Entwicklung:Das Gehirn des Lastwagens

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Jochen Lüling bringt Nutzfahrzeugen das autonome Fahren bei. Ein Job, dessen Möglichkeiten er schätzt.

Von Peter Poguntke

Die Stuttgarter Gigatronik GmbH ist ein Zulieferer der besonderen Art für die Automobilindustrie. Sie war und ist maßgeblich daran beteiligt, dass eine Vision auf die Straße gebracht werden konnte, die noch vor kurzer Zeit als Science Fiction galt. Die Rede ist vom selbstfahrenden Auto, in diesem Fall vom autonom fahrenden Lkw, der seine ersten Praxistests in Deutschland und in den USA bereits bestanden hat.

Entwickelt wurden diese Lastwagen der Zukunft bei den Nutzfahrzeugmarken Mercedes-Benz und Freightliner des Daimler-Konzerns. Gigatronik zeichnete dabei verantwortlich für die notwendigen Umbaumaßnahmen des Cockpitbereichs sowie die Entwicklung der Benutzeroberfläche des Displays für den Fahrer und des Tablet-PCs, mit dem der Fahrer arbeiten kann, wenn ihn sein Fahrzeug nicht braucht - und das kann zum Beispiel bei Autobahnfahrten durchaus länger der Fall sein. Aus dem Trucker alter Schule wird durch die Hochtechnologie somit ein Transportmanager, der seine Frachtaufträge und administrativen Aufgaben direkt "auf dem Bock" erledigt.

Gigatronik-Diplomingenieur Jochen Lüling hat sich ganz diesem Zukunftskonzept verschrieben. Von Haus aus studierter Maschinenbauer mit starker Affinität zu IT-Aufgaben und einem Hang zu schweren Trucks, fungiert er heute als Projektmanager seines Unternehmens für den Bereich autonom fahrender Trucks. "Ich habe auch in den Semesterferien oft als Lkw-Fahrer gearbeitet", betont er nicht ohne Stolz und lässt damit durchblicken, dass ihm auch die Zeiten noch gut vertraut sind, in denen die schweren Nutzfahrzeuge noch nicht alleine fahren konnten.

Mittlerweile verändert er mit seinen Kolleginnen und Kollegen sowie den Industriepartnern, in deren Auftrag Gigatronik arbeitet, diese Welt von Grund auf. "Die Entwicklung von Elektronik und IT-Elementen für das autonome Fahren gehört heute zu unserem Kerngeschäft", erläutert Unternehmenssprecherin Kristin Boegner.

Den Zukunftslaster führt künftig der sogenannte Highway Pilot durch den Straßenverkehr, indem hochmoderne Radarsensoren und Kameratechnik dafür sorgen, dass das Fahrzeug in der Spur bleibt, die zulässige Geschwindigkeit nicht überschreitet und den Abstand zum Vordermann einhält. Nun kann der Fahrer seinen von Gigatronik programmierten Tablet-PC aus der Mittelkonsole entnehmen und sich seinem - altmodisch ausgedrückt - "Schriftkram" zuwenden. Ähnlich wie auf einem Smartphone stehen ihm dafür zahlreiche Apps für die unterschiedlichsten Anwendungen zur Verfügung. Auf diese Weise ist es ihm unter anderem möglich, einen Parkplatz für die nächste Rast zu reservieren.

Das herkömmliche Armaturenbrett ist im Zukunftslaster verschwunden und durch ein hochauflösendes farbiges Vollgrafik-Display ersetzt. Gigatronik steuerte dazu die Display-Anwendung für Fahrzeug- und Fahrtdaten bei. Auf der linken Seite werden Kraftstoffstand und Motordrehzahl angezeigt, auf der rechten Seite die Fahrtzeit. In der Mitte erscheint die Geschwindigkeit. Ist der "Highway Pilot" aktiviert, reduzieren sich die Anzeigen auf dem Display auf ein Minimum und die kompletten Daten erscheinen auf dem Tablet, das der Fahrer in Händen hält. Auf diese Weise entsteht das Zusammenspiel zwischen Fahrzeug-Display, Tablet und einem sogenannten Gateway-PC.

Dieser Rechner bildet die Schnittstelle zu den Fahrzeugdaten und sorgt für die Vernetzung des zentralen Fahrzeugrechners mit dem Display und dem Tablet, das auch als HMI (Human Machine Interface = Mensch-Maschine-Schnittstelle) bezeichnet wird.

Ein komplexes System aus Kameras und Radargeräten regelt die Geschwindigkeit

Im Zentralrechner werden alle gesammelten Daten miteinander verknüpft. Alle Sensoren sind so ständig miteinander vernetzt und ergeben ein vollständiges Bild der Umgebung. Für den Einbau des Gateway-PCs und der neuen Instrumente in den "Future Truck 2025" von Mercedes-Benz, in dem diese Technologie erstmals öffentlich präsentiert wurde, war wiederum Gigatronik verantwortlich. "Die Gelegenheit, geballte Hochleistungstechnik für Fahrzeuge zu entwickeln und aus einem Lastwagen ein intelligentes Transportmittel zu machen, das ist es, was meine Tätigkeit so faszinierend macht", erklärt Jochen Lüling. Für die Antwort auf die Frage, was sein nächstes großes Ziel darstelle, muss der Diplomingenieur deshalb nicht lange überlegen: "Ich will mitmachen, um diese Konzeption zur Serienreife zu bringen."

Im sehr dünn besiedelten US-Bundesstaat Nevada hat der autonom fahrende Truck in dieser Hinsicht schon einen wesentlichen Meilenstein erreicht: Der "Freightliner Inspiration Truck" erhielt dort die Zulassung für den öffentlichen Straßenverkehr. Das komplexe Set an Kameras und Radarsystemen in seinem Inneren regelt die Geschwindigkeit, bremst und lenkt. Gigatronik übernahm für dieses Fahrzeug den Algorithmus und die Programmierung für das Fahrzeugdisplay sowie den Tablet-PC.

Zuvor wurde der Test-Truck komplett umgebaut und es wurden das elektrische Bordnetz und die Verkabelung des Fahrzeugs angepasst. Anschließend ging es 16 000 Probekilometer über eine Teststrecke. Das Ergebnis überzeugte schließlich die Behörden von Nevada.

Bereits jetzt läuft auf diesem Gebiet das nächste Projekt, das sogenannte Platooning: Mehrere autonom fahrende Trucks fahren dabei hintereinander in Kolonne. Jochen Lüling, seinem Team und seinem Arbeitgeber werden die Herausforderungen also auf absehbare Zeit nicht ausgehen. Trotzdem kann auf den Menschen hinter beziehungsweise neben dem Steuer noch nicht ganz verzichtet werden. Denn manches muss von Fall zu Fall noch in Handarbeit erledigt werden.

© SZ vom 21.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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