Essay:Die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg droht die Republik zu zerreißen

Familie

Globalisierung und Technologie raubten der Mittelschichtsrepublik Deutschland die Gemütlichkeit.

(Foto: dpa)

Ihre Mitglieder fürchten um ihren Wohlstand - und protestieren an der Wahlurne. Die Volksparteien müssen der Mitte endlich einen guten Weg in die Moderne zeigen.

Von Alexander Hagelüken

Vor der Wahl drängen die Volksparteien zur Mittelschicht wie Motten zum Licht, denn die Mitte verheißt die Macht. Auch vor der Bundestagswahl 2017 versprachen Union und SPD einiges. Doch eine Regierung entsteht nur quälend. Gerade Menschen aus bürgerlicher Mitte und traditionellen Milieus wandten sich von Union und SPD ab - und wählten mehr Parteien in den Bundestag als je, allen voran die Populisten von der AfD. Diese Ohrfeige für die Volksparteien lässt sich nicht nur mit dem Flüchtlingsstrom erklären. Sie wirft auch ökonomische Fragen auf. Hat die Mittelschicht Gründe, wirtschaftlich unzufrieden zu sein? Und wird das Notbündnis nervöser Volksparteien für eine neue Regierung noch mehr Unzufriedenheit produzieren, die am Ende die Demokratie gefährdet - oder gibt es eine Strategie, welche die Situation verbessert?

Wer nach Antworten sucht, muss erst mal beantworten, was das überhaupt ist, die Mittelschicht. Ökonomen halten sich, wie meist, an Zahlen fest. Sie zählen jene dazu, die 60 bis 200 Prozent des mittleren Einkommens verdienen. Judith Niehuis vom Institut der Deutschen Wirtschaft zieht den Kreis enger: Für sie gehören Singles mit 1500 bis 2500 Euro netto im Monat dazu, und Familien mit zwei Kindern zwischen 3000 und 5500 Euro. Gemeinsam ist den Definitionen, dass sie die Mitte auf 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung beziffern, also: auf die Mehrheit.

Da zählen Facharbeiter dazu, Handwerker, Angestellte mit Lehre und Dienstleister aller Art. Seit nicht mehr drei, sondern 30 Prozent der Schüler studieren, nehmen die Akademiker stark zu. Der Soziologe Andreas Reckwitz erkennt da eine hoch qualifizierte "neue Mittelklasse". Viele von ihnen heben sich von der traditionellen Mitte kulturell ab. Statt vorrangig um Pflichterfüllung und Materielles geht es ihnen, inspiriert von der Gesellschaftswende der 68er-Generation, stärker um Selbstverwirklichung, Lebensqualität und kosmopolitische Offenheit. Eher Sabbatical denn Sonderschicht, eher Superfood denn SUV.

Unser Wirtschaftssystem basiert auf dem Versprechen: Wer nach oben will, kommt nach oben

Auf jeden Fall ist die Mittelschicht schon ganz lange mehr als eine Realität: Sie ist ein Sehnsuchtsziel. In Umfragen möchten sich mehr Deutsche dazuzählen, als tatsächlich dazugehören. Unser Wirtschaftssystem basiert seit dem Zweiten Weltkrieg auf diesem Versprechen: Wer wirklich nach oben will, kommt nach oben. In ein Leben (und Alter) ohne Reichtum, aber jenseits materieller Sorgen, in dem es den Kindern noch besser gehen wird - und es zu Ferien auf Bali reicht statt nur Benidorm.

Aufstieg klappt, und die Mitte stellt die Mehrheit: Diese Formel ließ die Marktwirtschaft fair erscheinen, sie hielt die Gesellschaft zusammen. Das war markant anders als früher. In der Weimarer Republik stellte die Unterschicht die größte Gruppe.

In der Bundesrepublik dagegen entstand sogar eine größere Mittelklasse als in Großbritannien oder Italien. Die Ökonomen Gerhard Bosch und Thorsten Kalina erklären das mit einem dichterem sozialen Netz und mehr Tarifverträgen als in Nachbarstaaten. Von der Zufriedenheit mit dem Wirtschaftssystem profitierten die deutschen Unternehmen und Volksparteien gleichermaßen: Wilde Streiks und Klassenkampf erschweren das wirtschaftliche Geschäft genau wie das politische.

