Ein Gedicht und die moderne Ökonomie:Ein Lob dem Laster

Vor 300 Jahren erschien das Gedicht "Der unzufriedene Bienenstock" von Bernard Mandeville. Dessen Botschaft war ebenso bemerkenswert wie umstritten.

Von Gerold Blümle und Nils Goldschmidt

Vor 300 Jahren, am 2. April 1705, erschien in London eine unscheinbare Sixpenny-Broschüre. Sie enthielt das Gedicht "Der unzufriedene Bienenstock" von Bernard Mandeville.

Die Thesen des englischen Philosophen waren bemerkenswert: Nicht Tugenden der Menschen sind es, die dem Gemeinwohl dienen, sondern Laster - das Streben nach Bequemlichkeit, Vergnügen und Luxus.

Wie die einzelnen Bienen im Bienenstock, jede auf den eigenen Nutzen bedacht, eine wohlgeordnete Gesellschaft formen, vermehren auch unter Menschen Eigennutz, Habgier und Betrug letztlich die gesellschaftliche Wohlfahrt.

Die Broschüre wurde ein Erfolg, brachte Mandeville aber auch viele Anfeindungen. Um seine Aussagen zu rechtfertigen, erweiterte Mandeville in den folgenden Jahren sein Gedicht um Anmerkungen und Dialoge, nun unter dem auch heute noch bekannten Titel "Die Bienenfabel, oder Private Laster, öffentliche Vorteile".

Viele Denker, darunter David Hume, Immanuel Kant, Jeremy Bentham, Adam Smith und Karl Marx setzten sich mit Mandevilles Gesellschaftskritik auseinander. Die Vorstellung, dass die rücksichtslose Verfolgung der eigenen Interessen dem Gemeinwohl mehr dient als öffentliche Moral, wie auch immer diese aussehen mag, ist in der Ökonomik seitdem als "Mandeville-Paradoxon" bekannt: "Stolz, Luxus und Betrügerei / Muss sein, damit ein Volk gedeih'."

Mandeville, um 1670 in den Niederlanden geboren, entstammte einer geflüchteten französischen Hugenottenfamilie. Er studierte an der Universität Leiden Philosophie und Medizin. In London ließ er sich als Arzt für Nerven- und Magenleiden nieder und unterhielt enge Beziehungen zu den intellektuellen Kreisen am Königshof. Am 21. Januar 1733 starb er in Hackney bei London.

"Von Lastern frei zu sein, wird nie / Was andres sein als Utopie": Zu Mandevilles Zeiten wandelte sich die englische Gesellschaft grundlegend. Das Großbürgertum löste den Adel in Stellung und Prachtentfaltung ab, die Landflucht führte zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung, die Politik war durch Wirtschaftsinteressen und Bestechung geprägt. Mandeville interessierte die ungeschminkte Wahrheit über diesen Wandel.

Zivilisatorischer Fortschritt und wirtschaftlicher Erfolg waren - so Mandeville - nicht ohne Selbstsucht und Sittenverfall möglich. Sein pessimistisches Menschenbild formulierte Mandeville analytisch scharf, wiewohl in satirischer Absicht überzogen. Die realistische und zugleich schonungslose Schilderung brachte ihm später das Lob seines Bewunderers Karl Marx ein: Mandeville sei ein "ehrlicher Mann und heller Kopf".

Schelte für jeden

Ganz marxistisch mutet auch Mandevilles Beschreibung der Armut an: Die materielle Not zwingt die Unterschicht trotz niedrigem Lohn, die Faulheit zu überwinden, viel zu arbeiten und damit zum gesellschaftlichen Reichtum beizutragen. Weil der Lohn nur das Existenzminimum deckt, ist die Produktion billig; entsprechend führt Mandeville in seinen Erläuterungen aus, dass eine Handelsnation eine andere im Wettbewerb nicht unterbieten kann, es sei denn, "ihre Arbeiter sind fleißiger oder arbeiten länger oder begnügen sich mit einer einfacheren Lebensführung" - eine vertraute Argumentation. Andererseits schafft der Luxus der Oberschicht entsprechende Bedürfnisse und Erwerbsmöglichkeiten.

Das Laster des Luxus bewirkt also Gutes, ebenso der Geiz, der zur Akkumulation des Kapitals führt: "Manch Reicher, der sich wenig mühte, / Bracht' sein Geschäft zu hoher Blüte, / Indes mit Sense und mit Schaufel / Gar mancher fleißige arme Teufel / Bei seiner Arbeit schwitzend stand, / Damit er was zu knappern fand."

In seiner Schelte ließ Mandeville kaum einen Beruf aus: "Die Advocaten waren groß / Im Rechts-Verdrehen und suchten bloß, / Statt zu versöhnen die Parteien, / Sie immer mehr noch zu entzweien".

Zu den Ärzten schrieb Mandeville: "Den Ärzten, wurden sie nur reich, / War ihrer Kranken Zustand gleich."

Politiker beurteilte er im Stile der modernen Theorie der Wahlhandlungen, die das Verhalten der Politiker aus deren rationalem Eigeninteresse zu erklären sucht: "Was man erwarb durch Schwindelei'n / Strich man als 'Nebengelder' ein". Hier auf moralische Besserung zu hoffen, ist für Mandeville der falsche Weg. Statt an das Gewissen der Politiker zu appellieren, sollte man die Welt so nehmen wie sie ist: "So klagt denn nicht: für Tugend hat's / In großen Staaten nicht viel Platz."

Mit seiner pessimistischen und satirischen Weltsicht wendete sich Mandeville direkt gegen den einflussreichen Schriftsteller der europäischen Aufklärung, Anthony Ashley-Cooper (1671-1713), und dessen Schüler, den schottischen Moralphilosophen Francis Hutcheson (1694-1746).

Hutchesons Schüler, der Vater der modernen Wirtschaftswissenschaften, Adam Smith (1723-1790), stimmte später Mandeville zwar darin zu, dass das Eigeninteresse entscheidend für das Handeln des Einzelnen ist und dass die Verfolgung dieses Interesses zum "Wohlstand der Nationen" führt, jedoch erfährt bei Smith das Selbstinteresse, von ihm als Tugend betrachtet, seine Grenzen durch die Sympathie für den Mitmenschen. Dieses Streben nach Harmonie hält Egoismus und individuelle Laster in Schach.

Anders Mandeville: "Der Allerschlechteste sogar / Fürs Allgemeinwohl tätig war." In dem Moment, in dem die Bienen die Schlechtigkeit ihres Lebens beenden wollen, also der "unzufriedene Bienenstock" entsteht, und sie der Tugend folgen, ist der Untergang des Gemeinwesens für Mandeville gewiss: "Da man auf Luxus jetzt verzichtet, / So ist der Handel bald vernichtet".

Kehrt die Tugend ein, bricht der Staat und der Fortschritt zusammen: "Mit Tugend bloß kommt man nicht weit; / Wer wünscht, dass eine goldene Zeit / Zurückkehrt, sollte nicht vergessen: Man musste damals Eicheln essen."

(SZ vom 31.03.2005)

© Prof. em. Dr. Gerold Blümle war bis 2002 Direktor der Abteilung für Mathematische Ökonomie an der Universität Freiburg, Dr. Nils Goldschmidt ist Forschungsreferent am Walter Eucken Institut in Freiburg. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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