierung besonders häufig trifft, vor allem auf dem Land. Drozdowicz kann unzählige Geschichten erzählen, von Menschen, die im Supermarkt nicht bedient wurden, die gehört haben "Geh dahin zurück, wo du her- kommst", von Fabrikmitarbeitern, denen verboten wurde, in der Mittagspause Polnisch zu sprechen.

"Die Dinge, die zur Leave-Entscheidung geführt haben, waren keine neuen Phänomene", sagt auch Paweł Wargan, "das war das Resultat eines Prozesses, der seit vielen Jahrzehnten läuft." Der 26-Jährige ist 2008 nach Großbritannien gekommen, er hat in Oxford studiert und arbeitet jetzt in London als Anwalt. Das Referendum, glaubt er, sei keine Abstimmung über die EU gewesen, sondern über die Globalisierung. "Und für die waren die Migranten die Stellvertreter." Er hat ein Ja für den Brexit befürchtet - und deshalb, wie viele andere, fürs Bleiben in der EU Werbung gemacht. Mit Freunden hat er Flugblätter verteilt, die Initiative "Poles of Europe" gegründet. "Ich hatte das Gefühl, dass wir eine Stimme brauchen, weil wir vom Ergebnis beeinträchtigt werden würden", sagt er.

5 Milliarden

Pfund für Steuern haben Menschen aus den Ländern, die 2004 neu der EU beigetreten sind, in den Jahren zwischen 2004 und 2011 bezahlt, haben Forscher des Departments of Economics am University College London ausgerechnet. Damit haben sie dem Staat zwölf Prozent mehr eingebracht, als sie ihn gekostet haben.

Er lag richtiger, als ihm lieb ist. Obwohl sie schon vorher ahnten, dass sie nicht immer gern gesehen sind, führte das Abstimmungsergebnis zu einer Angst, die seitdem den Alltag vieler Polen prägt. "Manche dachten, dass sie am gleichen Tag Flugtickets kaufen und das Land verlassen müssen", erzählt Wargan.

So schlimm ist es nicht bei vielen. Trotzdem beobachtet Beraterin Barbara Drozdowicz eine ungekannte Zukunftsangst. "Es herrscht Unsicherheit in Bezug auf nahezu alles." Vor allem um ihren Aufenthaltsstatus und die Arbeitserlaubnis sorgen sich viele. Zwar glaubt kaum jemand, dass Menschen, die hier gearbeitet, Kinder aufgezogen, ein Haus gekauft haben, gehen müssen. Bis jetzt kann sich jeder Europäer, der hier fünf Jahre lebt, um die Staatsbürgerschaft bewerben, ein mit knapp 2000 Pfund Gesamtkosten teurer Prozess. Planungssicherheit sieht trotzdem anders aus. Schwierig könnte es für die werden, die bei einem Austritt keine fünf Jahre im Land sind oder keine Arbeit haben. Weil zudem weitere Regelungen Teil der Verhandlungen werden und die Regierung sich weigert, Garantien abzugeben, haben kurz vor und nach dem Referendum mehr Polen als bisher die Staatsbürgerschaft beantragt. Bei Barbara Drozdowicz ist die Warteliste auf Monate voll mit Menschen, die dafür Beratung brauchen.

Schlimmer als die wirtschaftlichen, formellen Folgen, ist die Veränderung der Stimmung. "Die Menschen fühlen sich schlicht nicht mehr willkommen hier", sagt Drozdowicz. Befeuert werden die Ängste durch Zahlen: Übergriffe haben zugenommen. Kurz nach dem Referendum haben Unbekannte rassistische Graffiti auf die Front des Kulturzentrums gemalt. In der Eingangshalle stehen noch Blumen, "You are not alone" ist auf ein Plakat gemalt. Zwar hat Andrzej Makulski 1000 Mails und Briefe bekommen, in denen sich Briten für ihre Mitbürger entschuldigten - das freut ihn, aber denen, die ihn besorgt nach ihrer Zukunft fragen, hilft es wenig.

Stattdessen hilft nur: Eigeninitiative. Nach dem Referendum bekam Paweł Wargan eine Mail für Schweizer in Großbritannien weitergeleitet, die sie über ihre Rechte informierte. "Da habe ich mich gefragt, warum es das nicht für Polen gibt." Mit einem Freund hat der Jurist eine Website aufgesetzt. Auf immigrants.help können sich Polen und andere EU-Bürger über ihre Rechte informieren. Wargan will ein Formular einrichten, mit dem EU-Bürger ihren Abgeordneten Fragen schicken können, welche Sicherheiten es für sie gibt. "Es geht darum, sich in die politischen Prozesse einzumischen", sagt er. Ansonsten, glaubt er, ist es wichtig, auf die Menschen zuzugehen, die für Leave gestimmt haben, ihnen zu vermitteln, dass Migration nichts Schlimmes ist, sondern wichtig für die Wirtschaft. Ein "schwieriger Prozess", glaubt er. Das einzig Gute an all dem, darin sind sich Paweł Wargan, Barbara Drozdowicz und viele andere einig, ist, dass sich nun Menschen wehren, die seit Jahren auf dem Arbeitsmarkt schlechter behandelt werden. "Es ist eine exzellente Gelegenheit, für unsere Rechte aufzustehen", sagt Drozdowicz.

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