Heute, da so viele Bundesbürger Arbeit haben wie nie, müsste die Zufriedenheit größer sein denn je. Und auch die Zustimmung zur Kanzlerin Angela Merkel, in deren Amtszeit die Volkswirtschaft nun fast ein Jahrzehnt wächst. Doch von Begeisterung kann, siehe Wahlergebnis, keine Rede sein.

Mancher schließt daraus, die Deutschen seien 70 Jahre nach dem letzten Krieg einfach sehr anspruchsvoll. Um nicht zu sagen: nörgelig. Ist das so? Ganz sicher hat der Protest der Mitte noch mit etwas anderem zu tun. Unter der glänzenden Oberfläche des Booms brodelt es, denn der Erfolg wird ungleich verteilt.

Selbst wer 8000 Euro im Monat verdiente, fällt als Arbeitsloser rasch auf Hartz IV

Globalisierung und Technologie raubten der Mittelschichtsrepublik Deutschland die Gemütlichkeit. Die Globalisierung favorisiert Wissensarbeiter, also viele aus der "neuen Mittelklasse", doch sie vernichtet gleichzeitig Arbeiterjobs. Genau wie dies neue Technologien tun, die zusätzlich Routinetätigkeiten wie Sachbearbeiter ersetzen. Der Ersatz sind häufig schlecht bezahlte Dienstleistungsjobs.

Und die Volksparteien? Haben die Lage häufig verschärft und so Menschen enttäuscht. Privatisierungen machten aus den Postboten mit Eigenheim von einst gehetzte Paketboten, die sicher nicht mehr zur Mittelschicht gehören. Selbst wer 8000 Euro im Monat verdiente, fällt als Arbeitsloser rasch auf Hartz IV. Und keiner hindert die mächtiger gewordenen Unternehmen, weit seltener als früher jene Tariflöhne zu zahlen, die einst die Mitte erblühen ließen. Mit sozialem Netz und Tariflöhnen sind beide Faktoren geschwächt, mit denen die Forscher Bosch und Kalina die Größe der deutschen Mitte im europäischen Vergleich erklärten.

Das alles zusammen führt dazu, dass der Merkel-Boom nicht nur Geringverdienern schal schmeckt, sondern auch vielen Menschen aus der Mittelschicht: Fast jeder zweite Arbeitnehmer verdient heute unterm Strich nicht mehr als vor 20 Jahren. Steigende Mieten und schwindende Renten nähren die Angst vor dem Abstieg. Die Mitte schrumpft, nach manchen Studien stellt sie nicht mehr die Mehrheit.

Wer wirklich nach oben will, kommt nach oben? Der Fahrstuhl des Wirtschaftswunders, in dem alle Schichten nach oben fuhren, hat sich in einen Paternoster verwandelt, der manche nach unten schickt.

Wer Homo-Ehe und Moscheebauten gut heißt, geht nicht zu den Rechtspopulisten

Das ist hochbrisant. Die Mitte trägt das Sozialsystem und einen Großteil der Steuern. Und bisher garantierte sie mit einer Präferenz für moderate Parteien auch die Demokratie. Rebelliert die Mitte, wackelt die Republik, nicht nur die deutsche. Die politischen Gewinne der Populisten von Donald Trump bis AfD sind ein Warnzeichen. Sie wurzeln auch in wirtschaftlichen Verlusten der Mitte überall im Westen - und in der Finanzkrise, als Banker ihre Risiken auf die Gesellschaft abwälzen durften, was den Leistungsethos der Mittelschicht verhöhnt.

Analysen der Bertelsmann-Forscher Robert Vehrkamp und Klaudia Wegschaider zeigen, wie differenziert das Wahlverhalten 2017 ausfiel. Die "neue Mittelklasse" dynamischer Akademiker wandte sich den Rechtspopulisten wenig zu. Viele von ihnen profitieren von der Globalisierung. Und wer in moderat entlohnten Dienstleistungsjobs oder befristeten Stellen beim Staat festhängt, den dürften oft seine kosmopolitischen Werte immunisieren. Wer Homo-Ehe und Moscheebauten gut heißt, geht nicht zu den Rechtspopulisten.

