Digitalisierung:Falsch gerechnet

Das Bruttoinlandsprodukt war mal das Maß aller Dinge, doch es erfasst das Tempo und die Dynamik der digitalen Wirtschaft nur schlecht - vor allem den Wert der vielen kostenlosen Daten.

Von Catherine Hoffmann

Die deutsche Wirtschaft ist so groß und so stark und so leistungsfähig wie niemals zuvor in ihrer Geschichte. Im vergangenen Jahr schufen die Menschen und Unternehmen in diesem Land Produkte und leisteten Dienste im Wert von 3134 Milliarden Euro. Doch was wird da überhaupt gemessen? Wo nehmen Ökonomen bloß die Gewissheit her, dass sich das komplexe Geschehen einer großen Volkswirtschaft in einer einzigen Zahl ausdrücken lässt? Und wie können sie sicher sein, dass die Digitalisierung, von der die Erfinder des Bruttoinlandsprodukts (BIP) noch gar nichts wussten, richtig erfasst wird?

Zweifel an der Zuverlässigkeit der Messung sind angebracht. Der MIT-Ökonom und Buchautor Erik Brynjolfsson ("The Second Machine Age") kritisiert schon seit einigen Jahren, dass das BIP die Leistung einer modernen Wirtschaft nur unzuverlässig misst, weil es den Wert unentgeltlicher Leistungen wie Facebook, Wikipedia, Youtube oder der Suchmaschine Google nicht einfängt. Das Wachstum dieser Dienstleistungen und ihre große Bedeutung für viele Menschen spielen in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung schlichtweg keine Rolle. Die Digitalisierung, glaubt Brynjolfsson, werde vom BIP systematisch unterschätzt. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man sich die Geschichte des BIP ansieht, die in einer Zeit beginnt, da Bits und Bytes, die Vernetzung von Mensch und Maschine, Internet und Smartphones noch ferne Zukunft waren.

Weil im Internet vieles kostenlos ist, taucht es auch in keiner Statistik auf

Als der amerikanische Präsident Herbert Hoover die Weltwirtschaftskrise verstehen wollte, die mit dem New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 begann, gab es noch keine Berechnungen, die Aufschluss über das Wohl der gesamten Wirtschaft gegeben hätten. Das BIP war noch nicht erfunden. Und Hoover musste sich auf diffuse Daten über die Beladung von Güterwagen, Rohstoffpreise oder Aktienindizes verlassen, die nur ein sehr unvollständiges Bild der Wirtschaft zeichneten. Er wusste nicht, wie schlimm die Krise ist. Erst 1934 vermochte der Ökonom Simon Kuznets eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zu präsentieren, die das ganze Ausmaß der Großen Depression zeigte. 1971 erhielt er für die Erfindung des Bruttoinlandsprodukts den Nobelpreis.

Das BIP misst den Wert aller in einer Periode im Inland hergestellten Endprodukte, seien es Waren oder Dienstleistungen. Die Werte werden dabei zu Marktpreisen angesetzt. Heraus kommt am Ende eine einzige Zahl. Dank seiner Einfachheit verbreitete sich das Konzept schnell um die Erde. Bis heute gilt das BIP als der wichtigste Indikator für die Dynamik eines Landes. Es ist wohl eine der folgenreichsten Erfindungen der Ökonomie. Seine Entwicklung kann Wahlen entscheiden, Regierungen stürzen und bestimmen, ob ein Land noch Kredit erhält oder nicht. Doch die Wirtschaft hat sich verändert. Und nun zeigt sich, dass das BIP als Wachstumsindikator heute erkennbare Schwächen hat.

Digitalisierung: Als das BIP in den 1930er Jahren erfunden wurde, war die Wirtschaftsleistung noch einfach zu messen, etwa die Förderung von Erdöl.

Als das BIP in den 1930er Jahren erfunden wurde, war die Wirtschaftsleistung noch einfach zu messen, etwa die Förderung von Erdöl.

