Energiewende:China führt die Wende an

Erneuerbare Energien haben die Kohle als Stromquelle weltweit überholt. Vorreiter dieser Entwicklung ist überraschend China.

Von Jan Willmroth

Es ist schon zur Regel geworden, dass internationale Organisationen ihre Vorhersagen für den Ausbau der erneuerbaren Energien nach oben korrigieren müssen. Die Kosten sinken schneller als erwartet, der Ausbau geht rascher voran als vermutet, die Prognosen werden von der Realität überholt. Gerade erst hat die Internationale Energieagentur (IEA) eine frühere Prognose kassiert. In einem diese Woche vorgelegten Bericht beschreiben die IEA-Experten einen historischen Wendepunkt: Erstmals wurde mehr Kapazität an erneuerbaren Energien zugebaut als an konventionellen Kraftwerken. Die verfügbare Leistung aus grünen Energiequellen stieg um 153 Gigawatt, das entsprach mehr als der Hälfte der 2015 zugebauten Kapazitäten zur Stromerzeugung.

Erneuerbare Energien werden dem Bericht zufolge mindestens in den kommenden fünf Jahren die am schnellsten wachsende Energiequelle bleiben, schätzt die IEA. Bis 2021 könnte die Kapazität aus erneuerbaren Stromquellen bis auf 825 Gigawatt ansteigen, das entspräche mehr als 600 großen Atomkraftwerken. Wind- und Solarkraft werden weiterhin einen Großteil des Wachstums ausmachen.

2015 wird außerdem als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die erneuerbaren Energien die Kohle überholt haben. Erstmals ist insgesamt mehr installierte Leistung an Wind-, Solar-, und Wasserkraft verfügbar als an Leistung aus Kohlekraftwerken. Die verfügbare Leistung ist dabei nicht zu verwechseln mit der erzeugten Strommenge. Die tatsächliche Ausbeute liegt vor allem bei Wind- und Solarstrom regelmäßig unter der theoretisch möglichen, weil diese Energiequellen sehr schwankungsanfällig sind. In der Stromerzeugung stehen Stein- und Braunkohle deswegen noch mit Abstand auf Platz eins.

Im vergangenen Jahr hat China pro Stunde im Schnitt zwei Windturbinen zugebaut

Trotzdem sollte man das Ausmaß der Entwicklung nicht unterschätzen. "Wir werden Zeuge eines Wandels der globalen Energiemärkte, angeführt von den Erneuerbaren", kommentierte der Chef der IEA, Fatih Birol, die Ergebnisse. "Das Gravitationszentrum des Wachstums verschiebt sich dabei so wie in anderen Bereichen in Richtung der Schwellenländer." Da ist sie, die globale Energiewende, live zum Mitschneiden, und was nicht zu übersehen ist: Mal wieder hat China den größten Anteil.

Um das Ausmaß des chinesischen Energiehungers begreiflich zu machen, reicht ein Vergleich, den die IEA zieht: Im vergangenen Jahr entsprach der Zubau an erneuerbaren Energien in dem Land zwei Windturbinen pro Stunde. Macht etwa 17 500 Windräder in nur einem Jahr oder zwei pro Stunde. Der Smog in den Städten und ein wachsendes Unbehagen in der Bevölkerung wegen der Luftverschmutzung haben die chinesische Regierung veranlasst, mehr in saubere Technologien zu investieren. Die IEA sieht China denn auch als "unangefochtenen globalen Anführer", es werde 40 Prozent Anteil am künftigen Wachstum der erneuerbaren Energien haben.

Selbst die USA, das Industrieland mit dem höchsten CO₂-Ausstoß, sind zu einem Boomland für Sonnen- und Windstrom geworden und haben Europa beim Wachstum abgehängt. Binnen fünf Jahren dürften sie den alten Kontinent auch als zweitgrößten Markt für erneuerbare Energien ablösen. In dieser Zeit dürften auch die Kosten weiter rapide sinken - und es wäre außergewöhnlich, wenn die IEA den Ausbau der Erneuerbaren nicht auch diesmal etwas unterschätzt.

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