Anders sieht es bei traditionell eingestellten Arbeitern und Rentnern aus. Und besonders in der sogenannten bürgerlichen Mitte, womit hier keine gut verdienenden Anwälte und Ärzte gemeint sind, sondern eher Menschen mittlerer Bildung mit Abstiegssorgen, denen Status und Ordnung viel bedeuten. Hier dürften sich mancher jener Facharbeiter und Angestellten mit Lehre finden, die der Soziologe Reckwitz durch die Akademisierung der Berufswelt an den Rand gedrängt sieht - im Paternoster nach unten. In der bürgerlichen Mitte verlor die Union so viel wie in keiner anderen Gruppe. Eine große Koalition von Union und SPD kommt hier auf 42 Prozent der Stimmen. Eine große Koalition von AfD- und Nichtwählern auf 40 Prozent.

Die Mitte muss wieder mehr von ihrer Leistung haben

Darin auch wirtschaftliche Ursachen zu sehen widerspricht nicht der Erkenntnis, dass der Flüchtlingsstrom bei der Wahl eine große Rolle spielte. In Zeiten des Umbruchs wie jetzt, da die Globalisierung das Leben beschleunigt, grenzen sich Bürger oft von Migranten ab. Wo das eigene Einkommen nicht zu reichen scheint, wird der Fremde zum Feind. Gerade für konservativere Bürger, die Homo-Ehe und Moscheebauten weniger gut heißen.

Für Vehrkamp und Wegschaider umfasst die bürgerliche Mitte zusammen mit traditionellen Milieus und Wenigverdienern aus der Unterschicht mehr als jeden dritten Wähler. Sie sind skeptisch gegenüber der Modernisierung - und bescherten der AfD die größten Erfolge.

Drei Thesen

Gestern

Das Versprechen des Aufstiegs hielt die Gesellschaft zusammen.

Heute

Viele fühlen sich nicht mehr als Aufsteiger.

Morgen

Die neue Regierung muss ihnen einen besseren Weg in die Moderne aufzeigen.

Das heißt aber auch, dass die Volksparteien die Rechtspopulisten bremsen können, falls sie diesen Wählern einen besseren Weg in die Moderne weisen als bisher. Und das ist eine ganz entscheidende Erkenntnis. Wie es funktionieren könnte, zeigt das Fazit eines Forschers: Viele in der Mitte wünschen sich ein planbares, auf Bildung beruhendes Leben mit stetig mehr Wohlstand - aber sie haben die Zuversicht verloren, dass sie es bekommen werden.

Es kommt nun darauf an, die Früchte des Booms besser zu verteilen

Wie sieht eine umfassende Strategie für diese Menschen aus? Zum einen Qualifizierung und Weiterbildung so verbessern, dass sich auch angestammte Mitte-Milieus in einer akademisierten und digitalisierten Berufswelt zurechtfinden. Da könnte ein Anspruch auf Weiterbildung helfen, die frühzeitige Reaktion auf technologische Veränderungen und die Renovierung eines Systems, in dem Beschäftigte das Lernen nach ihrer Berufsausbildung für abgeschlossen halten. Zum anderen müsste der Staat stärker in die Infrastruktur investieren, damit der Boom Zukunft hat, und dabei das platte Land nicht vergessen, wo Bürger sich von Verkehrsverbindungen oder Datenströmen abgehängt fühlen.

Und es kommt drittens darauf an, die Früchte des Booms besser zu verteilen, damit die Mitte mehr von ihrer Leistung hat. Also mehr Wohlstand. Dazu bedarf es einer Stärkung der Tarifverträge und weniger Steuern und Abgaben. Also einer radikalen Wende: Heute zahlen nur halb so viele Firmen Tariflohn wie vor 20 Jahren, und die Steuerpolitik entlastete in diesem Zeitraum nur die oberen 30 Prozent.

Und das Sondierungspapier von Union und SPD? Zeigt ein paar Ansätze, aber keine umfassende Strategie. Zu Tarifverträgen findet sich nichts. Die steuerliche Entlastung fällt hinter die Versprechen gerade der Union zurück. Und zu Bildung und Investitionen gibt es spannende Ankündigungen, aber auch viel Vages.

Optimisten würden sagen: Das kann in der neuen Regierung noch besser werden.

Kann? In einer Zeit, in der Rechtspopulisten im Sekundentakt Scheinwahrheiten ins Internet blasen, sollte es das. Wenn am Ende die Mitte verloren geht, bricht die Republik auseinander.

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