(Foto: AP)

Berücksichtigt wird nur, was einen Marktpreis hat. Kosten Waren und Dienstleistungen nichts, ist ihr Wert null. So geht der Nutzen zahlloser Produkte, die im Internet gratis verfügbar sind, nicht ins BIP ein. Viele dieser Dienstleistungen werden mit etwas anderem bezahlt als Geld - mit personenbezogenen Daten. Das ist der große Unterschied zu früheren technologischen Innovationen. Im Zeitalter der Digitalisierung werden Werte nicht mehr dinglich hergestellt, sie bemessen sich nicht mehr in örtlich zurechenbaren Stückzahlen von Lastwagen, Toastern oder Ziegelsteinen, sondern in Daten.

Die staatlichen Statistikämter wissen wenig darüber. Sie können sagen, wie viel Schmuck und Uhren die Menschen gekauft haben, aber nicht wie viele Apps. Sie erfassen, wie viel Geld Unternehmen in neue Fabriken investiert haben, aber nicht wie viel sie für Daten von Kunden und Geschäftspartnern ausgegeben haben. Sie messen den Strom der Kleider von China in die USA, haben aber keine zuverlässigen Informationen über den Datenstrom, der den Pazifik quert.

Das Problem, glaubt Michael Mandel, Chefökonom des Progressive Policy Institute: Das BIP kennt nur zwei Kategorien, Güter und Dienstleistungen, aber keine Daten. Es ermittelt die Leistung einer Volkswirtschaft, indem es die Stahlträger, Möbel und Schweine erfasst, die aus Fabriken und Bauernhöfen kommen, und zählt den Preis der Haarschnitte und Arztbesuche hinzu. Aber Daten, dieses immaterielle Gut, das mühelos von einem Ort zum anderen saust und sich kaum lokalisieren lässt, bekommt es nur schwer zu fassen.

Google Data Center

Heute ist es schwieriger die Wirtschaftsleistung zu berechnen, weil der Transfer von Daten eine große Rolle spielt. Bei Google werden sie gespeichert.

(Foto: Google/dpa)

Dabei konsumieren die Menschen Unmengen von Daten über Apps und E-Mails, Spiele und Navigationshilfen, Suchmaschinen und soziale Netzwerke, Clouds und digitalen Zahlungsverkehr oder Videos. Und weil man dafür oft kein Geld ausgeben muss, bleibt den Statistikern nur, die Kosten für den Computer und den Internetzugang anzurechnen. Dass man seine Steuererklärung im Internet abgibt, die Dienstreise mit dem Handy organisiert oder die Fakten fürs Deutschreferat bei Wikipedia recherchiert, steigert das BIP nicht. Früher hätte man dafür vielleicht einen Steuerberater gebraucht, ein Reisebüro bezahlt und ein Lexikon gekauft.

Vermutlich hat der technische Fortschritt, so wie er derzeit gemessen wird, sogar negative Auswirkungen auf das Wachstum. Ökonomen sprechen von Substitutionseffekten, wenn etwa das Lexikon durch Wikipedia ersetzt wird. Für die Messung von Produktion und Produktivität hat dies enorme Folgen, wenn statistisch nur herkömmliche Güter und Dienste erfasst werden, während die Nutzung der neuen Apps und anderer digitaler Helfer nicht in der Statistik erscheint.

Die Ökonomin Diane Coyle von der University of Manchester befasst sich in einem neuen Diskussionspapier ausführlich mit diesem Phänomen. Geld- und Versicherungsgeschäfte, Reisen oder Job- und Wohnungssuche würden viele Menschen heute selbst im Internet erledigen. Das nimmt den klassischen Banken, Versicherungen, Reisebüros und Maklern einen Teil ihres Geschäfts weg, der dann aus dem BIP verschwindet. Das ist nur einer von mehreren negativen Effekten, die das Entstehen einer digitalen Welt auf das BIP hat. Coyle ist überzeugt, dass die so entstandenen Messfehler "signifikant" sind und das enttäuschende Produktivitätswachstum der vergangenen zehn Jahre erklären könnten.

Gut 80 Jahre nach Erfindung des BIP müssen Wissenschaftler hinterfragen, wie sie Wachstum und Wohlstand in digitalisierten Volkswirtschaften künftig adäquat messen wollen. So wie sich die Welt verändert, sollte sich auch die Art und Weise ändern, wie der Fortschritt gemessen wird.

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